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Weltanschauung und Textproduktion

Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne

von Anna S. Brasch (Band-Herausgeber:in) Christian Meierhofer (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 660 Seiten

Zusammenfassung

Weltanschauungen haben zwischen 1850 und 1945 in Deutschland Konjunktur. Als philosophische, wissens- und wissenschaftshistorische Diskursangebote reagieren sie im Prozess der Moderne auf entstehende Synthesemängel, auf Ganzheitsverluste und auf das, was zeitgenössisch schlicht ‚Zersetzung‘ heißt. Vor diesem Hintergrund entsteht ein Korpus an Texten, das sich nicht unter dem Rubrum der ‚Weltanschauungsliteratur‘ allein fassen lässt. Die hier versammelten Studien widmen sich der Heterogenität und Transformation weltanschaulicher Textproduktion. Dabei liegen die Schwerpunkte auf diskurs- und konzeptgeschichtlichen Voraussetzungen, auf Gattungskonventionen und Darstellungsformen, auf buch-, medien- und theatergeschichtlichen Praktiken sowie auf der Reflexivität, Reichweite und Schließung des Diskurses.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Weltanschauung und Textproduktion. Überlegungen zu einem Verhältnis in der Moderne (Anna S. Brasch und Christian Meierhofer)
  • I. Diskurs- und konzeptgeschichtliche Voraussetzungen
  • Philosophie, Naturwissenschaften und Weltanschauung – ein Streit um die Deutungshoheit von Natur, Welt und Geist (Myriam Gerhard)
  • Zwischen Wissenschaft und Religion. Zur Selbstpositionierung von Wilhelm Bölsches Weltanschauungsschrift Das Liebesleben in der Natur (Olav Krämer)
  • Die Biozönose (Lebensgemeinschaft). Zur Anschaulichkeit lebenswissenschaftlicher Theoriebildung um 1900 (Julia Mierbach)
  • Rhythmus und Weltanschauung um 1900. Am Beispiel von Carl Ludwig Schleichs Essay Der Rhythmus (1908) (Björn Spiekermann)
  • Krisen- als Formbewusstsein. Das Programm der ‚Neuklassik‘ oder Die Überführung einer Weltanschauung in Poetik (Loreen Sommer)
  • II. Gattungskonventionen und Darstellungsformen
  • Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Politisierung des Dialog-Essays bei Leopold von Andrian (Barbara Beßlich)
  • Die ‚gottlose Mystik‘ und Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913). Weltanschauungsliteratur als Textverbund bei Fritz Mauthner (Benjamin Specht)
  • Formen und Bedeutung der Weltanschauungsliteratur bei Kurd Lasswitz (Françoise Willmann)
  • Buntes Glas besiegt den Hass. Paul Scheerbarts architektonische Volkserziehung (Thorsten Carstensen)
  • Eine Textform als Weltanschauung. Die Instrumentalisierung der Ballade durch Börries von Münchhausen (Thomas F. Schneider)
  • III. Buch-, medien- und theatergeschichtliche Praktiken
  • Die Verweltanschaulichung eines Klassikers. Friedrich Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen in Buchausgaben (1875–1949) (Philip Ajouri)
  • Verbreitungswege und Formgebung sozialistischer Weltanschauung. Friedrich Bosse und die dramatische Abteilung des Leipziger Arbeitervereins (Sebastian Speth)
  • Theater- als Volksgemeinschaft. Zu Vermittlungsverfahren völkischer Weltanschauung im Drama und Theater um 1900 (Peter Berger)
  • Stürze vom Dachfirst. Frank Wedekinds Totentanz/Tod und Teufel (1905) – ein Versuch über Weltanschauungen (Christian Schienke)
  • Weltkrieg – Weltanschauung – Welttheater. Medienreflexion und Gegenwartskonstitution in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit (Christian Meierhofer)
  • IV. Reflexivität, Reichweite und Schließung des Diskurses
  • Welt anschauen und Weltanschauung. Komplexität und Schließungsverfahren in Texten der Ökologie und der Science Fiction-Literatur (Laßwitz, Kraft, Döblin) (Alexander Kling)
  • Weltanschauungsliteratur im Zeichen des Grotesken. Zu Ricarda Huchs Der wiederkehrende Christus. Eine groteske Erzählung (1926) (Kerstin Wiedemann)
  • „Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.“ Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und die Auflösung des Texttypus Weltanschauungsroman nach 1900 (Anna S. Brasch)
  • Einzelseelen. Zur Entwicklung des Weltanschauungsromans zweiter Ordnung bei Broch und Musil (Florens Schwarzwälder)
  • Abbildungsverzeichnis
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

Anna S. Brasch und Christian Meierhofer

Weltanschauung und Textproduktion. Überlegungen zu einem Verhältnis in der Moderne

Abstract: Between the middle of the 19th and the beginning of the 20th century, the German notion of Weltanschauung is booming. The term refers to a great variety of philosophical, cultural and scientific concepts and negotiates a process of modern differentiation. This introduction deals with several constellations and peaks that occur within the specific history of the discourse, starting with Immanuel Kant’s and Alexander von Humboldt’s early usage, crossing the cultural and artificial transformations at the turn of the century and ending with the political and ideological doctrines in the 1930s.

Keywords: Weltanschauung, modernity, World War, ideology, natural sciences, cultural history

Weltanschauungen haben in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Konjunktur. Bekanntlich geht der Begriff der ‚Weltanschauung‘ auf den Deutschen Idealismus zurück. Mit Immanuel Kants beiläufiger Einführung in der Kritik der Urteilskraft (1790) kommt die Frage auf, wie sich die Totalität der Welt angemessen darstellen lässt, wie sie „in ihrer raumzeitlichen Unendlichkeit von der Einbildungskraft überhaupt noch vorgestellt werden könne und wieso Individuen einen gemeinsamen Weltbezug haben“.1 Dabei liegt es auf der Hand, dass der Weltanschauungsbegriff paradox ist, weil sich das Ganze der Welt gerade nicht zur Anschauung bringen lässt. Weder bei Kant noch in den nachkantischen idealistischen Systemen verweist ‚Weltanschauung‘ auf eine Sache oder auf einen vollständigen sozialen oder natürlichen ←9 | 10→Zusammenhang der Dinge. Der Begriff dissoziiert sich und ist zudem „in seiner einzelsprachlichen Unbeugsamkeit“2 kaum zu übersetzen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden Weltanschauungen prominent, sobald die disziplinäre Ausdifferenzierung vor allem der Naturwissenschaften derartig voranschreitet, dass die fachspezifischen Gegenstände und eine sich zergliedernde Erkenntnisproduktion nach einer einheitlichen Legitimationsgrundlage verlangen. Mit der Aufwertung des sinnlich Wahrnehmbaren und mit der Heterogenität des empirisch Messbaren, die mit den technischen Verbesserungen in der Mikro- und Teleskopie einhergeht, ergeben sich nicht nur Schwierigkeiten der Klassifikation und Anordnung. Es stellt sich auch das wissenschaftsphilosophische Problem, „die Positionierung des Ich im Ganzen der Natur“3 noch zu leisten. Im Zuge dessen verschiebt sich die historische Semantik des Wortes Weltanschauung, und der Begriff findet Eingang in Nachfolgekonzepte der Systemphilosophie und in die populären Programmtexte der Naturwissenschaften. Somit avanciert Weltanschauung zum Schlüsselbegriff des Intellektuellendiskurses, verliert jedoch durch die breite Verwendung und durch diverse Komposita auch an Präzision. Buchtitel, die eine bestimmte Welt-, Lebens-, Kunst- oder Naturanschauung bewerben, sind Legion. Es entsteht eine Textmenge, die ganz unterschiedlich an das Konzept anknüpft und sich an ihm abarbeitet.

Auf diesen Texttypus der ‚Weltanschauungsliteratur‘ hat Horst Thomé nachdrücklich aufmerksam gemacht. Weltanschauung im emphatischen Sinn meint dabei eine fundierende Perspektive, von der aus Wissensmaterial gedeutet wird. Zugleich entspringe Weltanschauung einem kreativen Akt, sie sei mehr oder weniger offen auf ein Subjekt zurückzuführen. Analog hierzu lässt sich Weltanschauungsliteratur heuristisch fassen als

ein Korpus von Texten, die den expliziten Anspruch erheben, die ‚Weltanschauung‘ des Verfassers argumentativ darzustellen. In aller Regel verbinden sich dabei breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glau←10 | 11→bensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen.4

Was Weltanschauungsliteratur sei, soll also von den Strategien der Autorinszenierung, den Schreibintentionen und Darstellungsverfahren her bestimmt werden. Zugleich erschöpft sich der Anschluss der Textproduktion an das Konzept der Weltanschauung gerade nicht im Texttypus der Weltanschauungsliteratur allein. Vielmehr durchläuft – so die zentrale These dieses Bandes – auch die weltanschauliche Textproduktion parallel zur semantischen Verschiebung des Begriffs im Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine Transformation. Bildet sich ab etwa 1850 der Texttypus der Weltanschauungsliteratur im Sinne Thomés aus, lässt sich ab etwa 1890 die Ausprägung einer genuin weltanschaulichen Kulturkritik aufzeigen, an die ihrerseits die kunstprogrammatischen Schriften der nachnaturalistischen Bewegungen anknüpfen. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Jahrhundertwende eine deutliche Literarisierung des Diskurses bemerken. Daneben gewinnen Textverbünde und intertextuelle Bezugnahmen verstärkt an Bedeutung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen schließlich solche Texte, die den Weltanschauungsdiskurs literarisch beobachten. Daneben lässt sich ab den 1920er Jahren eine deutlich politische Vereinnahmung des Begriffs beobachten, die in einer nationalsozialistischen Radikalisierung mündet.

