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Gelehrter Eklektizismus und Schulpolitik

Ideologie und Unterrichtsorganisation im Spanien des konservativen Liberalismus (1834–1900)

von Till Eble (Autor:in)
©2020 Dissertation 530 Seiten

Zusammenfassung

Im 19. Jahrhundert ereigneten sich in Spanien die Errichtung eines liberalen Systems sowie die Institutionalisierung des staatlichen Massenschulwesens. Der Autor untersucht diese parallelen Systembildungsprozesse unter dem Brennglas der Unterrichtsorganisation von Primarschulen. Insbesondere anhand von Berichten der Schulinspektion der kastilischen Provinzen Cuenca und Ciudad Real analysiert Eble sowohl die pädagogischen als auch ideologischen Normen, die der Schulpolitik vorgelagert waren, und deren Durchdringungskraft in den Provinzschulen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damit leistet der Autor zudem einen Beitrag zur Erforschung des konservativen Liberalismus Spaniens und setzt dem gängigen Bild von dessen Scheitern eine differenzierte Einordnung entgegen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Tabellen, Grafiken und Anhänge
  • Einleitung
  • 1 Ideologische Strukturierung staatlicher Erziehungssysteme im gouvernementalen Liberalismus: theoretische Rahmung und historische Voraussetzungen
  • 1.1 Zur Wirkungskraft politischer Ideen: Fragmente des Ideologiediskurses
  • 1.2 Theoretische Ansätze zur Analyse der ideologischen Strukturierung moderner staatlicher Massenschulsysteme
  • 1.3 Ideologisches Identitätsgebäude und Ausdifferenzierungen des liberalen Ideenkreises
  • 2 Der konservative Liberalismus der moderados im Spanien des 19. Jahrhunderts
  • 2.1 Historischer Kontext: Spaniens Verortung im 19. Jahrhundert
  • 2.2 Der konservative Liberalismus Spaniens: Ideologie und Dominanz des moderantismo
  • 2.2.1 Entwicklungspfade des spanischen Liberalismus im 19. Jahrhundert
  • 2.2.2 Referenzquellen und ideologisch-philosophisches Identitätsgebäude der moderados: Rezeption und Hispanisierung des französischen Doktrinarismus und Eklektizismus
  • 2.2.3 Das politische System und sozioökonomische Entwicklungsmodell des moderantismo
  • 2.3 Zusammenfassung: Der konservative Liberalismus und die Ambivalenz einer synthesebasierten Hegemonie innerhalb einer konfliktiven Gesellschaft
  • 3 Schulpolitische Dimension: Der erziehende Staat des moderantismo
  • 3.1 Das spanische Schulwesen auf dem Weg zum staatlichen Erziehungssystem
  • 3.2 Das staatliche Primarschulwesen im konservativen Liberalismus
  • 3.2.1 Politisch-rechtliche Ebene: Schulpolitische Linien des konservativen Liberalismus
  • 3.2.2 Pädagogisch-normative Ebene: Transmission und diskursive Verhandlung der schulpolitischen Normen (Lehrerausbildung, pädagogische Publizistik und Expertentum)
  • 3.2.3 Praktische Implementierung und kritische Rezeption des Schulsystems des moderantismo
  • 3.3 Zusammenfassung: Wirkungsmacht und Grenzen doktrinärer Schulpolitik in Spanien
  • 4 Ideologie durch Technologie: Das unterrichtsorganisatorisches Mischsystem als „angewandter“ Eklektizismus im elementaren Massenschulwesen?
  • 4.1 Der unterrichtsorganisatorische Diskurs im Verlauf des 19. Jahrhunderts
  • 4.2 Das unterrichtsorganisatorische Mischsystem (sistema mixto) im schulpolitischen Design des konservativen Liberalismus
  • 4.2.1 Wurzeln und Vorläufer unterrichtsorganisatorischer Mischsysteme
  • 4.2.2 Politisch-ideologische Dimension: Import, Implementierung und Förderung des sistema mixto
  • 4.2.3 Diskursive Ebene: Die Behandlung von Mischsystemen in Pädagogischen Handbüchern
  • 4.3 Zusammenfassung: Das sistema mixto als unterrichtsorganisatorischer Eklektizismus?
  • 5 Das Inspektionswesen als Schlüsselinstanz der Erarbeitung, Transmission und Kontrolle der unterrichtsorganisatorischen Norm im konservativen Liberalismus
  • 5.1 Vorläufer des professionalisierten Inspektionswesens spanischer Primarschulen
  • 5.2 Die Bedeutung des Inspektionswesens als Schlüsselinstitution der Erarbeitung, Transmission und Kontrolle der Norm im schuladministrativen Arrangement des moderantismo
  • 5.3 Analyse von Inspektionsberichten der Provinzen Cuenca und Ciudad Real (1860–1894)
  • 5.3.1 Annäherung an den Quellenkorpus, Fallauswahl und methodische Vorgehensweise
  • 5.3.2 Normkontrolle und Überprüfung der quantitativen wie qualitativen Schulversorgung
  • 5.3.3 Kontrolle der unterrichtsorganisatorischen Bestimmungen: technologische Normdurchdringung und flexible Ausgestaltung lokaler Organisationskulturen
  • 5.3.4 Das konstruierte Bild des Lehrers als ziviler Mönch und gesellschaftlicher Transmissionsakteur
  • 5.3.5 Handlungsstrategien der Akteure in der normverhandelnden Interaktion im Inspektionsprozess
  • 5.4 Zusammenfassung: Die Inspektoren des provinziellen Elementarschulwesens als Repräsentanten des moderantismo in der Schulpolitik?
  • Ideologie durch Technologie: Die Transmission schulpolitischer Normen und gesellschaftspolitischer Werte im Massenschulwesen des konservativen Liberalismus Spaniens (Schlussbetrachtung)
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Reihenübersicht

Einleitung

„Denn, lasst es uns einmal so sagen, die Frage des Unterrichts ist eine Frage der Macht. Derjenige, der unterrichtet, der dominiert. Denn unterrichten, das ist das Formen von Menschen; Menschen geformt gemäß den Anschauungen derer, die indoktrinieren.“ (Antonio Gil de Zárate)1

