Lade Inhalt...

Russische Bibliotheken in Deutschland

von Gottfried Kratz (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 218 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band vereinigt Beiträge verschiedener Autoren aus Deutschland, Russland und Schottland zu den öffentlichen, militärischen, kirchlichen und akademischen russischen Bibliotheken in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf unsere Tage. Am Beginn dieser Darstellungen steht eine systematische Einleitung des Herausgebers, auch mit Hinweis aufneue Funde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zum Geleit
  • Vorwort des Band-Herausgebers
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Die Dresdner Russische Tschuproff-Bibliothek und ihr Vorsitzender Jakob Mulmann (Gottfried Kratz (Münster))
  • Jakob Mulmann und seine Übersetzung des „Deutschlandliedes“ (Gottfried Kratz (Münster))
  • Jakob Mulmann und sein Dienst am Chor der Don-Kosaken des Serge Jaroff (Svetlana G. Zvereva (Glasgow/ Moskau))
  • Bibliothek, Buch und Lesen in den Lagern des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Österreich für Kriegsgefangene der Armee des russischen Zaren (Nadežda Egorova (Moskau))
  • Lagerbibliotheken für Russische Kriegsgefangene in Deutschland während des Ersten Weltkriegs (Gottfried Kratz (Münster))
  • Die wissenschaftliche Bibliothek des George C. Marshall European Center for Security Studies und ihr russisches Erbe (Elena Efimenko/ Brigitta Pirzer (Garmisch-Partenkirchen))
  • Die russische Bibliothek im Berliner Alexanderheim von Propst Maltzew (Gottfried Kratz (Münster))
  • Das Ende der russischen Bibliothek im Berliner Alexanderheim von Propst Maltzew (Alla D’jakonova (Moskau))
  • Zur Geschichte der Russischen Lesehalle in Heidelberg: Russischer Mikrokosmos im Ausland (Stephan Walter (Germersheim))
  • Die Russische Academische Lesehalle an der Großherzoglichen Badischen Universität Freiburg: Ein Herd politischer Agitation? (Franz-J. Leithold (Freiburg) und Pavel Nerler (Freiburg/Moskau))
  • Abbildungsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Register der Bibliotheken (nach Orten)
  • Register der Personen
  • Die Autoren und Herausgeber

Einleitung

Öffentliche Bibliotheken, die russischsprachige Literatur in anderssprachlichem Umfeld sammeln und der Allgemeinheit oder speziellen Nutzerkreisen bereitstellen, gibt es im Vielvölkerstaat Russland selbst, wie auch in nahezu allen Ländern der Welt.1

Zunächst gibt es sie in Russland in einzelnen Gouvernements des ehemaligen Russischen Reiches mit überwiegend fremdsprachiger Bevölkerung und in den nationalen Einheiten der späteren Sowjetunion (Republiken, Autonomen Bezirken etc.), wie z.B. deutsche Zentralbibliothek in der Republik der Wolgadeutschen Engels2. Ob allerdings für diese Bibliotheken, wie bereits geschehen, der Begriff einer „Ethno-Bibliothek“ („Ėtničeskaja biblioteka“) in Zukunft anwendbar ist, gilt es abzuwarten, will man nicht in Konflikt mit der Terminologie des in Arbeit befindlichen (20.04.2017) russischen Gesetzes „Über die russische Nation“ geraten.3 Vor allem aber gibt es diese Bibliotheken außerhalb Russlands. Zunächst in Amerika: vom äußersten Norden in Alaska4 bis zum ←11 | 12→Süden auf dem lateinamerikanischen Subkontinent5 und weiter noch bis nach Australien.6 Zudem gibt es sie in Europa, dies- und jenseits des Ärmelkanals: In England etwa, sichtbar durch die Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Russische Bibliothek im Londoner East End.7 In Frankreich wurde schon 1875, also noch zu Lebzeiten Turgenevs (1818–1883), die umgangssprachlich Turgenev-Bibliothek genannte Russische Bibliothek („Bibliothèque Russe Tourguenev“, oder später: „Turgenevskaja obščestvennaja biblioteka“) gegründet.8 Sie bestand bis zur deutschen Besatzung, als die Bibliothek beschlagnahmt wurde und ihre etwa 100.000 Bände nach Deutschland verschleppt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Bände in alle Winde verstreut, als Denkmäler einer Schandtat, die auf immer mit dem Namen des damals in Paris der Einsatzgruppe Rosenberg zuarbeitenden „Dr. Helmut Weiss“ verbunden bleibt.9 In Italien gab es eine Vielzahl russischer Bibliotheken,10 einige von ihnen sehr versteckt gelegen, wie etwa die Bibliothek in der orthodoxen Kirche in Florenz (Cerkov’ Roždestva Christova i Nikolaja Čudotvorca).11 In der Schweiz reicht das Spektrum von der Bibliothek aus Büchern der Davoser Sanatorien und Lungenheilanstalten,12 über die „Russische Bibliothek“ in Zürich mit über 6.000 Bänden (künstlerische, wissenschaftliche und allgemeinbildende Literatur) im Jahre 1980,13 bis zu den heute in der Universitäts- und Kantonalbibliothek Lausanne ←12 | 13→(„Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne“) aufbewahrten Beständen der „Nouvelle bibliothèque Russe“.14 Oder schließlich gibt es sie auch in Jugoslawien worauf bereits die frühe Dissertation von Ostoja Đjurić15 weist. Ein Großteil von ihnen wurde aus Jugoslawien in die Sowjetunion verlagert und später dort zugänglich gemacht.16