An diesen Punkten setzt der vorliegende Band ein und möchte einen Beitrag zur systematischen und historischen Erschließung dieses heterogenen Quellenkorpus leisten. Die hier versammelten Beiträge folgen dem leitenden Befund, dass die breite und lang anhaltende Produktion von Texten, die ganz unterschiedlich akzentuierte Weltanschauungen verbreiten sollen und dies oft schon im Titel ankündigen, nur erklärbar wird unter Berücksichtigung einer größeren begriffs-, konzept- und diskursgeschichtlichen Transformation zwischen 1850 und 1950. Darum sollen zunächst verschiedene Entwicklungsphasen und Einflussgrößen identifiziert werden, die allesamt den Prozess von Moderne mitbestimmen. Es geht hierbei um eine Skizze von diskurshistorischen Konstellationen, die jeweils zwischen Weltanschauung und Wissenschaft, Kulturkritik, Literatur, Weltkrieg und Ideologie bestehen.

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1 Weltanschauung und Wissenschaft

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhöht sich im Zuge wissenschaftsgeschichtlicher Professionalisierung auch der Bedarf an weltanschaulicher Autorisierung und Zusammenführung der heterogenen Erkenntnis- und Fachgegenstände. Die Entstehung und Institutionalisierung der Natur- und Biowissenschaften führt zu erheblichen, öffentlich ausgetragenen Kontroversen über den Stellenwert von Theologie, Religion und spekulativer Naturphilosophie zumal in der Nachfolge Schellings und Hegels. Ab etwa 1850 führen die Ausdifferenzierung und der Erfahrungsaufbau wissenschaftlicher Disziplinen zu Überblickseinbußen bei der Erkenntnisproduktion. Zeitgleich hinterlässt der Zusammenbruch der Hegelschen Systemphilosophie und ihre Abweisung vor allem in den wirkmächtigen Biowissenschaften wie der Physiologie eine geistesgeschichtliche Leerstelle, ebenso wie andernorts das allinklusive Textunternehmen des Humboldtschen Kosmos nur noch mit dem Tod seines Autors 1859 zu einem Ende finden kann. Dennoch ist es kein Zufall, dass viele der populären und weit verbreiteten Genrebezeichnungen über Vorstellungen bildlicher Evidenz organisiert werden. Das ‚Naturgemälde‘ Humboldts, die vielleicht prominenteste Wendung in diesem Zusammenhang, entfaltet gerade deswegen eine hohe Breitenwirkung, weil es an der Totaleindrücklichkeit und an Kohärenzprinzipien einer natürlichen Ordnung festhält, die in den sich verzweigenden Fachdisziplinen so nicht mehr gegeben ist.5

Unter diesen bewusstseinsgeschichtlich prekären Voraussetzungen bieten Weltanschauungen eine Art wissens- und wissenschaftshistorisches Remedium. Zahllose Streitschriften oder Bestseller wie Ludwig Büchners Kraft und Stoff (1855) sind der publizistische Ausweis eines genuinen Weltanschauungsdiskurses, der bis 1900 und darüber hinaus thematisch unterschiedlich akzentuierte Phasen durchläuft. Gestritten wird über den naturwissenschaftlichen Materialismus und das Leib-Seele-Problem, über den Darwinismus und den Monismus, den Ernst Haeckel prominent vertritt und der einen zusätzlichen Konflikt um das Schlagwort vom Ignorabimus und die Grenzen des Naturerkennens mit Emil du Bois-Reymond auslöst. Wissenschaftsgeschichtlich gelten diese Zusammenhänge mittlerweile als gut aufgearbeitet.6

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Aus literaturwissenschaftlicher Sicht jedoch sind mit Blick auf das Verhältnis von Weltanschauung und Textproduktion noch einige Aspekte erwähnenswert: Zunächst werden Weltanschauungen immer durch mediale und rhetorische Verfahren hervorgebracht und verbreitet, sie gründen auf einschlägigen Metaphern wie dem Organismus oder dem ‚Kampf ums Dasein‘ und nutzen Techniken der Evidenz zur Veranschaulichung und Vergegenwärtigung ihrer argumentativen und propositionalen Gehalte. Der Anspruch auf kommunikative Anschlussfähigkeit, auf allgemein verständliche und allgemein gültige Darstellung wird allerorten erhoben. Folglich ist die Produktion von Weltanschauung eng mit der Popularisierung von Wissenschaft verwoben.7

Ihr Synthetisierungs- und Absolutheitsanspruch verhindert es jedoch, dass sich eine Weltanschauung argumentativ widerlegen lässt. Weltanschauungen können nur rhetorisch und publizistisch überboten werden. Das zeigt sich insbesondere in den einheitstheoretischen Auseinandersetzungen zwischen Monismus und Dualismus, die Haeckel in seinen Welträthseln (1899) formelhaft und in Anlehnung an die populäre darwinistische Rede mit einem „Kampf der Weltanschauungen“8 beschreibt. Bereits im Vorwort bezieht Haeckel eine für die Weltanschauungsliteratur typische, privilegierte Beobachtungsposition, von der aus „die ungeheuren Fortschritte der wirklichen Natur-Erkenntniß“ in einen „offenkundigen Widerspruch […] zur gelehrten Tradition der ‚Offenbarung‘ gerathen“.9 Das Fundament des Glaubens soll also von der naturwissenschaftlich-monistischen Theoriebildung auch noch bereitgestellt werden – ein rhetorischer und wissenschaftspolitischer Übernahmeversuch, der nicht ohne Gegenreaktionen, übrigens auch unter Naturwissenschaftlern, bleiben kann. Einer der entschiedensten Gegner Haeckels ist der Botaniker Eberhard Dennert, der eine Abhandlung Vom Sterbelager des Darwinismus (1903) verfasst und darin die ontologische Unhintergehbarkeit des menschlichen Geistes ebenso verteidigt wie eine teleologisch, regelhaft verlaufende Naturgeschichte und den Genesisbericht. Der jesuitische Insektenkundler Erich Wasmann spricht gar von einer „heidnischen Barbarei“ Haeckels.10 Die Gegnerschaft zwischen Monisten ←13 | 14→und Anti-Monisten hat zuletzt auch institutionelle Folgen, als Haeckel 1906 den Monistenbund und Dennert 1907 den Keplerbund gründet.11 Mit ihren jeweiligen Vereinsorganen dehnen sie den Weltanschauungskampf zeitlich und publizistisch noch einmal weit aus.12

Auch der berühmte Philosoph Rudolf Eucken, der Haeckels Kollege in Jena ist und 1908 den Nobelpreis für Literatur erhält, argumentiert paradigmatisch mit der „Selbstständigkeit des Geisteslebens“ und nimmt seinerseits den populärwissenschaftlichen „Kampf um ein geistiges Sein“ auf.13 Das ist eine neoidealistische Volte gegen die Dominanz naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze. Eucken wähnt eine prinzipielle „Wendung der Zeit“ auf seiner Seite, in der die textlich organisierte „Neuerweckung geistiger Zentralthätigkeit“ als „einzige[r]; Weg zur Rettung“ aufscheint.14 Die Gegenwartsdiagnose, die eine „therapeutische Funktion“15 erfüllt und zur Grundlegung der neuen Weltanschauung betrieben wird, kennt keine Varianten des Zukunftsbezugs und der geistesgeschichtlichen Erneuerung. Als typische Weltanschauungsangebote sind die selbst eingeführten Problemlösungen des jeweiligen Textes alternativlos.

Insofern steht dieser wissenschaftshistorische Diskurs stellvertretend für die Selbstthematisierungen von Moderne, die sich in semantischen Oppositionen von Fortschritt und Verfall, Optimismus und Pessimismus, Aus- und Entdifferenzierung, Vielfalt und Einheit, Kontingenz und Kohärenz niederschlagen und Teil der quellensprachlichen Verhandlung sind. Daher kann Wilhelm Wundt am ←14 | 15→Ende des 19. Jahrhunderts auf der Sachebene seiner wissenschaftshistorischen Legitimation die Philosophie erneut und emphatisch als „allgemeine Wissenschaft“ bestimmen, „welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchlosen System zu vereinigen hat“.16 Er muss aber gleichzeitig davon ausgehen, dass jene Einzeldisziplinen in sich geschlossen agieren und dass insbesondere „die religiöse und die wissenschaftliche Weltanschauung zwei von einander verschiedene Formen der Betrachtung“ sind.17 Die Unvereinbarkeit wissenschaftlich, empirisch, philosophisch oder religiös begründeter Positionen ist es, die „das Weltanschauungsproblem in einer neuen Weise kompliziert“18 und gerade deswegen den Diskurs immer wieder neu anregt, ohne dass sich derlei semantische und politische Oppositionen argumentativ und rhetorisch nach einer Seite hin auflösen ließen.