Schule ist ein zentraler, institutionalisierter Ort, innerhalb dessen die Wertevermittlung und Sozialisierungsmodi moderner Gesellschaften ausgehandelt und operationalisiert werden. Die Idee der Funktion von Schule als Motor individueller Erziehung und Kompetenzaneignung einerseits sowie zugleich einer in die Zukunft gerichteten gesamtgesellschaftlichen Strukturierung und kollektiven Sozialisation ist dabei allerdings ein relativ neuartiges Phänomen, welches erst im Zuge des Aufbaus und der Etablierung moderner, staatlicher Massenschulwesen Konturen bekam.2 In diesem historischen Kontext können die Einrichtung staatlicher Massenschulsysteme, wie sie sich etwa im Europa3 des späten ←17 | 18→18. und 19. Jahrhundert herausbildeten, und die folgende weltweite Diffusion in einer längerfristigen Perspektive als ein konstitutiver Bestandteil des Prozesses der globalen Institutionalisierung unabdingbarer Aktivitäten moderner Nationalstaaten in der Reaktion auf grundlegende politische, religiöse und sozioökonomische Umwälzungen und Wandlungsprozesse betrachtet werden.4

In diesem Sinne stellt die Aufbau- und Konsolidierungsphase zunehmend elaborierter staatlicher Erziehungswesen im Zuge des Übergangs zur Moderne einen faszinierenden Untersuchungsgegenstand dar. Dies gilt umso mehr in der analytischen Kopplung zu der politisch-ideengeschichtlichen Transformation emergierender (wie auch immer akzentuierter) liberaler Regime,5 wurde hier doch der Konturierung jener Säule öffentlicher Aufgaben im Zuge der Ablösung des Ancien Régime und der Absicherung der erkämpften Machtposition (zumindest diskursiv) ein enormer Stellenwert hinsichtlich der Verarbeitung der politischen und sozioökonomischen Wandlungsprozesse und der Stabilisierung der neuen Regime eingeräumt.6 Gemäß der eingangs gezeichneten dualen ←18 | 19→schulischen Funktionszuschreibung diente Bildung nicht nur als Vehikel der individuellen Vollkommenwerdung, indem man „durch Bildung zum Menschen“7 werden konnte. Das staatliche Massenschulwesen stellte darüber hinaus eine moralisch-gesellschaftliche Notwendigkeit und ein „unabdingbares Gegenstück der neu erlangten Freiheiten, denen es als Schutzschild und Korrektiv zu dienen“ habe, dar.8

Der Aufbau zentralisierter Erziehungsadministrationen und Schulnetze mit dem Anspruch einer landesweiten Reichweite und deren ideologische „Imprägnierung“ sind so unter anderem vor dem Hintergrund veränderter Konzepte politischer Rechte, Partizipation und Repräsentation sowie sich wandelnder Schemata der Herrschaftslegitimation in säkularisierten Nationalstaaten zu sehen; Faktoren, welche die Frage einer breiten Beschulung und Erziehung künftiger Staatsbürger gerade im Kontext der Konstituierung und Selbstbehauptung liberaler Regime in der konfliktiven Auseinandersetzung mit den Beharrungskräften des Ancien Régime mit einer verschärften Dringlichkeit aufluden.9 In diesem spezifischen zeithistorischen Kontext sind somit in kaum vergleichbarer Weise nicht nur die sich herausbildenden administrativen und professionell-technokratischen Konzeptionen sowie normativen Diffusions- und Kontrollmechanismen im Zusammenspiel und Gegeneinander zu tradierten Praktiken und Routinen erkennbar. Gleichzeitig lassen sich auch die mannigfaltigen politisch-ideologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen nachzeichnen, ←19 | 20→welche dem Aufbau der nationalen Schulsysteme quasi „vorgelagert“ scheinen und – ganz gemäß dem dieser Arbeit vorangestellten Diktum des für die nachfolgende Analyse bedeutenden spanischen Pädagogen, Schulpolitiker und Dramaturgen Antonio Gil de Zárate – oftmals in einer aus heutiger Perspektive erstaunlich anmutenden Offenheit artikuliert wurden.

Diese Idee einer „ideologischen Strukturierung“10 sich konstituierender öffentlicher Massenschulsysteme wird ein zentraler konzeptioneller Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit sein. Die Analyse entsprechender Mechanismen wird sich insbesondere auf den Bereich des staatlichen Elementarschulwesens fokussieren, da diese Ebene der sich ausdifferenzierenden öffentlichen Erziehungssysteme in ihren Implikationen für eine (mehr oder weniger) breite Masse der Bevölkerung eine besondere Bedeutung hinsichtlich einer gesellschaftspolitischen Strukturierung mittels schulpolitischer Regulierung bereitgestellt haben dürfte.11 Dabei werden nicht nur die schulpolitischen und administrativen Prozesse hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Schulversorgung (Aufbau des Schulnetzes, Steuerung der Unterrichtsinhalte, finanziell-materielle Ausstattung) in den Blick genommen, sondern insbesondere auch die unterrichtsorganisatorischen Arrangements von Interesse sein, wurde doch gerade jene Mikroebene der Schulorganisation mit Blick auf die Erziehungsanstalten als „Gesellschaftsschulen“ nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund zu transportierender ideologischer oder sozioökonomischer Implikationen betrachtet. Die konkrete Systematik der Unterrichtsorganisation wurde von zeitgenössischen Schulreformern so keineswegs auf die technologische Regulierung des Schulablaufs reduziert, sondern sollte darüber hinaus „den künftigen Staatsbürger auf ←20 | 21→dessen weitere Bestimmung vorbereiten, da dieser von klein auf an der Regierung einer ‚Welt im Miniaturformat‘ teilhaben“ könne.12

Entsprechende Prozesse der ideologischen Durchdringung schulpolitischer sowie spezifiziert unterrichtsorganisatorischer Normen werden mit Blick auf die leitenden Fragestellungen dieser Arbeit exemplarisch anhand des Aufbaus des elementaren Massenschulwesens in Spanien in der Zeit der Konsolidierung des liberalen Regimes insbesondere unter der Herrschaft des spezifischen konservativen Liberalismus der moderados13 ab Mitte der 1830er Jahre analysiert werden. Gemäß einem dreidimensionalen Analysefokus werden erstens (1) das philosophisch-ideologische Identitätsgebäude des spezifischen konservativen Liberalismus Spaniens und dessen konzeptionelle Referenzmodelle von Interesse sein; zweitens (2) sollen die materielle Übersetzung entsprechender programmatischer Prämissen in schulpolitische Steuerungen und unterrichtsorganisatorische Normen sowie die Modi ihrer Diffusion und Kontrolle untersucht werden; drittens schließlich (3) werden entsprechende Mechanismen der Normbildung, -transmission und -kontrolle (sowie etwaige Widerstände) im Rahmen der professionalisierten Schulinspektion zu spezifizieren sein, welche in dieser Arbeit als zentrales schulpolitisches Instrumentarium des konservativen Liberalismus (moderantismo) im Prozess der ideologisch-normativen Strukturierung gesehen wird. Der zeitliche Fokus richtet sich dabei mit Blick auf die konzeptionell-normative Fundierung vorrangig auf die Institutionalisierungsphase sowohl des liberalen Systems als auch des staatlichen Erziehungswesens in Spanien während der isabellinischen Ära (1834–68)14 und greift damit die ←21 | 22→Kernphase der gouvernementalen Dominanz der moderados auf, während aufgrund der längerfristigen Folgewirkungen der (schul-)politischen Grundsteinlegung sowie der systemischen Strukturähnlichkeiten der isabellinischen Ära wie der ab 1874 folgenden Restauration gerade mit Blick auf die Kontrolle des durch den konservativen Liberalismus geprägten Regimes die Entwicklungen bis zum Ende des Jahrhunderts zentral mit in die Untersuchung inkorporiert werden.15