Es ist dieses die gesamte Erdfläche überziehende Mosaik, in dem auch die russischen Bibliotheken in Deutschland ihren Platz einnehmen. Sie entstanden etwa gleichzeitig mit dem Beginn des von Varnhagen in Deutschland und Herzen aus England beobachteten verlagsmäßig massenhaften Drucks russischsprachiger Bücher in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts (worauf bereits Othmar Feyl in mehreren Aufsätzen hinweist)17 und parallel zur Leibeigenenbefreiung in Russland im Jahre1862.

Öffentliche Bibliotheken

Die russischen Bibliotheken in Deutschland lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen. An erster Stelle genannt seien die öffentlichen Bibliotheken, zu deren Nutzung lediglich die Kenntnis der russischen Sprache notwendig ist (unabhängig wie auch immer gearteter organisatorischer Bindungen des Lesers). Hier lassen sich wiederum folgende Untergruppen unterscheiden:

←13 | 14→

Öffentlich zugängliche Leihbibliotheken in Angliederung an kommerzielle Buchhandlungen hatten bereits im vorrevolutionären Russland eine lange Tradition als „Bibliothek und Lesekabinett“ („Biblioteka (Kabinett) dlja čtenija“).18 Nach der Revolution fanden sie sich, wie selbstverständlich, auch im Umkreis russischer Buchhandlungen der Emigration. Allein im Berlin des Jahres 1920 lassen sich mehrere dieser „Kabinette“ nennen: „Arzamas“, „Kul’tura“, „Moskva“, „Rodina“. Besitzstempel dieser und anderer Berliner russischen Leihbibliotheken finden sich in erhaltenen Exemplaren bis heute.19 Nähere Einzelheiten über Bestand, Ausleihfrequenz, thematisches Profil etc. dieser „Kabinette“ in Deutschland sind jedoch nach unserer Kenntnis nicht erforscht.

Allgemein zugänglichen Charakter haben auch Bibliotheken philanthropischer Stiftungen. So etwa die in ihren Anfängen als Stiftung eingerichtete Tolstoi Bibliothek in München (Russkaja biblioteka Tolstovskogo fonda). Folgt man den Angaben auf der Webseite der Bibliothek20, wurde die Stiftung ursprünglich im Jahre 1949 mit aus den USA kommenden Mitteln der von L.N. Tolstojs jüngster Tochter Alexandra (inzwischen amerikanische Staatsbürgerin) gegründeten Tolstoy Foundation ins Leben gerufen. Später wurde sie übertragen in 1952 an das American Committee for Liberation, um dann 1963 vom Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk e.V. übernommen zu werden.21 Heute erfolgt die finanzielle ←14 | 15→Förderung der Bibliothek deutscherseits primär durch eine staatliche Finanzierung, eine s.g. „institutionelle Fehlbedarfsfinazierung“ der Beauftragten der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM, auch Bundesbeauftragten für Kultur und Medien bzw. Kulturstaatsministerin),22 deren Aufgabe es ist, „Kultureinrichtungen und -projekte von nationaler Bedeutung zu fördern“.23 Folgt man den Jahresstatistiken, so kommt diese Förderung, entsprechend Ausleihzahlen, folgenden Lesergruppen der Bibliothek zugute: laut Jahresbericht 2014 (S. 21) sind dies „russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge“, die mit 75% die größte Gruppe bilden, zusätzlich kommen 10% „interkulturelle Ehen“ und „der Rest verteilt sich auf EU-Angehörige, Aussiedler und ethnische Deutsche“.24 Der Gesamtbestand der Bibliothek betrug 2014 ca. 47.000 Bände, was sie nach Auskunft ihrer Webseite, zur „größten nichtstaatlichen russischsprachigen Bibliothek in Westeuropa“ macht. Eine Bibliothek mit weit angelegtem Programm, unter deren Dach sogar kommerzielle (kostenpflichtige) Veranstaltungen stattfinden, bis hin zu Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung in 2018 („Dein Weg zu dir selbst“).25