2 Weltanschauung und Kulturkritik

Um 1900 bildet sich eine genuin weltanschauliche Kulturkritik aus. Neben Paul de Lagarde oder Houston Stewart Chamberlain schreibt Julius Langbehn mit Rembrandt als Erzieher (1890) einen der zentralen programmatischen Texte, der mit einer umfassenden kulturpessimistischen Diagnose für die eigene Nationalkultur eröffnet: „Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimniß geworden, daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, Einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet“.19 Dieser Verfall gehe insbesondere von einer Spezialisierung in Wissenschaft, Kunst, Bildungswesen und Politik aus. Langbehn fordert darum eine „künstlerische Weltanschauung“, die „diesen Abweichungen gegenüber den goldenen Mittelweg“ markieren solle.20 Daneben ist auch die stärker kulturoptimistisch orientierte Lebensreformbewegung in den Kontext weltanschaulicher Kulturkritik einzuordnen. Hierbei handelt es sich nun weniger um eine einheitliche Theorie oder um eine geschlossene Organisationsform. Vielmehr gehören so unterschiedliche Phänomene wie Gartenstadtbewegung, Kleiderreform, ←15 | 16→Vegetarismus, Antialkoholbewegung oder Freikörperkultur mit ihren jeweiligen weltanschaulichen Überzeugungen dazu. Dementsprechend handelt es sich bei der Lebensreform um eine den heterogenen Gruppen gemeine „spezifische Lebensauffassung und Lebensweise“,21 deren Leitidee eine „Gesellschaftsreform durch Selbstreform“22 ist.

Obwohl sich kulturpessimistische und kulturoptimistische Konzepte auf der inhaltlichen Ebene grundlegend widersprechen, teilen sie doch ein und dasselbe Strukturmodell, genauer das der modernen Kulturkritik. Mit Georg Bollenbeck kann Kulturkritik verstanden werden als ein spezifischer „Reflexionsmodus der Moderne“,23 der Ende des 18. Jahrhunderts mit der Moderne entsteht und sich zugleich gegen die Moderne richtet. Bollenbecks Beschreibung des ‚Reflexionsmodus der Moderne‘ zielt dann auf die formalen Möglichkeitsbedingungen kulturkritischer Texte. Kulturkritik umfasst in dieser Perspektive erstens „bestimmte Haltungen und Denkmuster“,24 zweitens Wertungs- und Wissensformen eines Denkmusters, mit dem Erfahrungen verarbeitet und Erwartungen artikuliert werden, sowie drittens Rezeptions- und Wirkungseffekte. Demzufolge gibt es „nicht die Kulturkritik, sondern es gibt unterschiedliche Kulturkritiken als textuelle Konkretisationen eines allgemeinen Reflexionsmodus“.25 Für den hier beobachteten Zusammenhang von Kulturkritik und Weltanschauung ist vor allem der zweite Aspekt relevant: Als Denkmuster, mit dem Wissen generiert werde, enthalte Kulturkritik eine wertende Differenz zwischen geschönter Vergangenheit als einem Ideal oder normativem Punkt und den schlechten Verhältnissen und Verhaltensweisen der jeweiligen Gegenwart. Darüber hinaus hebt Kulturkritik auf meta-politische Totalkonstruktionen ab, die anders als die Zeitkritik ein Geschichtsbewusstsein „von langer Dauer“ haben: „Kulturkritik erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie hinterfragt den Fortschritt des eigenen Zeitalters, lehnt die eigene ←16 | 17→Gegenwart mit Blick auf die Opfer der Individuen ab und sucht nach Auswegen in der Zukunft.“26

Dies ist ein triadisches Denken, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander bezieht und das Kulturkritik von einem grundsätzlichen Pessimismus unterscheidet, wie er am Ende des 19. Jahrhunderts etwa an Schopenhauer festgemacht wird. Kulturkritik ist insofern Gegenwartskritik, dabei jedoch nie ausschließlich pessimistisch, sondern immer zukunftsoptimistisch – das gilt letztlich auch für Julius Langbehn.27 Schließlich kann Kulturkritik auch impulsgebend für künstlerische Bewegungen oder handlungsmotivierend für die Suche nach einer ‚anderen‘ Moderne sein. In diesem Sinne sind die Bestrebungen der Lebensreformbewegung zu verstehen, deren Bemühungen um eine ‚Gesellschaftsreform durch Selbstreform‘ letztlich nichts anderes als eine Konkretisierung des kulturkritischen Reflexionsmodus sind.

Während sich die Kulturkritik als Reflexionsmodus bereits um 1800 ausbildet, bemächtigt sie sich des Konzepts der Weltanschauung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Innerhalb eines allgemeinen Strukturmodells von Kulturkritik wird Weltanschauung dann – auch das lässt sich am Beispiel Langbehns aufzeigen – genau an die Gelenkstelle von Verfallsdiagnose und Erlösungshoffnung gesetzt.28 So ist Langbehns Beobachtung der Moderne erkennbar einem triadischen Modell verpflichtet: „Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Extremen, bei dem Individualismus, stehen bleiben.“29 Nach dem vergangenen Zeitalter des Idealismus und des transzendenten Denkens und dem gegenwärtigen Zeitalter des Spezialismus und des materiellen Denkens stünden nun eine „geistige Witterungsänderung“ und ein deutsches „Kunstzeitalter“ bevor.30 Auf dem ‚goldenen Mittelweg‘ der ‚künstlerischen Weltanschauung‘ sollen sich die Gegensätze von Transzendenz und Immanenz, Philosophie und Naturwissenschaft, Vergangenheit und Gegenwart künftig synthetisieren. Vergleichbares gilt für die inhaltlich ganz verschieden ausgerichteten ←17 | 18→weltanschaulichen Positionen innerhalb der Lebensreform, die einem Erlösungsnarrativ der ‚Gesellschaftsreform durch Selbstreform‘ folgen. Die weltanschauliche Klärung wird am Ende des 19. Jahrhunderts im Strukturmodell der Kulturkritik verankert. ‚Weltanschauung‘ bildet als weltanschauliche Kulturkritik den Übergang zwischen dem säkularen ‚Sündenfall Moderne‘ und einer ‚Erlösungshoffnung‘. Weltanschauungen sollen die ‚Zersetzungen‘ der Moderne auflösen und erneut eine kulturelle Semantik von Ganzheitlichkeit stiften.

Auf die weltanschauliche Kulturkritik und Julius Langbehn beziehen sich schließlich auch zahlreiche kunstprogrammatische Schriften der Jahrhundertwende. Vor allem die sogenannte Heimatkunstbewegung weist eine große Nähe zu den Positionen Langbehns auf. Kunst soll auch hier ‚Ganzes‘ zur Anschauung bringen: „Erst aus großer Weltanschauung fließt große Kunstanschauung“,31 formuliert es etwa Friedrich Lienhard. Insofern ist die sogenannte ‚Heimatkunst‘ lediglich eine spezifische Ausprägung von ‚Weltanschauungskunst‘ an der Jahrhundertwende. Ähnlich verhält es sich mit der nachnaturalistischen ‚Neuklassik‘, die maßgeblich mit Paul Ernst, Samuel Lublinksi und Wilhelm von Scholz verbunden ist. All diese Richtungen von Weltanschauungskunst haben gemein, dass sie inhaltlich-programmatisch weitgehend unbestimmt bleiben: „Zu beweisen ist hier nichts; nur zu fühlen oder eben nicht zu fühlen“,32 fasst Lienhard zusammen. Programmatische Unschärfe und fehlende Details des theoretischen Entwurfs sorgen umgekehrt aber auch für eine hohe Anschlussfähigkeit. Im Verbund aus Welt- und Kunstanschauung erfüllt sich das Ganzheitsversprechen am ehesten.

3 Weltanschauung und Literatur

Es überrascht wenig, dass zur programmatisch offenen Weltanschauungskunst um 1900 auch und gerade literarische Texte gehören. Auf die Übergängigkeit und den Trend zur „Amalgamierung von Roman und Weltanschauungsliteratur“ hat Thomé ebenso verwiesen wie auf solche Autoren, „bei denen der Prozeß der weltanschaulichen Klärung überhaupt nur literarisch behandelt wird.“33 Allerdings lässt sich eine weitreichende Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses ←18 | 19→bemerken, die sich nicht auf die – bei Thomé angedeutete und in der Forschung am ehesten berücksichtigte – Romanprosa allein beschränkt. Sicherlich mag der Roman auf den ersten Blick diejenige Gattung sein, die am geeignetsten ist, Weltanschauungen literarisch aufzubereiten. Innerhalb des Diskurses entsteht mit dem weltanschaulich-kulturkritischen Roman sogar ein eigener Typus, den man als Subgattung des Zeitromans klassifizieren kann. In der Nachfolge des Naturalismus entstanden, verhandelt auch der Weltanschauungsroman die Zumutungen und den naturwissenschaftlich begründeten „Kontingenzschub“34 der Moderne, setzt ihnen dann aber gerade einen gesicherten weltanschaulichen Standpunkt entgegen, der Moderne erträglich macht. Auch dieser Romantypus ist tiefenstrukturell über das triadische Geschichtsmodell der Kulturkritik organisiert und platziert seinerseits ‚Weltanschauung‘ systematisch an der Gelenkstelle zwischen ‚Sündenfall Moderne‘ und ‚Erlösungshoffnung‘. Diese Texte setzen zumeist vor dem Hintergrund einer paradiesisch anmutenden ‚Vormoderne‘ ein, die der Vergangenheit oder Jugend der Protagonisten in der Provinz zugeschrieben wird, und erzählen mit spezifischen literarischen Verfahren zunächst von den verwirrenden Erfahrungen der Moderne. Damit wird ein Klärungsprozess eingeleitet, der im festen, im weltanschaulichen Standpunkt mündet und so die Erlösung bringt. Zum Weltanschauungsroman zählen etwa Wilhelm Bölsches Die Mittagsgöttin (1891), Eduard von Keyserlings Die dritte Stiege (1892), Bruno Willes Offenbarungen des Wacholderbaums (1901) oder die sogenannten Heimatkunstromane von Gustav Frenssen, Wilhelm von Polenz und Diedrich Speckmann. Jedoch beschränkt sich die Literarisierung des Weltanschauungsdiskurses nicht nur auf Romane. Die weitergehenden literarischen Resonanzeffekte, wie sie sich etwa in der Lebensreformbewegung beobachten lassen, sind jüngst erst von der Forschung wahrgenommen worden.35