Innerhalb des eingangs gezeichneten historischen Kontexts scheint der spanische Fall von einem spezifischen Interesse. Dies liegt zum einen in der Parallelisierung des Aufbaus des liberalen Regimes sowie der Errichtung eines staatlichen Erziehungswesens begründet. Hier ist eine enge zeithistorische Kopplung entsprechender Systembildungsprozesse zu erkennen, wenn das politische Regime wie das nationale Schulsystem infolge der Beendigung der absolutistischen Ära mit dem Tod des Monarchen Fernando VII. (1833) jeweils ab den 1830er Jahren unter der dominanten Prägung einer spezifischen gesellschaftlichen Machtgruppe – einem Liberalismus konservativer Fasson – langfristig konturiert wurden. Der strukturbildenden Wirkungskraft dieses konservativen Liberalismus steht eine insbesondere aus internationaler Perspektive begrenzte Reichweite der historiographischen Beschäftigung entgegen, was vorliegender Untersuchung zusätzlichen Reiz verleihen mag.16 Trotz ←22 | 23→der semantisch-konzeptionellen Pionierrolle des frühen spanischen Liberalismus der verfassungsgebenden Cortes von Cádiz (1810–1814) für die politische Selbstzuschreibung des liberalen Ideenkreises sowie der weit ins 20. Jahrhundert nachwirkenden systemischen Grundsteinlegung des folgenden konservativen Liberalismus, sind die wissenschaftlichen Annäherungen an den spanischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts traditionell von der Konstatierung einer (in der Regel negativ konnotierten) Sonderrolle geprägt, deren Rückstandsdiagnosen sich auf eine begrenzte Durchschlagskraft der liberalen Revolution in Spanien und deren politischen (Errichtung eines „wirklich“ liberalen Regimes), ökonomischen (verspätete industrielle Revolution) wie gesellschaftlichen (limitierte Erweiterung politischer und individueller Freiheitsrechte, eingeschränkte Säkularisierung) Implikationen stützen.17 Diese klassischen (modernisierungstheoretisch wie marxistisch aufgeladenen) Thesen des Scheiterns des spanischen Liberalismus können sich hierbei insbesondere auf mehrere Episoden der absolutistischen Zurückdrängung der Versuche der Installierung eines liberalen Regimes im Vorlauf der Institutionalisierung ab 1833 sowie auf die auch in der Folge starken Interessensansprüche von Kräften des Ancien Régime berufen.

Gleichwohl lassen sich beginnend mit der Reformära der 1830er Jahre durchaus (gesellschafts-)politische Wandlungsprozesse und die Institutionalisierung eines liberalen Regimes gemäß modernen staatlichen Funktionslogiken (Zentralisierung, Bürokratisierung, Aufbau eines hierarchisch gestaffelten administrativen Apparats) erkennen. Diese Transformationsprozesse werden in der neueren Forschung zunehmend aufgegriffen, wobei gerade in vergleichenden Einordnungen in zeitgenössische internationale Entwicklungen das „apokalyptische Bild“ des sich konstituierenden Liberalismus in Spanien merklich relativiert wird.18 Für die Systembildung wird trotz der zeitweiligen gouvernementalen Interregien ←23 | 24→eines progressiven Liberalismus insgesamt eine politisch-ideologische wie gesellschaftliche Dominanz des konservativen Liberalismus (moderantismo) angenommen, welcher identitär-methodisch entscheidend vom philosophischen Eklektizismus Victor Cousins sowie dem doktrinären Liberalismus Frankreichs um François Guizot inspiriert war. Entsprechend dessen Modell des juste milieu neigte der konservative Liberalismus, so die Annahme, zu einem synthetisierenden Politikansatz, welcher Prinzipien der liberalen Revolution wie des Ancien Régime verbinden sollte, und versuchte diese über die spezifische Kernherrschaft der década moderada (1844–54) hinaus langfristig beim Aufbau des liberalen Regimes und des damit verbundenen sozioökonomischen Entwicklungsmodells zu verankern.19

Ein prioritäres Politikfeld in der Phase der Errichtung und Konsolidierung des liberalen Regimes konservativer Prägung stellte der Aufbau eines staatlichen Erziehungswesens dar. Gemäß der einleitend gezeichneten Bedeutung hinsichtlich der Systemtransformation und -absicherung regulierten die spanischen Liberalen diesen Bereich im Grunde mit Beginn der Regimeimplementierung.20 Die fortschreitende Konturierung eines Schulsystems mit dem Anspruch einer landesweiten Durchdringung und funktionellen Ausdifferenzierung in der isabellinischen Ära lässt sich exemplarisch anhand der umfassenden legislativen Verankerung während des mittleren Drittels des 19. Jahrhunderts ablesen:21 ←24 | 25→Von dem die erziehungspolitischen Prinzipien des konservativen Liberalismus exemplarisch markierenden Rivas-Plan (1836) über die Institutionalisierung der Lehrerausbildung in zentralen und provinziellen Normalschulen (1838), die Schaffung eines professionalisierten Inspektionswesens zur Überwachung der vorgegebenen Normen (1849) bis hin zu dem die vorherigen Regulierungen synthetisierenden Rahmengesetzwerkes des Ley Moyano (1857) wurden in dieser relativ kurzen Phase die Grundsteine des nationalen Massenschulwesens, die Strukturen der Schuladministration sowie die Instrumentarien der Transmission und Kontrolle der erarbeiteten Normen rechtlich fixiert. Begleitet wurde dieser Systemaufbau und dessen im Rahmen dieser Arbeit angenommene ideelle Durchdringung auf konzeptionell-diskursiver Ebene von breit gefächerten Diffusionskanälen pädagogischer Publizistik (Presse, Fachliteratur) sowie einem genuinen Expertentum (normalistas), dessen Mitglieder sich mit der politischen Führungsriege des spanischen Liberalismus teils überlagerten.22 Die aus diesem Milieu der Erziehungspolitiker, der sich professionalisierenden Lehrerelite und der Inspektorenschaft stammenden Schriften sind als komplementärer Bestandteil der normativen Strukturierung des nationalen Erziehungswesens zu verstehen, wobei die beständigen zeitgenössischen Klagen über die (gerade auch im internationalen Vergleich) als defizitär erachteten quantitativen wie qualitativen Parameter des schulinfrastrukturellen Angebots wie auch dessen übersichtliche Nachfrage auf Grenzen der schuladministrativen, normativen Durchdringung und mögliche Oppositionskräfte der Systembildung verweisen.23