Ein vergleichbar breites Leserpublikum spricht die „Russische Bibliothek“ der Gesellschaft der „Freunde des russischen Buches“ NRW e.V. in Köln an. Eine 1996 gegründete Bibliothek mit über 16.000 Bänden, die auf eine private Schenkung zurückgeht und zu der sich nähere Angaben über ihre Website leicht abrufen lassen.26 Genauere Angaben stehen zu erhoffen, vor allem, ob und inwieweit ←15 | 16→der Name der die Bibliothek tragenden Gesellschaft in Köln („Obščestvo druzej russkoj knigi“) an Name und Programm der weithin bekannten gleichnamigen Gesellschaft „Obščestvo druzej russkoj knigi“ in Paris (1925–1938) anknüpft oder an den Namen der weniger bekannten und nahezu gleichlautenden „Russkoe obščestvo druzej knigi“ die von 1920–1930 in Moskau bestand.27

Ebenso zur Gruppe der allgemein zugänglichen Bibliotheken lässt sich die sowjetischerseits staatlich geförderte Bibliothek rechnen, die aufs Engste der faktisch bis Ende 1989 in der DDR bestehenden Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft (DSG) verbunden ist. Angesiedelt im Berliner Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur (Dom sovetskoj nauki i kul’tury, kurz: DSNK), wurde sie kurz vor Beginn der Perestrojka am 5. Juli 1984 eröffnet. Bis zu deren Ende bestehend (1984–1989, danach in anderem Rechtsverhältnis), war die Bibliothek nach Aussage deren Leiterin „frei zugänglich“ und bestrebt, „die Bedürfnisse aller Lesergruppen“ zu befriedigen.28 Vor allem aber diente sie dem Ziel, „die Bürger der DDR29 mit der Außen- und Innenpolitik der KPdSU und des Sowjetstaates bekannt zu machen“,30 um somit die „Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den Völkern der UdSSR und der DDR“ zu festigen, letztlich im Geiste der allgemein postulierten „brüderlichen“ Freundschaft.31 Eine Beziehung, wie sie Val. Fed. Bykovskij schon selbst, Jahre zuvor, in der Enge seiner Weltraumkapsel über Tage hinweg mit dem damaligen DDR-Kosmonauten Siegmund Jähn unter Beweis gestellt hatte.32 Die Bibliothek richtete sich somit vornehmlich an die Leser russischsprachiger Literatur in der DDR und speziell in Berlin (Ost). Leser aus Berlin (West) hatten Schwierigkeiten, ungehemmten Zugang zu erhalten, mussten sich, erfahrungsgemäß, im Einzelfall gar beim Grenzübertritt von Berlin (West) peinlichen Befragungen durch die ←16 | 17→Grenzsoldaten der DDR aussetzen. Dies betrifft vor allem die Zeit nach Beginn der Perestrojka und dem „Sputnik-Verbot“, als „das Haus selbst für die Ost-Berliner zum Symbol kommender Veränderungen [wurde, als] Hunderte von Deutschen […] Abend für Abend in die Säle [kamen], um etwas über die Reformen in der UdSSR zu hören […]“ (Sankov). War doch Ende 1988 die Zeitschrift (Digest) „Sputnik“ von der Postliste gestrichen worden: zum ersten Mal seit Hitler, hier jetzt durch Honecker, ein de-facto Vertriebsverbot einer aus der UdSSR kommenden Zeitschrift. In der Bevölkerung, besonders bei Mitgliedern und Ortsverbänden der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft führte dies zu heftigen Protesten, aufmerksam von der Obrigkeit registriert, wie die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zeigen.33 Ein Bericht über die Geschichte des Hauses, mit besonderem Akzent auf der Rolle des DSNK und ihrer Bibliothek in diesem „letzten Jahr der Mauer“ ist zweisprachig (in Deutsch und Russisch) im Netz zugänglich.34 Als Autor zeichnet V.E. Sankov, den das Internet heute (13.10.2017) als Lehrkraft an verschiedenen Moskauer Hochschulen und als Journalisten kennt,35 und der zum damaligen Zeitpunkt im Russischen Haus, in welcher Funktion auch immer, „tätig [war]“ (wenn auch vom Direktor des Hauses bei Nennung der leitenden Mitarbeiter nicht erwähnt).36 Die gleiche bei ihm zu beobachtende Geheimniskrämerei findet sich erst recht bei Erwähnung von Mitarbeitern von Filialen der DSG. So in Bezug auf den damaligen Leiter der Dresdner Filiale des Hauses der deutsch-sowjetischen Gesellschaft. Ende 1987 noch mit der „Ehrennadel der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ in Gold ausgezeichnet,37 hat er Ende 1989, folgt man Presseberichten im Netz, nichts Besseres zu tun, als nach Verbrüderung und wahrer Bruderschaft strebende DDR-Bürger am Betreten des Gebäudes der Deutsch-sowjetischen Freundschaftsgesellschaft unter Androhung von Waffengewalt zu hindern.38 Ein auffallendes Verhalten im Vereinigungstaumel dieser Tage, das ihn schon eher als Träger der ihm 1988 ←17 | 18→verliehenen „Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee“ der DDR in Bronze ausweist.39