Bemerkenswert ist zudem – und das ist eine der Perspektiven dieses Bandes – eine programmatische, argumentative und darstellungstechnische Nähe zwischen der Roman- und Erzählprosa zum einen und der populären Wissenschafts- und frühen Sachbuchprosa zum anderen. Die immense Produktion, die innerhalb des Weltanschauungsdiskurses um und ab 1900 stattfindet, führt immer wieder zu Textverbünden und Netzwerken auch einzelner Autoren. ←19 | 20→Bölsches Mittagsgöttin etwa korrespondiert mit seinem dreibändigen Liebesleben in der Natur (1898–1901), das sich ebenfalls als Roman ausnimmt und mehr oder minder direkt Friedrich Schlegels theoretisches Diktum von der „geistige[n]; Anschauung des Gegenstandes“36 mitführt. Ein empirisches oder physisches Korrelat außerhalb des eigenen Textkosmos braucht es dann aber nicht mehr. Bölsches Anliegen, zur Verbreitung und Durchsetzung des Monismus als Weltanschauung beizutragen, bedarf im Grunde nur noch des Rekurses auf das eigene, bereits produzierte Material. Die Überprüfung an den Gegenständen ‚in der Natur‘ ist nicht nötig. Auf dem zeitgenössischen Buchmarkt ist eine solche Verflechtung von literarischen und nichtliterarischen Textangeboten und Darstellungselementen sehr erfolgreich und darum auch kein Einzelfall. Sie lässt sich etwa bei Fritz Mauthner, Kurd Laßwitz oder Ricarda Huch beobachten, wobei die extensive Schreibarbeit jeweils ein eigenes Autorlabel hervorbringt.

Schon früh fällt an der Erzählprosa von Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse oder Robert Müller auf, das sie den Weltanschauungsroman, seine inneren Probleme und Paradoxien selbst zum Thema macht, ihn ironisiert, paradoxiert und historisiert. Insofern hat Thomé zu Recht darauf hingewiesen, dass auch „literaturwissenschaftliche Prestigeobjekte wie Thomas Manns Der Zauberberg oder Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften […] in diese Linie eingeordnet werden“ können.37 Die signifikante Verschiebung innerhalb des Weltanschauungsdiskurses betrifft hierbei eine neuerliche, nun aber dezidiert literarische Reflexionsleistung. Denn die genannten Texte sind Weltanschauungsromane zweiter Ordnung: Sie referieren sowohl inhaltlich als auch formal auf den Texttypus des Weltanschauungsromans, wie er sich am Ende des 19. Jahrhunderts ausbildet. Allerdings führen die Romane zweiter Ordnung gerade die Funktionsweise dieses Texttypus und letztlich auch seine literaturhistorische Verausgabung vor.

Von der Forschung weitgehend unberücksichtigt geblieben ist hingegen die weltanschauliche Dramen- und Lyrikproduktion, die sich in ihren Verfahren notwendig von der Roman- und Erzählprosa unterscheidet. Die „Funktionen und Modi eines lyrischen Wissenschaftsbezugs“38 seit dem 19. Jahrhundert ←20 | 21→haben erst kürzlich eine konkrete Aufmerksamkeit erfahren, wobei für die Lyrik und ihre Konzeptualisierung von Weltanschauung und poetischer Bildlichkeit eine intensive „Metapherndebatte um und vor 1900“39 entscheidend ist. Demgegenüber ist das Drama fast völlig außer Acht gelassen worden, obwohl es zeitgenössisch in seinem „Kampf zwischen den Erkenntnis- und Moralprinzipien der alten supranaturalistischen und der neuen naturalistischen Weltanschauung“40 durchaus beobachtet wird. Während die Romane über einen auktorialen Erzähler mit einem „privilegierten Standort“41 den weltanschaulichen Klärungsprozess in Gang setzen und somit eine poetische Totalität für ihre Leser erzeugen,42 verfügen Lyrik und Drama außerdem über performative Qualitäten und je eigene Strategien der Publikumsinklusion, die in diesem Band behandelt werden.

Unabhängig von den gattungsgeschichtlichen und gattungstypologischen Differenzen bindet der Weltanschauungsdiskurs immer wieder literarische, philosophische, populärwissenschaftliche und kulturpolitische Gegenstände oder Aussageabsichten zusammen, um sie einer gemeinsamen Deutungsperspektive oder Sinngebung zu unterstellen. Wilhelm Diltheys berühmte Abhandlung über Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) etwa behauptet eine gleichsam darwinistische „Auslese“ zwischen den Theorieangeboten, wobei sich „die lebensfähigen unter diesen Weltanschauungen zu immer vollkommenerer Gestalt“ entwickelten.43 In einer teleologischen Stufenfolge gehen Kunst und Dichtung aus der Religion hervor und leiten als Bindeglied zur Philosophie über, die in der geistesgeschichtlichen Hierarchie am höchsten steht: „So bereiten Typen der dichterischen Weltanschauung die der Metaphysik vor, oder sie vermitteln deren Einfluß auf die ganze Gesellschaft.“44 Jenseits dieser idealtypischen Abfolge lässt sich freilich feststellen, dass ←21 | 22→sich die literarischen Texte einer derartig heteronomen Funktionalisierung nicht umstandslos fügen.

Umgekehrt lassen sich die Namen ‚großer Männer‘ nicht nur, aber auch der Literaturgeschichte nutzen, um an ihnen weltanschauliche Positionen zu errichten. Nicht nur werden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch solche Texte, die wie Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen für sich genommen zunächst gar keine Weltanschauungstexte waren, über paratextuelle Einhegung einem Prozess der ‚Verweltanschaulichung‘ unterzogen; daneben erzeugen Buchtitel wie Immermanns Weltanschauung, Wilhelm Raabes Motive als Ausdruck seiner Weltanschauung, Studien zu Luthers Weltanschauung oder Die Weltanschauung Gerhart Hauptmanns in seinen Werken im frühen 20. Jahrhundert eine kaum zu übersehende terminologische und konzeptuelle Prägung, die zumindest in der deutschen Literaturwissenschaft theorie-, methoden- und wertungsgeschichtlich offenbar noch lange nachwirkt. Abhandlungen über Goethes Weltanschauung sind ubiquitär und produzieren eine Argumentationsstruktur entelechischer und organologischer Entfaltung: „In Goethes Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur Reife bringen sollte“,45 schreibt Rudolf Steiner 1897 und markiert damit die Rückkopplung zwischen Literatur und Wissenschaft, die das Label oder die Chiffre Goethe auslöst. Inhaltlich kann diese Struktur ganz unterschiedlich ausgefüllt und mit verschiedenen Konnotationen versehen werden. Als „Meister des Anschauens und Bildens“ ist Goethe für die Theologie zugleich „ein Seher wie Dante, ein Prophet wie Luther und ein Reformator wie Kant“,46 für die Philosophie „der Führer seines Volkes zu einer idealistischen Auffassung“47 oder für die Psychologie eine ganze „Lebensbewegung“ mit einem „Drang ins Universale“ und zur „Entselbstung“ als „Absichten der Gottheit“.48 Der Autorname, das literarische Werk und die Biographie sind wissenschaftsaffine Begründungskategorien, die sich für weltanschauliche Überwindungsversuche eignen und die nicht zuletzt über historische Zäsuren hinweghelfen.

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4 Weltanschauung, Weltkrieg und Ideologie

Neben den akademischen Konflikten zwischen Naturwissenschaften, Naturphilosophie und Theologie lässt sich der von Haeckel ausgerufene ‚Kampf der Weltanschauungen‘ ebenso als subkutaner Vorkrieg vor 1914 begreifen wie die weltanschauliche Kulturkritik und der koloniale Weltanschauungsroman der Jahrhundertwende. Schon in den weltanschaulichen Schriften Paul de Lagardes und Julius Langbehns wird dem Krieg ein Erlösungspotential zugeschrieben.49 Der koloniale Weltanschauungsroman nimmt mit der narrativen Ausgestaltung des Kolonialkrieges gegen die Herero des Jahres 1904 darüber hinaus zentrale Gedanken der ‚Ideen von 1914‘ – allen voran mit dem ‚Januarerlebnis‘ des Jahres 1904 das ‚Augusterlebnis‘ des Jahres 1914 – vorweg. Für die Kriegspublizistik des Weltkrieges müssen diese Ressourcen nur mehr aufgerufen und an den Kontinentalkrieg angepasst werden, um den Weltkrieg weltanschaulich auszudeuten: Die Kriegspublizistik stützt sich maßgeblich auf Begriffe und Konzepte, wie sie in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik der Jahrhundertwende geprägt worden sind.50 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges sind nämlich historische Rückgriffe und Aktualisierungen weltanschaulicher Konzepte und Schlagworte wieder notwendig, weil jetzt die gesamte Volksgemeinschaft zu adressieren ist. Die im 19. Jahrhundert langfristig eingeübten rhetorischen Techniken der Veranschaulichung, Popularisierung und der allumfänglichen sozialen Inklusion sind hierfür eine unabdingbare Darstellungsressource.51