Der Aufbau des spanischen öffentlichen Massenschulwesens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts beschränkte sich schließlich nicht nur auf die administrative, landesweite Verankerung und staatliche Kontrolle eines qualitativ gestaffelten Schulsystems (differenzierter Primar-, Sekundar-, Universitätsbereich), dessen elementare Versorgungsschiene sämtliche Staatsbürger erreichen ←25 | 26→sollte (Etablierung der Schulflicht 1857). Im Fokus des Regulierungsimpetus und dessen diskursiver Unterfütterung standen gerade auch unterrichtsorganisatorische Fragestellungen, die wie bereits angedeutet von der pädagogischen Elite des 19. Jahrhunderts über ihre technologische Dimension hinaus in ihren gesellschaftspolitischen Transformationsimplikationen betrachtet wurden. Ganz im Einklang mit den dieser Arbeit vorangestellten Überlegungen Gil de Zárates erscheint die spezifische Organisation des Schulunterrichts im Lichte pädagogischer Traktate der Zeit als eine modellhafte Schule der Gesellschaft, in welcher quasi deren künftige Mitglieder im kleinen Maßstab soziale Verhaltensweisen sowie staatsbürgerliche Prinzipien und funktionelle Rollen einüben konnten.24

Dementsprechend wurden unterrichtsorganisatorische Details nicht nur entlang pädagogischer, sondern gerade auch politischer Frontlinien diskutiert. Hier ist der spanische Fall in den internationalen Kontext des Systemwettstreits des wechselseitigen und des Simultanunterrichts einzubetten. Der wechselseitige Unterricht (auch Lancaster- oder Monitorialsystem) war eine durch die britischen Schulreformer Andrew Bell und Joseph Lancaster popularisierte Organisationsform, welche insbesondere auf dem Einsatz lehrender Schülerfunktionäre (Monitore) basierte, die unter der Aufsicht eines direktoralen Lehrers Unterrichts-, Aufsichts- und Disziplinierungskompetenzen in feingliedrig klassifizierten Sektionen von kenntnisbasiert möglichst homogenen Schülerkohorten wahrnahmen. Das System, welches die Beschulung einer immensen Schülerzahl durch die einzelnen Lehrkräfte versprach, wurde durch eine ausgeklügelte Choreographie, ein striktes Disziplinarregime und ein Wettbewerbssystem zusammengehalten, welches sich etwa in einem fluiden Rhythmus der individuellen Schulkarriere äußerte. Damit wurden in dem international rezipierten System insbesondere (aber beileibe nicht nur) seitens liberaler Kräfte sowohl Potentiale hinsichtlich einer kostengünstigen und flächendeckenden Beschulung der Bevölkerungen in den nationalen (säkularisierten) Massenschulsystemen erblickt, als auch sozioökonomische Gestaltungsphantasien (schulorganisatorische Verankerung von Prinzipien des Wettbewerbs und der Arbeitsteilung) und ←26 | 27→Möglichkeiten der politisch-staatsbürgerlichen Katechese zur Absicherung der Machtposition gesehen.25 Die insbesondere konservativ-klerikalen Parteigänger des Simultan- oder Gruppenunterrichts, welcher in seiner Reinform auf die ausschließliche und direkte Lehrkompetenz eines erwachsenen Lehrers und dessen aufeinanderfolgende Unterweisung einzelner Schülergruppen setzte, kritisierten das System konsequenterweise aus pädagogischen (Lehrfunktion von Kindern) als auch gesellschaftspolitischen (Transport von, je nach Sichtweise, militaristischen oder antiautoritären Verhaltensweisen) Argumentationen. Gerade in Frankreich, dem traditionellen spanischen Bezugsmodell, sind diese Konfliktlinien und deren Überlagerungen sowie die Entstehung von hybriden Mischformen exemplarisch nachzuzeichnen.26

Das spanische Interpretationsmuster dieses unterrichtsorganisatorischen Diskurses äußerte sich in der verstärkten Abwendung und schließlich regulativen Bannung tradierter Praktiken wie des kollektiven Einzelunterrichts (bei welchem der Lehrer die vorgefundene heterogene Schülerschaft sukzessiv einzeln unterwies, während die restlichen Kinder weitgehend sich selbst überlassen blieben) und einer ähnlich wie oben gezeichneten politisch-pädagogischen Aufladung des Systemstreits. Die gesellschaftspolitischen Potentiale des Monitorialsystems (sistema mutuo) wurden von einigen, gerade progressiven Sektoren des spanischen Liberalismus insbesondere im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus betont und in Implementierungs- (Studienreisen in prestigeträchtige Anwendungsländer der Lancastermethode) wie Diffusionsprojekte (normierungsorientierte Modellschulen) übersetzt. Empirisch konnte sich das System allerdings nie flächendeckend durchsetzen und war spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt der dualen pädagogisch-moralischen Kritik ausgesetzt.27 Neben dem diskursiv zunehmend präferierten Gruppenunterricht ←27 | 28→(sistema simultáneo), welcher spätestens mit der Durchsetzung der Jahrgangsklasse im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum absoluten normativen Ideal werden sollte, waren auch in Spanien diverse Mischsysteme (sistema mixto) in der pädagogischen Norm und Praxis zu verzeichnen, die insbesondere Elemente des Gruppen- (direkte Lehrerintervention) und wechselseitigen Unterrichts (klassifikatorische und disziplinarische Aspekte) miteinander zu verbinden suchten und schulpraktisch Mitte des Jahrhunderts eine dominante Form der Unterrichtsgestaltung spanischer Elementarschulen dargestellt zu haben scheinen.28 In der Option für jene syntheseorientierte Unterrichtsorganisation wird, so eine zentrale Kernannahme dieser Arbeit, nicht nur eine pädagogisch motivierte Präferenz und eine schulpraktische Strategie zur zentralen bürokratischen Steuerung der Bewegungsgesetze von Elementarschulen gesehen, sondern auch eine schulorganisatorische Übersetzung der eklektisch-doktrinären Ideologie des konservativen Liberalismus vermutet, die sich neben der Konturierung des Schulsystems oder der wertegeleiteten Prägung des Unterrichtsprogramms auch im technologischen Design widergespiegelt haben dürfte.