Georg Simmels Straßburger Rede vom 7. November 1914 exemplifiziert das, indem sie „dem jetzigen Erlebnis“ des Krieges zugleich „ein neues Verhältnis von Individuum und Gesamtheit“ beilegt, „dessen reinste Anschaulichkeit der Krieger im Felde ist“.52 Der Übergang vom Weltanschauungs- zum Kriegsdiskurs ←23 | 24→gelingt deswegen so leicht, weil sich beide über einen Sinnüberschuss legitimieren können, den Kollektivsymbole wie „der Krieger im Felde“ erzeugen. Wie schon im dreiteiligen Narrativ der Kulturkritik kann das Kriegsereignis als weltanschaulich aufgeladenes Bindeglied zwischen einer kulturellen Verfalls- und einer Erlösungsperiode fungieren. Max Scheler greift die religiösen Implikationen dieses Narrativs auf, wenn er 1915 im Rückblick auf die Augusttage schreibt: „In der heiligen Forderung der Stunde ertranken mit allem Parteigezänk auch die tieffsten Differenzen unserer Weltanschauung.“53 Die auf die Nation und die Volksgemeinschaft zielenden ‚Ideen von 1914‘ statten den deutschen Kriegseintritt als Zäsur nachträglich noch einmal mit einer krisenhaften Vorgeschichte aus, die einen Aufbruch in eine verbesserte Zukunft erfordert. Somit lässt sich das Narrativ auch als invertiertes Tragödienschema fassen, in dem die Katastrophe schon als überwunden gilt, der Kriegsbeginn einen Wendepunkt markiert und sich darüber das Versprechen auf einen kathartischen Effekt und eine neue Protasis artikuliert.54

Diese weltanschauliche Immunisierung erreicht 1914 die literarische Textproduktion unmittelbar und hier vor allem die tausendfach publizierten und nachgedruckten Kriegsgedichte,55 aber schnell auch den Kriegsroman, dessen numerisches Aufkommen, publizistische Verbreitung und politische Ausrichtung bis 1939 zumindest bibliographisch sehr weit erfasst ist. Die Mehrzahl der Bestseller befürwortet den Krieg auch nach der deutschen Niederlage, weshalb Einschätzungen über die hohe Quantität kriegskritischer Literatur oder über eine abnehmende Aufmerksamkeit für entsprechend ereignisbezogene Neuerscheinungen korrigiert werden müssen.56 Die homo- oder autodiegetischen Erzähler, die in der Prosa meistens dominieren, warten mit einer Detaillierung des Kriegsgeschehens auf, so dass der Leser an der Beobachtungsperspektive und der Weltanschauung der Figur wortgemäß teilhat. „Es ist das der nervenkitzelndste Augenblick, das Anfliegen an den Gegner“, schreibt Manfred von Richthofen in Der rote Kampfflieger (1917), mit über 1,2 Millionen Exemplaren der ←24 | 25→meistverkaufte Text seiner Zeit, in historischem Präsens, „wenn man den Feind schon sieht und noch einige Minuten Zeit hat, bis man zum Kampf kommt.“57 Neben diesen Vergegenwärtigungsstrategien ist eine abschließende, fortschritts- und technikbegeisterte Prognose über den Fortgang des Krieges ganz im Sinne des übergreifenden kulturellen Narrativs: „Wer weiß, was wir in einem Jahr verwenden werden, um uns in den blauen Äther zu bohren!“58 Die „großen Momente der Weltgeschichte“,59 die zeitgleich ein Projekt wie Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918/22) in Analogie zueinander zu bringen und mit einem Schicksalsnarrativ zu verbinden sucht, finden in der Kriegsliteratur ihre Entsprechung mit einzelnen Figuren und Handlungsmustern.

Auch nach der deutschen Kriegsniederlage, die die hohe Aufmerksamkeit für Spengler sicherlich mit erklärt, bricht der Weltanschauungsdiskurs keineswegs ab. Die erneute Zäsur von 1918 birgt Gefahren der „Weltanschauungsnot“ und der „Weltanschauungslosigkeit“, die es sofort auszuräumen gilt, ganz gleich mit welcher inhaltlichen Ausrichtung: „Volk, Staat, Gesellschaft sind dem Untergang geweiht, wenn sie dieser inneren Einheit, dieser großen Motive entbehren, wenn sie nicht in einem Glauben, in einer Idee gegründet sind, wenn sie des gemeinsamen Herzschlages letzter Überzeugungen entbehren.“60 Die Reduktion auf „eine individual gültig wahre […] Weltanschauung“,61 wie sie die philosophische Anthropologie in den 1920er Jahren mit Max Scheler formuliert, wird mit der politisierten Um- und Neuwendung des Konzepts jedoch obsolet. Denn die individuelle und gesellschaftliche „Rangordnung der Werte“,62 die über Weltanschauungen festgelegt ist, verschiebt sich radikal, sobald der Diskurs nationalsozialistisch vereinnahmt wird. Das Ereignis des Ersten Weltkrieges generiert dabei eine historische Semantik und begriffliche Kombinationen von ‚Weltbrand‘, ←25 | 26→‚Weltende‘, ‚Weltgericht‘, ‚Weltkampf‘ und ‚Weltwende‘, die für politisch motivierte Erneuerungsbestrebungen und Zäsursetzungen unverzichtbar sind. Die Zukunftsorientierung ist selbst in gemäßigteren Einschätzungen nach dem Ende des Krieges ebenso präsent wie zu seinem Beginn: „So dürfen wir hoffen, daß auch diesmal eine innere Lebenserneuerung unseres Volkes das Ergebnis des großen Krieges sein werde.“63 Die zeitliche Dimensionierung des Diskurses, die seine narrative Struktur unweigerlich mitführt, schafft einen argumentativen Bedarf an regelmäßigen historischen Umschwüngen, wobei jedes Weltanschauungsangebot darauf setzt, dass es nur noch eine letzte Zäsur braucht, um zur programmatischen Umsetzung und Vollendung zu gelangen.

Hitlers Mein Kampf (1925), in dem sich autobiographisches Zeugnis und weltanschauliche Überzeugungen miteinander verbinden, basiert in seiner Textstruktur und zeitlichen Organisation auf ebendiesen diskurshistorischen Voraussetzungen. Direkt zu Beginn wird der Geburtsort Braunau am Inn als „glückliche Bestimmung“ einer Grenzstadt gewertet, die eine künftige „Wiedervereinigung“ der beiden „deutschen Staaten“ zu „Deutschösterreich“ erwarten lasse und damit sogleich „das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens.“64 Hans Grimms zweibändiger Roman Volk ohne Raum (1926) liefert kurz darauf die passende begriffliche Verdichtung für diese geopolitische ‚Not‘. Die historische Zäsur, mit der Hitlers Text operiert und die den ersten Band beschließt, ist der Gründungsakt der NSDAP am 24. Februar 1920, der als Racheakt „für die Meineidstat des 9. November 1918“ deklariert wird.65 Insofern greift das invertierte Tragödienschema auch hier: Der deutschen Katastrophe nach dem Ersten Weltkrieg muss eine weltanschauliche Neuorientierung entgegengebracht werden. Der zweite Band eröffnet demgemäß mit einem Kapitel zu „Weltanschauung und Partei“, das „die siegreiche Durchfechtung dieser Weltanschauung“ des Nationalsozialismus in Aussicht stellt.66

Mit ebendiesem Zeit- und Darstellungsschema verfährt auch Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), so dass „Zukunftsvisionen, Begriffserklärungen und historische Exkurse“ ohne genauere chronologische oder systematische Gliederung nebeneinander zu stehen kommen.67 Angesichts ←26 | 27→von „zwei Millionen toter Helde[n];“ nach dem Ersten Weltkrieg sei eine „Weltrevolution“ erforderlich, die alle Gegensätze überwindet: „Rasse und Ich, Volk und Persönlichkeit, Blut und Ehre“.68 Überdies ist Rosenberg als Herausgeber der ab 1930 erscheinenden Nationalsozialistischen Monatshefte an der Herstellung eines gattungsübergreifenden Text- und Medienverbundes beteiligt, der gegen sämtliche Kontraargumente imprägniert ist. Die Zeitschrift repräsentiert das eigene politische Programm und rekombiniert fortlaufend die dazu nötigen Leitvokabeln, wie etwa in einem Beitrag von Joseph Goebbels: „Revolutionen werden von Weltanschauungen ausgefochten, Weltanschauungen aber von Menschen getragen und vorwärts getrieben. So ist es kein Zufall, daß die Neugestaltung unseres deutschen Lebens in allem und jedem wesenhaft nationalsozialistisch ist.“69 In diesem Verbund aus periodischen und nichtperiodischen Angebotsformen ist die Neuattribuierung des Weltanschauungsbegriffs zentral. Die Kollokation einer ‚völkischen‘ und ‚nationalsozialistischen Weltanschauung‘ prägt den Diskurs massiv um und weitet ihn ins Totalitäre.

Hierbei ist das historisch stetigen Veränderungen unterliegende Verhältnis von Weltanschauungs- und Ideologiebegriff mitzusehen, weil beide Termini „allgemeine Orientierungsbemühungen“70 repräsentieren. Beide haben ihre Wurzeln in der Zeit um 1800, entwickeln sich jedoch zunächst unabhängig und parallel voneinander. ‚Ideologie‘ entsteht als Begriff während der Französischen Revolution, meint um 1800 zunächst eine ‚Ideenlehre‘ oder die ‚Wissenschaft von den Ideen‘ und ist auf die französische Schule der Ideologen, der idéologistes, bezogen. Der Begriff wird von Napoleon politisch desavouiert und dann von Marx als „ideelle[s]; Produkt eines subjektiven Selbsttäuschungsprozesses“71 philosophisch kritisiert. Und obwohl der Weltanschauungsbegriff in der marxistisch-sozialistischen Theoriebildung weitaus weniger verwendet wird, führt das ←27 | 28→nicht zu einer grundsätzlichen Aufwertung von Ideologie.72 In Deutschland sind vor diesem Hintergrund seit Beginn des 19. Jahrhunderts dann zwei voneinander unabhängige Bedeutungsentwicklungen zu verzeichnen: Zum einen hält sich im Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts ein Begriff von Ideologie als Bezeichnung für eine Ideenlehre, der von den französischen Ideologen her zu verstehen ist. Daneben dient der Begriff aber vor allem – hier von der napoleonischen Umdeutung herkommend – der Diffamierung politischer Gegner als Ideologen, von wo aus dann eine Bedeutungserweiterung auf jegliche Form des realitätsfernen Denkens erfolgt.73 Noch der Brockhaus von 1931 verweist neben der philosophischen Herkunft auf eine „polit. unprakt., weltfremde Denkweise“ und dementsprechend auf Ideologen „als ungefährliche Schwarmgeister“.74 Von hierher ist dann nicht nur der Ideologievorwurf, dem sich das Weltanschauungsdenken seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sieht, zu verstehen; diese pejorative Verwendung dominiert auch im Textverbund der Nationalsozialisten. Das eigene Weltanschauungskonzept wird scharf vom Ideologievorwurf abgegrenzt, wie in einem Artikel aus der Zeitschrift Volk im Werden von 1936: „Ideologie ist alles, was in den konkreten Entscheidungen, vor die ein Volk ständig gestellt wird, sich nach anderen Werten ausrichtet als den aus der rassisch-völkischen Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung sich ergebenden.“75 Der Nationalsozialismus erhebt – und das ist eine Wendung des Diskurses ins Totalitäre – einen Alleinnutzungsanspruch für den Weltanschauungsbegriff. Gegenteilige Konzepte und Anschauungen werden als unpraktische, volks- und lebensferne Ideologie zurückgewiesen und politisch bekämpft.

Nach 1945 sinkt die Verwendung des Weltanschauungsbegriffs merklich ab. Zugleich verschiebt sich nun auch das Verhältnis von Weltanschauung ←28 | 29→und Ideologie zueinander: Waren diese bisher klar voneinander getrennt, wird der Ideologiebegriff nach Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend auch zur „diffusen Bezeichnung für weltanschauliche Gebilde, mit fließenden Grenzen zu den Nachbarbegriffen“.76 Absinken und negative Umkodierung des Weltanschauungsbegriffs einerseits und Ausweitung des Ideologiebegriffs auf Gegenstände, die bislang mit dem Weltanschauungsbegriff bezeichnet worden sind, andererseits scheinen einander insofern gegenseitig zu bedingen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird zwar auch als Zäsur, als „Zeit der Kulturzertrümmerung und der Kulturwende“ aufgefasst, in der mancherorts noch die „Philosophie wissenschaftliche Weltanschauungslehre ist und bleibt“ und sich ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft versichern soll.77 Nichtsdestoweniger bleibt der Begriff nun erkennbar auf akademische Zusammenhänge beschränkt. Für eine politische und kulturpolitische Indienstnahme ist Weltanschauung verbraucht.

5 Ziel und Aufbau des Bandes

Auf Grundlage der bisherigen philosophie- und wissenschaftshistorischen, geschichts- und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Weltanschauungsdiskurs greifen die Beiträge erstens dieses interdisziplinäre Analysepotential auf. Mit den medien-, theater- und buchgeschichtlichen Perspektiven, die ergänzend hinzukommen, wird das Augenmerk zweitens auf die Verfahrensseite jener massenhaften Textproduktion gelenkt, die mit dem Konzept der Weltanschauungsliteratur nach wie vor nur umrissen ist. Die Auswahl und Anordnung der Beiträge soll drittens die formale Bandbreite weltanschaulicher Textproduktion verdeutlichen, ihre zeitgenössischen Konjunkturen sichtbar machen und somit auch epochengeschichtliche Einteilungen und kanonisierte Gegenstände befragen.

Der Band enthält neunzehn Untersuchungen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft, der historischen Presseforschung sowie der Philosophie-, Wissenschafts-, Theater- und Buchgeschichte. Die Aufsätze sind in vier Sektionen angeordnet und perspektivieren den Weltanschauungsdiskurs sowohl in seiner konzeptuellen Herkunft und seinen historischen Transformationen als auch in seinen gattungstypologischen Ausprägungen und seinen kommunikativen Praktiken.

←29 | 30→

Die ersten sechs Beiträge sondieren „Diskurs- und konzeptgeschichtliche Voraussetzungen“ von Weltanschauung. Zunächst geht Myriam Gerhard vom spannungsreichen Verhältnis zwischen Philosophie und den sich ausdifferenzierenden Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert aus. Obwohl in Kants Reaktion auf die Metaphysik vor 1800 der Anschauungsbegriff gar kein strenges Konzept etablieren soll, wird er schon früh in populären Darbietungsformen verfügbar gemacht. Die Betonung von Weltanschauungen – im Plural – dient schnell dazu, all jene Deutungskonkurrenzen auszutragen, die im Neben- und Gegeneinander aus Philosophie, Theologie, Fach- und Populärwissenschaft und unter den Prämissen einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie entstehen. Die ab 1850 verstärkte Konfrontation materialistisch-empiristischer und spekulativ-metaphysischer Basisannahmen führt in eine argumentative Pattsituation, in der die weltanschauliche Autorität der Disziplinen nicht zuletzt im beiderseitigen Beharren auf formaler Anschaulichkeit und den jeweiligen Objektivitätsansprüchen erhalten bleibt.

Bei Wilhelm Bölsche lässt sich beobachten, wie die Widersprüche zwischen Naturwissenschaft und Religion rhetorisch und narrativ verhandelt werden können. Olav Krämer untersucht dazu das Liebesleben in der Natur, in dem die Selbstpositionierung des Autors einerseits von einer positiven Aufnahme der darwinistisch-monistischen Weltanschauung profitiert und andererseits dazu genutzt wird, sich von anderen prominenten Vertretern wie Ernst Haeckel oder David Friedrich Strauß abzugrenzen. Die naturwissenschaftliche, empirische Grundierung des Schreibvorhabens und seine weltanschauliche, auch naturreligiöse Zielsetzung erzeugen jedoch vielerorts Ambivalenzen, die auch über metaphorische Redeweisen nicht immer aufgelöst werden. Statt einer allumfänglichen Harmonisierung der äußeren Natur artikuliert der Text dann eine quasireligiöse Erlösungssehnsucht.

Dem Konzept der Biozönose, der Lebensgemeinschaft, und seinem Einfluss auf Vorstellungen des Sozialen geht Julia Mierbach nach. Die Biozönose, die 1877 von Karl August Möbius als Begriff für die Ökologie eingeführt wird, unterhält ein parasitäres Verhältnis zu den zeitgleich beliebten Organismusmetaphern. Bei einem Populärwissenschaftler wie Friedrich Junge dient die Biozönose noch als Anschauungsfigur für den naturkundlichen Unterricht. Bei nationalkonservativen und rechtspopulistischen Autoren wie Erwin Guido Kolbenheyer und Adolf Wagner wird die Lebensgemeinschaft für die weltanschauliche Darstellung mikrosozialer Vorbilder verwendet, die letztlich vom harmonischen Gleichgewicht des nationalsozialistischen Staates zeugen sollen.

Die Varietät konzeptgeschichtlicher Bezüge kann demgegenüber die Vermittlungskategorie von ‚Rhythmus‘ belegen, die der Kunstphilosophie um 1800 ←30 | 31→entspringt und mit der sich Björn Spiekermann beschäftigt. Mit der weltanschaulichen Aufladung des Begriffs werden semantische, ideen- und diskursgeschichtliche Oppositionen wie die Einheit und Vielheit der Natur oder ‚Kraft und Stoff‘ zueinander ins Verhältnis gesetzt. Als Mediziner und Kulturphilosoph speist Carl Ludwig Schleich den Rhythmusbegriff durchaus wirksam in die einheitstheoretischen Debatten der Jahrhundertwende ein. Mit seiner musikologischen Herkunft, die auf Wiederholungsstrukturen oder regelmäßige Bewegung verweist, lässt sich ‚Rhythmus‘ recht umstandslos mit monistischen und holistischen Ganzheitsvorstellungen assoziieren.

Die erste Gruppe wird beschlossen von Loreen Sommer, die mit ihrem Beitrag die weltanschauliche Fundierung neuklassischer Programmschriften untersucht. Vor allem die Gattungspoetik der Tragödie konstituiert sich in der Nachfolge Nietzsches über eine intensive Antikerezeption. Die theoretischen Überlegungen von Paul Ernst, Samuel Lublinski und Wilhelm von Scholz grenzen sich aber auch von deterministischen Positionen des Naturalismus ab und betonen stattdessen die Willensfreiheit und den seelischen Kampf um die innere Einkehr des Tragödienhelden. In dieser Kunstanschauung wird der im Naturalismus so wichtige Roman als ‚Halbkunst‘ abgewertet und gegen ihn die Tragödie als angemessene Gattung für die Bedürfnisse der Moderne in Stellung gebracht.