In diesem grob umrissenen thematisch-historischen Spektrum ist die folgende Arbeit anzusiedeln. Der Fokus der Analyse wird dabei auf eben jenen politisch-ideologischen, philosophischen wie sozioökonomischen Interessen liegen, welche dem zu etablierenden staatlichen Erziehungswesen quasi vorgelagert waren und dieses gleichsam – so die Hypothese – durchdrungen haben. Der Analysefokus wird dabei wie bereits angedeutet drei hauptsächliche Ebenen beinhalten. Auf einer ersten normativen Ebene sollen die Elemente der ideologischen Strukturierung, also die angenommenen vorgelagerten politisch-ideologischen Prinzipien vorrangig des konservativen spanischen Liberalismus, untersucht werden. Die zweite Ebene beschäftigt sich mit der Transmission jener Prämissen des moderantismo in den Bereich des neu etablierten staatlichen ←28 | 29→Erziehungswesens und damit dem Sektor öffentlicher Dienstleistungen, welchem zumindest ideell ein entscheidender Stellenwert in der Absicherung des errichteten liberalen Regimes eingeräumt wurde. Diese analytische Dimension wird sodann auf die Betrachtung des spezifischen Fallbeispiels unterrichtstechnologischer Strukturierung konkretisiert, deren Normierungs-, Transmissions- und Kontrollmechanismen schließlich drittens durch das zentrale schuladministrative Schaltinstrumentarium der Schulinspektion analysiert werden.

Ausgehend von dieser analytischen Fokussierung ergibt sich folgende strukturelle Vorgehensweise, gemäß derer sich die vorliegende Arbeit aufgliedert. In Kapitel 1 werden vornehmlich Voraussetzungen für die folgende Untersuchung geschaffen, indem der historische Kontext sowie die theoretische Rahmung der Fragestellung konturiert werden. Dies wird auf drei miteinander zusammenhängenden Ebenen geschehen: Aufbauend auf einer knappen einleitenden Annäherung an Diskussionen der Reichweite politischer Ideen respektive Ideologien sollen in einem zweiten Schritt theoretische Konstrukte der Analyse ideologischer Strukturierungen in staatlichen Massenschulwesen vorgestellt und für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden. Dabei wird ausgehend von der Makroebene theoretischer Modelle der Analyse von Mechanismen der Dominanz staatlicher Erziehungssysteme durch politisch-gesellschaftliche Machtgruppen – hier wird sich die Arbeit in besonderem Maße auf den Ansatz Margaret Archers stützen – der Fokus immer engmaschiger bis auf die Mikroebene unterrichtsorganisatorischer Technologien verlagert, um hier schließlich Hogans konzeptionell inspirierendes Modell der über unterrichtsorganisatorische Arrangements vermittelten „ideologischen Strukturierung“ aufzugreifen.29 Das Kapitel wird schließlich drittens weiter auf den historischen Kontext dieser Arbeit zugespitzt. Hier soll angesichts ihrer Verortung an der Schnittstelle emergierender staatlicher Massenschulsysteme und sich konstituierender liberaler Regime komprimiert auf die Formierung und klassischen Bestandteile des Identitätsgebäudes des liberalen Ideenkreises rekurriert werden, um sogleich eine Verbindung zu der zeithistorischen Etablierung öffentlicher Erziehungssysteme und Erziehungskonzepte des klassischen Liberalismus zu zeichnen.

Daran anschließend wendet sich Kapitel 2 dem spanischen Fallbeispiel zu. Hier soll zunächst eine historische Verortung Spaniens im 19. Jahrhundert vorgenommen werden, wobei ausgehend von einer Diskussion der gängigen ←29 | 30→Niedergangs- und Rückstandsperzeptionen die Spezifika des liberalen Entwicklungsmodells in Spanien analysiert werden sollen. Im Zentrum des Interesses stehen hier die Formierung, identitäre Prägung und ideologisch-organisatorische Entwicklung des spezifischen konservativen Liberalismus sowie dessen ideellen Referenzquellen, die vorrangig im französischen Eklektizismus (Victor Cousins) und dem diese philosophische Schule ebenfalls rezipierenden Doktrinarismus (dem konservativ orientierten Liberalismus um François Guizot) vermutet werden. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Modi der Rezeption und Aneignung im Prozess der ideologischen Transformation des spanischen Liberalismus sowie die Übersetzung dieser Prämissen in ein spezifisches politisch-konstitutionelles wie sozioökonomisches Entwicklungsmodell gelegt werden.30 Aufgrund der angenommenen langfristigen (schul-)politischen Grundsteinlegung, systemischen Prägung und gesellschaftlichen Hegemonie des moderantismo über seine gouvernementale Kernphase der isabellinischen Ära hinaus werden nicht nur die ideologischen Vorläufer und das Identitätsgebäude des konservativen Liberalismus analysiert, sondern auch die dominierten (progressiv-)liberalen Konkurrenzkräfte sowie die Entwicklungen während der Restaurationszeit mit in das Betrachtungsdesign inkorporiert.

Kapitel 3 konkretisiert das ideologische Gerüst des moderantismo auf dessen erziehungspolitischen Konzeptionen. Im Kern sollen im Verlauf des zweiten und dritten Kapitels die ideologischen Fundierungen untersucht werden, welche schließlich als Folie der unterrichtsorganisatorischen Strukturierungen gesehen werden können. Nach einem kurzen Rekurs auf die Etablierungsgeschichte des staatlichen Schulsystems nähert sich die Arbeit den erziehungspolitischen Prämissen des moderantismo auf mehreren analytischen Dimensionen an. Auf einer politisch-rechtlichen Ebene werden so insbesondere die normativen Strukturierungen des staatlichen Primarschulwesens anhand der zentralen Verordnungen dieser Institutionalisierungs- und Konsolidierungsphase des Massenschulsystems analysiert. Hier sollen entsprechend der elementaren konzeptionellen Annahme einer methodischen Analogie der Syntheseorientierung in verschiedenen gesellschaftlichen und (schul-)politischen Gestaltungsbereichen des Regimes des konservativen Liberalismus insbesondere Querverbindungen zu ←30 | 31→der Ebene der politisch-ideologischen Fundierung des Doktrinarismus (juste milieu) und deren Übersetzung in die gesellschaftlich-erziehungspolitische Sphäre (Souveränität der Vernunft) aufgezeigt werden.31 Auf der pädagogisch-normativen Dimension verlagert sich der Fokus stärker auf die Transmission und diskursive Verhandlung der erziehungspolitischen Normen im Kontext des pädagogischen Expertentums oder genauer der Lehrerausbildung, wobei auch weitere professionelle Diffusionskanäle (pädagogische Publikationen oder Kongresse) angerissen werden. Hier können lediglich selektive Ausschnitte diskursiver Verhandlungen berücksichtigt werden, wobei insbesondere das durch die Lehrerausbildung vermittelte, durch die Fachliteratur perpetuierte und das Inspektionswesen kontrollierte Idealbild der Primarschullehrerschaft interessant erscheint sowie der Widerhall politisch-ideologischer Entwicklungstendenzen im schulischen Bereich kursorisch behandelt werden soll. Schließlich wird durch einen Überblick empirisch-schulpraktischer Parameter eine gewisse Annäherung, soweit dies möglich ist, an die Effekte der Schulpolitik des konservativen Liberalismus angestrebt.