Die fünf Beiträge der zweiten Sektion nehmen diese Vorlage auf und fragen nach einzelnen „Gattungskonventionen und Darstellungsformen“. In den Blick geraten hier solche Gattungen, die bislang nur unzureichend berücksichtigt worden sind und die belegen, dass sich die literarische Textproduktion eben nicht nur auf Romane beschränkt. Barbara Beßlich beschäftigt sich mit dem Dialog-Essay bei Leopold von Andrian. Sie zeichnet Andrians Entwicklung vom weltfernen, primär ästhetischen und eben nicht politischen Aristokratismus der Jahrhundertwende bis zum Weltanschauungsliteraten der 1930er Jahre nach. Andrians erste Abhandlung Die Ständeordnung des Alls (1930) entspricht mit ihren Darstellungsverfahren dem Texttypus der Weltanschauungsliteratur, politisch bleibt sie aber noch diffus. Der politische Einsatz konkretisiert sich später in der dialog-essayistischen Schrift Österreich im Prisma der Ideen (1937). Andrian lässt hier verschiedene Weltanschauungen bzw. politisch brisante Positionen diskursiv gegeneinander antreten und nutzt fiktionale Elemente zum Schutz gegenüber den Nationalsozialisten. Zudem reflektiert der Text auf der Figurenebene die Konversion europäischer Ästhetizisten von der autonomen hin zu einer katholizistisch geprägten Kunst.

Die ‚gottlose Mystik‘ Fritz Mauthners, mit der sich Benjamin Specht beschäftigt, stellt ebenfalls eine werkgenetische Transformation aus. Bei Mauthner ist Weltanschauungsliteratur als Textverbund wirksam, in dem expositorische, ←31 | 32→autobiographische und literarische Schreibweisen aktiv sind. In diesem Verbund delegieren die theoretischen Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02) ihre wohlformulierte Sprachskepsis und ihre Darstellungsprobleme an die anderen Gattungen, an die eigene Lebensbeschreibung und an Erzähltexte wie Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913). Neben den inhaltlichen Überschneidungen, die sich bei der Ansammlung unterschiedlicher Wissensbestände ergibt, plausibilisiert das funktional arbeitsteilige Textensemble eine gemeinsam getragene, mystische Weltanschauung und stilisiert hierzu den Autor als seine Verkündigungsinstanz.

Wie sehr die wissenschaftliche Ausdifferenzierung und das Nebeneinander moderner Wissenskulturen um 1900 zur Verwendung unterschiedlicher Darstellungsformen herausfordern, weist Françoise Willmann an Kurd Laßwitz nach. Dessen Abhandlung Wirklichkeiten (1900) referiert schon im Titel auf das erkenntnistheoretische Problem übergeordneter und einheitlicher Wahrnehmungszusammenhänge. Die Pluralität von Weltanschauungen, Weltauffassungen, Weltverständnissen und Lebensansichten stellt so allerdings die naturwissenschaftlichen Deutungs-und Absolutheitsansprüche infrage. Darum betreibt Laßwitz nicht nur Wissenschaftspopularisierung und Aufklärungsarbeit für das Publikum, sondern geht in Romanen wie Auf zwei Planeten (1897), als Vorreiter der Science Fiction in Deutschland und im Umfeld des Neukantianismus auch der existenzphilosophischen Stellung des modernen Subjekts nach.

Nach architektonischen und baukünstlerischen Neuerungen für derlei Sinnkrisen der Moderne fahndet Paul Scheerbart in zahlreichen Programmschriften, theoretischen Abhandlungen, Romanen, Erzähltexten und Feuilletons. Thorsten Carstensen rekonstruiert Scheerbarts utopistische und lebensreformerische Entwürfe zur Glasarchitektur, die in engem Austausch mit dem Architekten Bruno Taut entstehen und am Beginn des 20. Jahrhunderts zur Umsetzung konkreter Bauvorhaben wie den Kölner Glashaus-Pavillon anregen. In Scheerbarts Textverbund verweist die literarisch-phantastische Prosa mit ihrer Verlagerung des geographischen und zeitlichen Settings auf die Defizite der eigenen Gegenwart als eines ‚nervösen Zeitalters‘. Als Remedium dient dazu eine ‚astrale Weltanschauung‘, die kosmologische und psychophysische Vorstellungen aktualisiert und die ‚irdischen‘ Missstände zu überwinden sucht.

Dass auch die Lyrik einen bestimmten Typus weltanschaulicher Literatur hervorgebracht hat, zeigt Thomas F. Schneider anhand der Balladen des nationalistischen und später regimetreuen Börries von Münchhausen. Die Texte sind formal an den historischen Vorbildern der ‚Kunstballade‘ orientiert, vermitteln konservative Wertvorstellungen, repräsentieren adeliges Standesbewusstsein und sollen gleichzeitig eine ‚Erneuerung‘ und ‚Gesundung‘ der Gattung ←32 | 33→erwirken. Die Nähe zur weltanschaulichen Kulturkritik und zu den angehörigen kunstprogrammatischen Entwürfen ist deutlich erkennbar, wobei Münchhausen eine poetologische oder theoretische Auseinandersetzung nicht explizit sucht. Stattdessen überwiegt die politische und kulturpolitische Konfrontation, die der Ballade als Darstellungsform und als Autorsignum eine große Kontinuität verschafft. Die Kriegsereignisse tragen dazu bei, dass bis in die 1950er Jahre diverse Sammelausgaben, Nachdrucke und Neuauflagen von Münchhausens Lyrik erscheinen. Solche Publikations- und Verwertungsstrategien sind insgesamt für den Weltanschauungsdiskurs kennzeichnend.

Die dritte Sektion wendet sich darum auch den „Buch-, medien- und theatergeschichtlichen Praktiken“ zu, mit denen Weltanschauungen verbreitet, reflektiert und performativ umgesetzt werden. Philip Ajouri widmet sich Buchausgaben von Schillers Briefen Über die Ästhetische Erziehung des Menschen und fragt nach der weltanschaulichen Vereinnahmung dieses Klassikers. Die paratextuellen Rahmungen sind hierfür ebenso entscheidend wie Herausgeber- und Verlegerkommentare oder die materielle Beschaffenheit der Ausgaben. Zwischen den 1870er und 1950er Jahren lassen sich hierüber unterschiedliche Merkmale von ‚Verweltanschaulichung‘ herausfiltern. Markant sind etwa Publikationsorte wie der Verlag Eugen Diederichs, bei dem auch zahlreiche Weltanschauungsromane erschienen sind, oder die Aufnahme des Textes in Buchreihen wie Erzieher zu deutscher Bildung, deren Titel merklich an Julius Langbehns Bestseller orientiert ist. Das Funktionsspektrum reicht von Ausgaben für den Schulunterricht in der Gründerzeit über die Nationalisierung und kulturgeschichtliche Aktualisierung der Jahrhundertwende bis zur nationalsozialistischen Umdeutung. Dass dies auch germanistikgeschichtlich nicht folgenlos bleibt, belegt die Ausgabe Benno von Wieses, die zwar kurz nach dem Prozess der Entnazifizierung entsteht, von der alten Anschauung aber noch nicht ganz frei ist.

Der soziale Ort, an dem aufgestaute politische Konfliktpotentiale des Weltanschauungsdiskurses oftmals ausagiert werden, ist das Theater. An der dramatischen Abteilung des Leipziger Arbeitervereins, die unter der Leitung des protestantischen Theologen Friedrich Bosse steht, führt Sebastian Speth vor, auf welchem Weg und in welcher Form die sozialistische Weltanschauung am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet wird. Der Arbeiterverein verfolgt rigide Bildungsziele für seine Mitglieder und etabliert dafür in seinen Publikationsorganen verlässliche Aufstiegs- und Zukunftsnarrative, die mit naturgesetzlicher Notwendigkeit plausibilisiert werden. Die sozialistische Weltanschauung ist dabei Mittel und Zweck zugleich. Sie dient als Voraussetzung eines Bildungs- und Lernprozesses, an dessen Ende eine ‚Volksbefreiung‘ und eine Gemeinschaft ‚ganzer‘ Individuen steht, die wiederum alle gegenteiligen Anschauungen und ←33 | 34→Gesellschaftsmodelle erübrigen soll. Die von Bosse inszenierten Festspiele dienen der Ausbildung rhetorischer und deklamatorischer Fertigkeiten, stehen aber auch in enger Wechselwirkung mit den klassenkämpferischen Vereinszeitschriften. Die weltanschauliche Ausrichtung begründet sich mit der Verbesserung einer als defizitär gesehenen realhistorischen Gegenwart.

Sozusagen als politisches und weltanschauliches Gegenstück zum Theater des sozialistischen Arbeitervereins sind die Festspiele der völkischen Bewegung um 1900 zu sehen. Peter Berger analysiert die gemeinschaftsstiftende Funktion, die die Dramentexte von Ernst Wachler und Friedrich Lienhard erfüllen sollen. Eine solche Herstellung von Communitas beruht auf vielerlei konzeptuellen Anleihen, sie bedarf allerdings der speziellen Umgebung der Natur-, Freilicht- und Bergtheaterbühnen. Diese ermöglichen den Bezug zu einer mythisierten Dramentradition und bedienen gleichzeitig das Versprechen einer programmatischen Modernisierung des Nationaltheaters. Das Gemeinschaftserlebnis unter freiem Himmel wird befördert vom Einsatz synkretistischer Darbietungsformen, die vorzugsweise Elemente des Historiendramas, den Chor der griechischen Tragödie oder germanische und mittelalterliche Kultmotive aufnehmen. Die Dramentexte vollziehen in ihrem Aufführungszusammenhang eine Suchbewegung, in der kulturkonservative und neoidealistische Positionen zur nationalen Identität beitragen.