←31 | 32→

In Kapitel 4 wendet sich die Arbeit dem sektoralen Analyseschwerpunkt unterrichtsorganisatorischer Steuerung und Normdurchdringung zu. Aufbauend auf einem rekapitulierenden Abriss der unterrichtsorganisatorischen Entwicklungen im Vorlauf der Institutionalisierung des staatlichen Primarschulwesens wird in der Folge insbesondere das im Kreise der schulpolitisch-pädagogischen Elite des moderantismo zunehmend opportune unterrichtsorganisatorische Mischsystem im Zentrum der Untersuchung stehen. Dabei werden sowohl die Wurzeln des sistema mixto und der „Import“ sowie die Aneignung des französischen Bezugsmodells zu analysieren sein, als auch die normative Implementierung und Förderung (Reglementierungsebene), diskursive Behandlung (pädagogische Handbücher und Zeitschriften) sowie praktische Transmission (Statistiken, mögliche Rückkopplungseffekte aus der Schulpraxis) des Systems Berücksichtigung finden. Ziel dieses Abschnitts wird es sein, unterrichtsorganisatorische Mischsysteme in ihrer konzeptionellen Konturierung und argumentativen Struktur ←32 | 33→zu begreifen, die pädagogischen wie politischen Interessen ihrer Priorisierung respektive Ablehnung freizulegen sowie Spuren möglicher Übersetzungsmechanismen und Strukturähnlichkeiten ideologischer Prämissen, gesellschaftspolitischer Konzeptionen, schulpolitischer Normen – kurz: zentraler Elemente des konzeptionellen (Zeit-)Geists des konservativen Liberalismus – in der Konstituierung und Diffusion unterrichtsorganisatorischer Normen aufzuspüren.

Innerhalb des schuladministrativen Designs war die Primarschulinspektion wie bereits angedeutet eine zentrale Institution, über welche die Prozesse der Erarbeitung, Transmission und Kontrolle der schulpolitischen, unterrichtsorganisatorischen Normen gekoppelt wurden. In diesem Sinne erscheint es folgerichtig, die im vorigen Abschnitt analysierten Mechanismen in Kapitel 5 anhand des konkreten Fallbeispiels des Inspektionswesens unter besonderer Berücksichtigung von Inspektionsberichten der kastilischen Provinzen Cuenca und Ciudad Real (1860–94) zu spezifizieren. Folgend auf eine einleitende Schilderung der Genese des professionalisierten Inspektionswesens in Spanien und einer Diskussion der Bedeutung dieses Instrumentariums im schuladministrativen Konstrukt des konservativen Liberalismus wird eine serielle Quelle an Berichten der Schulinspektion zweier Provinzen analysiert werden, die aufgrund ihrer politisch-sozioökonomischen Charakteristika als „zentrale Peripherien“, im agrarisch geprägten Herzland gelegen und zugleich dem Madrider Universitätsdistrikt zugehörig, eine vielversprechende Auswahl darzustellen versprechen.32 Analog zu den die vorigen Kapitel durchziehenden Schwerpunkten wird sich die serielle wie interpretative Analyse der Inspektionsdokumente hauptsächlich auf die Ebenen der Verankerung der quantitativen wie qualitativen Schulversorgung (Infrastruktur des Schulnetzes und materielle Bedingungen), der Transmission und Kontrolle unterrichtsorganisatorischer Normen (Unterrichtsorganisationssysteme, klassifikatorische wie disziplinarische Ausführungsbestimmungen), der ideologischen Imprägnierung der Schulgestaltung (organisatorische wie curriculare Ausprägungen) sowie der Vermittlung des idealisierten Lehrerethos erstrecken. Insgesamt sollen Mechanismen des Durchsickerns (schul-)←33 | 34→politischer Prämissen des moderantismo auf die lokale schulische Ebene analysiert und etwaige Widerstandskräfte wie Rückkopplungseffekte erfasst werden.

Die Relevanz einer entsprechenden Untersuchung – dies wurde bereits einleitend angedeutet – ergibt sich insbesondere aus der Verknüpfung des zeitlichen Rahmens wie des materiellen Untersuchungsgegenstandes, der langfristigen (schul-)politischen Grundsteinlegung durch den moderantismo, der pädagogisch-gesellschaftspolitischen Aufladung unterrichtsorganisatorischer Fragen sowie der zentralen Scharnierrolle der Inspektion als angenommenem Transmissionsorgan des schulpolitischen moderantismo.33 Die Forschungslage ist trotz dieser Bedeutung einer folgemächtigen Strukturierung entstehender staatlicher Schulsysteme im Liberalismus des 19. Jahrhunderts übersichtlich. Dies gilt in besonderer Weise mit Blick auf den spanischen Untersuchungsgegenstand. Bestehen mit Blick auf das politisch-ideologische Referenzmodell Frankreichs einige anregende Studien zum doktrinären Liberalismus, dessen schulpolitischen Präferenzen sowie die politisch-pädagogischen Argumentationsmuster unterrichtsorganisatorischer Reglementierung,34 so sind die diese Arbeit strukturierenden analytischen Hauptebenen – (I) ideologisches Identitätsgebäude des konservativen Liberalismus, (II) Übersetzung dieser Prinzipien in schulpolitische Steuerung, (III) Transmission und Kontrolle unterrichtsorganisatorischer Arrangements unter besonderer Berücksichtigung des Inspektionswesens – in Spanien lediglich teilweise in einer angemessenen Tiefe und in ihrer Kombination nur äußerst rudimentär erforscht worden. Für den gemäßigten spanischen Liberalismus bestehen einige, meist bereits etwas ältere, Standardwerke,35 ←34 | 35→die sich durchaus der ideologischen Identität und organisatorischen Entwicklung des politischen Spektrums widmen, deren Bezüge auf die schulpolitischen Präferenzen und Regulierungen der moderados in der Regel allerdings überschaubar bleiben. Exemplarisch für die eingangs bereits gezeichnete generelle Lücke der spanischen Liberalismusforschung erscheint die Anekdote in Díez del Corrals Referenzwerk über den doktrinären Liberalismus, in welcher der Autor schildert, seinen ursprünglichen Plan der Erforschung des konservativen Liberalismus Spaniens vermehrt in eine Analyse des französischen Bezugsmodells umgewandelt zu haben.36

Die Forschungslandschaft zur liberalen Schulpolitik in der isabellinischen Ära ist von einem Dualismus der quantitativen Reichhaltigkeit und einem qualitativen Vakuum hinsichtlich des spezifischen Erkenntnisinteresses dieser Arbeit gekennzeichnet, insbesondere mit Blick auf den sektoralen Fokus der Unterrichtsorganisation. Neben einigen klassischen Überblickswerken ist die spanische Bildungsgeschichtsschreibung37 insbesondere durch eine regional fokussierte Struktur und sektorale Interessensschwerpunkte gekennzeichnet. So besteht etwa ein beachtlicher Forschungszweig für die Normalschulen der Lehrerausbildung, welcher die Tendenz der Forschung zu regionalen oder gar Lokalstudien veranschaulicht.38 Explizite Untersuchungen der ideologischen ←35 | 36→Strukturierung der schulpolitischen Gestaltung in historischer Perspektive sind ebenso selten39 wie systematische Analysen unterrichtsorganisatorischer Steuerungen, aus denen vorrangig Marcelo Carusos Untersuchungen des wechselseitigen Unterrichts herausstechen.40 Genuine Studien der Entwicklung, konzeptionellen Fundierung und Implementierung von unterrichtsorganisatorischen Mischsystemen oder gar Analysen ihrer politisch-ideologische Fundamente sind zumindest für den spanischen Untersuchungskontext schlicht nicht verfügbar (oder dem Autor nicht bekannt).41

Die regionale Forschungsorientierung ist in gewissem Ausmaß auch für die Analyseebene des Inspektionswesens erkennbar, wobei hier große Rahmenwerke ←36 | 37→der funktionellen Ausgestaltung dieser schulpolitischen Scharnierstelle sowie historisch ausholende Gesamtdarstellungen zu verzeichnen sind.42 Eine systematische analytische Einbettung von archivierten zeitgenössischen Inspektionsberichten ist bisher kaum erfolgt, Ansätze einer begrenzten wissenschaftlichen Verarbeitung sind lediglich in den in dieser Hinsicht pionierhaften Forschungsarbeiten Narciso de Gabriels zur Schulgeschichte Galiciens unternommen worden, wo die Bedeutung dieser Quelle deutlich artikuliert wurde, eine seriell-mehrdimensionale Auswertung und politische Einbettung hingegen weitgehend ausblieb.43

Im Rahmen der vorliegenden Studie wird somit in beispielloser Weise eine Kategorie an Primärquellen aufbereitet und zur Untersuchung herangezogen, die aufgrund ihrer Inkorporierung verschiedener am schul(polit)ischen Prozess beteiligter Akteure (zentrale, provinzielle und lokale Autoritäten, Inspektoren, Lehrer- und Elternschaft) an der Scharnierstelle der Normbildung, -transmission und -kontrolle ein unschätzbares Erkenntnispotential mit Blick auf normative Operationalisierungsmodi, Verhandlungs- wie Oppositionsformen verspricht. Die in der vorliegenden Studie vorgenommene breite Einbindung von Materialien aus dem Inspektionsprozess verweist auf das reichhaltige Fundament an zeitgenössischen Dokumenten, Primärquellen und Archivalien,44 auf die diese ←37 | 38→Arbeit zurückgreifen kann: Diese fruchtbare Quellenbasis unterstützt sowohl die Analyse der politisch-ideologischen Identität des konservativen Liberalismus (politisch-philosophische Traktate, Verfassungstexte) und seiner (schul-)administrativen Steuerung (Gesetze und Regulierungen) als auch die Ebene pädagogischer Normbildung, Diffusion (pädagogische Schriften, (Lehrer-)Presse oder Handbücher) und Implementierung (Schulreglements, Lehrerbiographien). Schließlich werden mit Blick auf die schulpraktische Dimension – soweit man sich dieser „black box“ in historischer Perspektive annähern kann – Erzeugnisse der just in diesem Zeitraum immens an Bedeutung gewinnenden Statistik mitberücksichtigt werden.45

Auf der Basis dieses reichhaltigen Fundus an Primärquellen und unter Berücksichtigung der einschlägigen Forschung soll nun also im Folgenden die Grundsteinlegung des spanischen Erziehungswesens im sich etablierenden Liberalismus der isabellinischen Ära unter dem besonderen Analysefokus einer möglichen ideologischen schulpolitischen Strukturierung untersucht werden. Das Forschungsinteresse gliedert sich dabei in die Ebenen einer vorgelagerten ideologischen Durchdringung, deren schulstrukturellen Übersetzung anhand der sektoralen Thematik der Unterrichtsorganisation sowie deren Transmission und Kontrolle im Rahmen des Inspektionsprozesses. Die ←38 | 39→damit verbundene Arbeitshypothese geht bei der bewussten Erwartung von normhemmenden Renitenzkräften in der Praxis von einer vielschichtigen Durchdringungsstruktur aus: Erstens (1) wird eine ideologische Struktur des konservativen Liberalismus erwartet, die von einer eklektischen philosophischen Methode sowie einer auf den politischen Bereich übersetzten Legierung systemischer Elemente des Ancien und liberalen Regimes (juste milieu) gekennzeichnet sein dürfte, wobei Hinweise über die Modalitäten des Transfers internationaler Konzepte sowie einer möglichen Umdeutung im spanischen Kontext erhofft werden. Zweitens (2) wird eine erziehungspolitische Transmission dieser Werteorientierung bei der Konturierung des nationalen Schulsystems angenommen, wobei gerade die Konzipierung von Unterrichtsprogramm und Lehrerfigur interessant erscheinen. Hier werden weitere Aufschlüsse über die offenkundige Diskrepanz der defizitären Schulversorgung zur ideellen Zentralität des Politikfelds für die Liberalen erwünscht. Ferner (3) wird ein Durchsickern der philosophisch-ideologischen Grundstruktur bis auf die Ebene der Unterrichtsorganisation für möglich gehalten, wenn das zunehmend opportune Mischsystem und dessen Harmonisierung alter und neuer Systembestandteile der eklektisch-synthetisierenden Tiefenstruktur46 des politischen Systems zu entsprechen scheinen. Hier wird eine Annäherung hinsichtlich der Frage erhofft, inwieweit der semantische Parallelismus einem übergeordneten Zeitgeist entsprach, gar eine bewusste ideologische Strukturierung des moderantismo widerspiegelte oder lediglich den schulpraktischen Notwendigkeiten (deren ideologisch absorbierte Einfassung innerhalb des normativen Gerüsts wiederum denkbar erscheinen) geschuldet war. Schließlich wird (4) eine entscheidende Scharnierrolle der Schulinspektion in diesem Prozess der Normtransmission und -kontrolle erwartet. Durch die Annäherung an die damit verbundenen erkenntnisleitenden Interessen werden nicht nur Rückschlüsse über die Genese und Strukturierung des nationalen Massenschulwesens Spaniens erhofft. Darüber hinaus mag die Studie auch über den konkreten Kontext hinausdeutende Einblicke und Anschlussoptionen hinsichtlich der interessensgeleiteten Strukturierung sich herausbildender nationaler Erziehungssysteme im westlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der ←39 | 40→Rolle unterrichtsorganisatorischer Regulierung in diesem Steuerungsprojekt sowie der damit verbundenen Transmissions- und Kontrollmechanismen liefern und damit letztlich (bescheidene) sektorale Anhaltspunkte in der großen Geschichte der Genese moderner Schulorganisation bereitstellen.47