An Frank Wedekinds Totentanz (1905), der zuerst in Karl Kraus’ Fackel erscheint und später in Tod und Teufel umbenannt wird, weist Christian Schienke nach, dass der Einakter nicht einfach weltanschauliche Gehalte vermittelt, sondern dass er die Praktiken des Weltanschauungsdiskurses beobachtbar macht. Der Dramentext bildet analog zur wissenschaftlichen Experimentalkultur der Moderne eine literarische Versuchsanordnung, wobei in der Kurzform des Einakters die Ansprüche und Grenzen weltanschaulicher Sinnstiftung aufeinandertreffen. Anders als die späteren völkisch-nationalistischen Weltanschauungsdramen von Hanns Johst, Hans Rehberg oder Erwin Guido Kolbenheyer präsentiert Wedekinds Text den hohen argumentativen Aufwand, den es braucht, um weltanschauliches Denken zu validieren. Für die Figurenentwicklung können sogar Darstellungsmuster der weltanschaulichen Erzählprosa und ‚Bildungsgeschichte‘ adaptiert werden. Eine eindeutige Orientierung für alle Figuren muss daraus aber zwingend nicht folgen. Als Belastungsprobe für die diskursive Praxis von Weltanschauungen kann das Drama auch einfach bei deren Aporien verbleiben.

Eine Reflexion des Diskurses – jedoch unter historisch ganz anderen Voraussetzungen – leistet auch Karl Kraus’ dramatisches Großprojekt Die letzten Tage der Menschheit (1918/19). Die Bezüge auf die unmittelbare Gegenwart des Ersten ←34 | 35→Weltkrieges, die Christian Meierhofer rekonstruiert, sind nicht denkbar ohne eine kritische Perspektive auf die Techniken, mit denen der Krieg als Ereignis medial hervorgebracht wird. Das schließt namentlich identifizierte Akteure des zeitgenössisch sensationsbedürftigen Pressewesens wie auch im Krieg ausgebildete Topoi, Metaphern und Redeweisen mit ein. Mit dem gattungstypologischen Anspruch eines barockaffinen Welttheaters problematisiert der Text die journalistischen Sprachregelungen und figurenspezifischen Sprachniveaus. Als Weltanschauungssatire ist das Drama dazu angetan, einerseits die katastrophalen und geradewegs apokalyptischen Folgen der Kriegsniederlage zu benennen, eine pazifistische Haltung und damit selbst eine weltanschauliche Position einzunehmen, andererseits jene latenten Zuschreibungs- und Bewertungsschemata mitzudenken, die hierzu angewendet werden müssen.

Damit wird zur letzten Sektion übergeleitet, die sich mit der „Reflexivität, Reichweite und Schließung des Diskurses“ befasst. Alexander Kling legt zunächst die Verflechtungen zwischen der Ökologie als neuer biowissenschaftlicher Teildisziplin und der Science Fiction-Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts frei. Im Umfeld der publizistisch breitenwirksamen darwinistischen und evolutionsgeschichtlichen Theoriebildung ergibt sich eine Semantik von biologischer, sozialer und ästhetischer Komplexität, die am prominentesten in der Metapher vom Daseinskampf zu weltanschaulicher Aufladung gelangt und von der die populärwissenschaftliche und literarische Prosa gleichermaßen profitieren. Drei Erzähltexte werden dementsprechend auf ihre complex relations und auf die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur, Ökologie und Textualität hin untersucht. So hat bereits die frühe Erzählung Gegen das Weltgesetz (1877) von Kurd Laßwitz, deren Handlung in die Zukunftswelt des Jahres 3877 vorverlagert ist, eine gegenwartsdiagnostische Funktion, sofern die zeitgenössischen biologischen und sozialen Entwicklungstheoreme literarisch befragt werden. Die Schwierigkeiten der Weltanschauungsliteratur, zu einem Abschluss zu kommen, lassen sich bei Robert Krafts unvollendetem Romanzyklus Die neue Erde (1911) bemerken, ein Text, der ein Gedankenexperiment über die geographische Verschiebung der Weltteile unternimmt. Das komplexe Verhältnis von Naturwissenschaft und Literaturgeschichte lässt gewissermaßen auch Alfred Döblins Berge Meere und Giganten (1924) emergieren, mit dem die biologischen und sozialen Verflechtungen bis ins Groteske gesteigert werden. Eine narrative Rundung oder eine kontinuierliche Figurenhandlung kann textintern nicht mehr erfolgen oder ist willkürlich gesetzt.

Andernorts werden textuelle Schließungsversuche über religiöse Topoi organisiert, wie Kerstin Wiedemann an Ricarda Huchs ‚grotesker Erzählung‘ Der wiederkehrende Christus (1926) klarmacht. Der Text bildet den literarischen ←35 | 36→Abschluss einer Reihe von geschichtsphilosophischen, kulturkritischen, publizistischen und essayistischen Arbeiten aus dem zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkrieges. Der Verbund aus literarischen und nichtliterarischen Texten begründet einen autorspezifischen Weltanschauungsdiskurs, der sich in einer orientierungslosen Moderne seiner kulturgeschichtlichen und christologischen Voraussetzungen versichert und an großen historischen Persönlichkeiten aufrichtet. In der Erzählung werden Christusnachfolge und Erlösungsutopie allerdings durch Verfahren des Grotesken torpediert, wobei eine narrative Vermittlungsinstanz in den Hintergrund tritt. Anders als für den Typus der Weltanschauungsliteratur üblich, fallen hier Autorposition und Erzählfunktion auseinander.

Eine diskursgeschichtliche Metabeobachtung leisten zuletzt die erzählerischen Großprojekte der Moderne. In ihrer Analyse von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930–43) geht Anna S. Brasch den gattungsgeschichtlichen Verbindungen von Zeit- und Weltanschauungsroman nach. Damit lässt sich zeigen, wie Musil rückblickend eine inhaltliche ‚Generalinventur‘ des Diskurses vornimmt und mitunter ironisch auf die semantische und konzeptuelle Entleerung hinweist. Zugleich hat das strukturelle Folgen für das eigene Schreibvorhaben, weil das konstatierte Fehlen von Bedeutungsgehalten eine Textwucherung erzwingt, bei der zahllose weltanschauliche Positionen und entsprechende Figuren als Handlungsträger summiert werden können. Musils Roman verbreitet keine eigene Weltanschauung und führt auch zu keiner einhelligen weltanschaulichen Klärung mehr, sondern leistet eine literarische Reflexion der diskursiven Entstehungsbedingungen und des argumentativen Aufbaus. Als Form und Texttypus wird der Weltanschauungsroman somit von innen her aufgelöst.

In Anlehnung daran begreift Florens Schwarzwälder Musils Roman und Hermann Brochs Die Schlafwandler (1930–32) als Weltanschauungsromane zweiter Ordnung. Sie verwenden zwar noch motivische und inhaltliche Versatzstücke der Gattung, verweigern sich aber einer allgültigen weltanschaulichen Aussage. Der Diskurs gerät damit in eine zuletzt aporetische Situation, weil dessen absoluter Geltungsanspruch mit den kontingent auftretenden historischen Abläufen ebenso wenig vereinbar ist wie mit den literarisch ambivalenten Figurenkonstellationen. Die Bewältigung dieses Problems wird von beiden Autoren in späteren Nachfolgeprojekten angegangen, in Brochs Verzauberung (posthum 1953) und in Musils Fortsetzungsfragmenten. In diesen Texten findet eine Verkleinerung und Provinzialisierung der Diegese statt, um die Möglichkeiten von Weltanschauung noch einmal neu durchzuspielen. Als ‚Einzelseelen‘ werden die Protagonisten, der Landarzt und Ulrich, mit Sinnangeboten konfrontiert, die sie in Tagebuchaufzeichnungen festhalten. In diesen fingiert biographischen Weltanschauungsschriften fällt der naturwissenschaftliche Reduktionismus als ←36 | 37→universelles Erklärungsprinzip aber ebenso aus wie die rhetorische Emphase. Die Texte verbleiben unentschieden zwischen den Deutungsextremen von Immanenz und Transzendenz, wissenschaftlich-objektiver Empirie und biographisch-subjektiver Anschauung. Das Stillstellen und Schließen des Weltanschauungsdiskurses gelingt allein in der Relativierung seiner gegensätzlichen Positionen.

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Der größte Teil der hier versammelten Beiträge geht auf eine Tagung zurück, die vom 1. bis zum 3. März 2018 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität stattfand. Für die großzügige finanzielle Unterstützung danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Universitätsgesellschaft Bonn und dem Strukturierten Promotionsprogramm des Instituts für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. Der reibungslose Ablauf der Tagung wäre ohne unsere studentischen Hilfskräfte Alina Sabransky und Leon Jankowiak nicht möglich gewesen. Für ihr Mitwirken an der Einrichtung und Korrektur der Aufsätze danken wir Paulien Laeremans. Ebenfalls danken wir Lutz Danneberg und Ralf Klausnitzer für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte“. Schließlich danken wir allen Beiträgerinnen und Beiträgern sehr herzlich für die kollegiale Zusammenarbeit.

Bonn und Göttingen im Frühjahr 2019

Literaturverzeichnis

Ajouri, Philip: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin, New York 2007.

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Details

Seiten
660
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631811566
ISBN (ePUB)
9783631811573
ISBN (MOBI)
9783631811580
ISBN (Hardcover)
9783631805831
DOI
10.3726/b16525
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Weltanschauungsliteratur Jahrhundertwende Naturwissenschaft Weltkrieg Theater Science Fiction
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 660 S., 5 farb. Abb., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Anna S. Brasch (Band-Herausgeber:in) Christian Meierhofer (Band-Herausgeber:in)

Anna S. Brasch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wortgeschichte digital“ an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache – ZDL). Christian Meierhofer ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft mit einer Heisenberg-Stelle der DFG an der Universität Bonn.

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Titel: Weltanschauung und Textproduktion
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