1 Antonio Gil de Zárate: De la Instruccion pública en España. Tomo I, Madrid 1855, S. 117. Fremdsprachige Zitate aus Literatur und Archivalien wurden im vorliegenden Werk vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. In der ursprünglichen Fassung der eingereichten Dissertationsschrift wurden die übersetzten Originalzitate in den Fußnoten wiedergegeben. Hierauf wurde in der vorliegenden Ausgabe aus publikationspraktischen Gründen verzichtet.

2 Vgl. etwa zur Schul(klass)e als „die zentrale Sozialisationsinstanz“: Talcott Parsons: Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft, in: Ders. (Hrsg.): Sozialstruktur und Persönlichkeit, 5. Aufl. Eschborn 1997, S. 161–193, S. 162. Vgl. zur Schule als „zentrale gesellschaftliche Einrichtung“ und Ort der „persönlichen Entwicklung (…), des Wissenstransfers“ sowie als „Sozialisationsinstanz“ inklusive eines Überblicks über theoretische Ansätze der Makro- (Schule und Gesellschaft) wie Mikro-Ebene (interne Strukturen): Sigrid Blömeke, Bardo Herzig: Schule als gestaltete und zu gestaltende Institution – ein systematischer Überblick über aktuelle und historische Schultheorien, in: Blömeke et al. (Hrsg.): Handbuch Schule, Stuttgart 2009, S. 15–28, S. 15 und 17ff.

3 Die Betrachtung des europäischen Entwicklungswegs soll dabei keinesfalls die außereuropäischen, ob parallel oder zeitversetzt stattfindenden, Konstituierungen negieren. Siehe für den frühen nordamerikanischen Kontext etwa: Michael B. Katz: The Origins of Public Education. A Reassessment, in: History of Education Quaterly, Nr. 4/ 1976, S. 381–407. Katz betont dabei insbesondere den sozialisierend-moralisierenden Pfeiler innerhalb der gezeichneten doppelten Funktionszuschreibung moderner Massenschulwesen (siehe etwa S. 403).

4 Die These der globalen Homogenisierung formeller Bildungsstrukturen (in Abgrenzung an funktionalistische Theorien) geht insbesondere auf Ansätze des Neoinstitutionalismus zurück. Vgl. u.a. John W. Meyer, Francisco O. Ramírez. Die globale Institutionalisierung der Bildung, in: Meyer: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt am Main 2005, S. 212–234. Vgl. zu den dynamisierenden Herausforderungen der (Gegen-)Reformation, Handelswirtschaft und der globalen Nationalstaatsformierung: Francisco O. Ramírez, John Boli: The Political Construction of Mass Schooling: European Origins and Worldwide Institutionalization, in: Sociology of Education, Nr. 1/ 1987, S. 2–17, S. 9f. Ramírez und Boli sehen zwar einen leitenden „ideologischen und gesellschaftlichen“ Imperativ (S. 8), konzentrieren sich aber im Gegensatz zu der in der vorliegenden Studie stärker berücksichtigten Archer (siehe Kapitel 1.2) mehr auf formelle Strukturähnlichkeiten, denn inhaltliche konkrete nationale Unterschiede (S. 2). Die analytische Konzentration auf formelle Strukturhomogenitäten bei gleichzeitig eingeschränkter empirischer Basis scheint für den Fokus vorliegender Arbeit weniger hilfreich, zumal Meyer und Ramírez im Bereich der Organisationssteuerung die größte Varianz von Schulsystemen erkennen (S. 233).

5 Einen Überblick über die europäischen Modelle des Liberalismus im 19. Jahrhundert bieten etwa die Beiträge des Sammelbands: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988.

6 Ossenbach Sauter analysiert diesen Zusammenhang etwa für den iberoamerikanischen Raum, wenn sie die Errichtung öffentlicher Bildungssysteme als „eines der prioritären Ziele“ der emergierenden liberalen Staaten bei der Vermittlung von Rechten und Pflichten, neuen Werten sowie einem Nationalbewusstsein hervorhebt: Vgl. Gabriela Ossenbach Sauter: Génesis histórica de los sistemas educativos, in: Cuadernos de la OEI, Nr. 3/ 2001, S. 13–60, S, 13.

7 Grégoire Girard: Die verschiedenen Formen beim Unterrichte, in: Bayerische Nachrichten über das deutsche Schul- und Erziehungswesen. Eine Zeitschrift für Lehrer, Eltern und Erzieher, Nr. 1/ 1832, S. 48–80, S. 56.

8 Mariano Carderera: La pedagogía en la exposición universal de Londres de 1862, Madrid 1863, S. viii. Diese Einschätzung ist für diese Arbeit umso relevanter, da Carderera über einen langen Zeitraum der einflussreichste Pädagoge der hier im Fokus stehenden Formation der konservativen Liberalen Spaniens war.

Details

Seiten
530
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631817155
ISBN (ePUB)
9783631817162
ISBN (MOBI)
9783631817179
ISBN (Hardcover)
9783631799819
DOI
10.3726/b16757
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Schulsysteme Elementarschule Unterrichtsorganisationssysteme 19. Jahrhundert Moderados Victor Cousin Europa Doktrinarismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 530 S., 27 farb. Abb., 13 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Till Eble (Autor:in)

Till Eble absolvierte ein Magisterstudium der Politischen Wissenschaft, Neueren deutschen Literatur und Neueren Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn. Er war in der Folge als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Historische Bildungsforschung des Instituts für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin tätig, wo er seine Dissertationsschrift anfertigte.

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Titel: Gelehrter Eklektizismus und Schulpolitik
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