Geleitet wurde die Berliner Bibliothek des DSK seit ihrer Eröffnung von Vera Grigor’evna Pačkova. Sie hatte in den Jahren zuvor bereits die Bibliothek im Budapester „Haus der Offiziere“ der dort stationierten Gruppe sowjetischer Streitkräfte geleitet, um dann nach ihrer Rückkehr wieder in die Moskauer Bibliothekshochschule MGUKI zurückzukehren. Dort stand sie als Stellvertretender Dekan dem Lehrstuhl für Bibliothekswissenschaft vor. In 1984 wurde sie auf Bitte des Moskauer Präsidiums des „Verbandes sowjetischer Gesellschaften für Freundschaft und kulturelle Verbindung mit dem Ausland“ („Sojuz sovetskich obščestv družby i kul’turnoj svjazi s zarubežnymi stranami“) in dem das DSKN angesiedelt, nach Berlin abgeordnet, um die Stelle als Direktor der Bibliothek des DSKN anzutreten. Einer Bibliothek mit fünf festangestellten Mitarbeitern und einem Bestand von 4.000 Bänden, der zum Ende ihrer Amtszeit auf 20.000 Bde. anwachsen sollte.40 Ihre Tätigkeit im Einzelnen ist in einer Fülle deutschsprachiger Zeitungsmitteilungen nachvollziehbar, heute abrufbar im Netz (über das Digitalisierungsprogramm „Zefys“ der SBB) und bibliographisch erfasst in der ihr als „Bio-bibliographisches Verzeichnis“ zum 40jährigen Berufsjubiläum gewidmeten Festschrift.41 Die Thematik der von ihr organisierten Veranstaltungen reichte von Kinderliteratur bis zu Sowjetliteratur. Auffallend eine unter Teilnahme von Harri Jünger und ihr gemeinsam mit dem Haus der sowjetischen Kultur veranstaltete Konferenz über „Die Rezeption der sowjetischen Literatur in der Deutschen demokratischen Republik“. Mitveranstalter Harri Jünger, damals Berliner Universitätslehrer, war bereits in 1971 von Behörden der DDR für eine weniger öffentliche Tätigkeit angeworben worden: als „gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit“, mit der „Einsatzrichtung“ für „internationale und nationale Wissenschaftsbeziehungen“. In seiner anschließend geschriebenen und fachlich der Veranstaltung im DSKN verwandten „Geschichte der russischen Sowjetliteratur“ (1973, 1977), in der heutigen wissenschaftlichen Literatur ←18 | 19→nur noch als „unbrauchbar“ gewertet, hatte er sich bemüht, vor allem die „ideologischen Repräsentanten der Sowjetliteratur“ zu berücksichtigen.42

Diese eher ideologische, denn professionelle Bindung zwischen universitärer Slawistik und DSKN (s.a. den Hinweis auf die Mitgliedschaft der Direktorin der Bibliothek im „Parteibüro“ des Hauses der sowjetischen Kultur (FS, S. 36)), findet ihr Ende mit dem Fall der Mauer (9. November 1989) und dem kurz zuvor erfolgten Ende ihrer Dienstzeit. In 1989 löst sich die DSG faktisch auf, das Haus für sowjetische Wissenschaft und Kultur wird umbenannt und das Archiv der Gesellschaft heute im Bundesarchiv aufbewahrt.43 Nach V.G. Pačkova wurde noch im Juni 1989 Valerija Porfir’evna Poznjak (1938–2010) zunächst zum „Instruktor für Bibliothekswesen“ ernannt, und dann im Juni 1993 zum Direktor der unter neuer Leitung und unter neuem rechtlichem Status weiter bestehenden Bibliothek des jetzt „Russischen Hauses“, eine Stelle, die sie bis 1996 innehatte.44

Ursprünglich aus der Moskauer Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur (VGBIL) kommend, deren damaliger Leiterin sie auch noch in der Berliner Zeit verbunden blieb,45 ging sie nach ihrer Berliner Zeit zur Moskauer Turgenev-Bibliothek („Biblioteka-čital’nja im. I.S. Turgeneva“) und dann in das „Haus des russischen Auslandes“ („Dom russkogo zarubež’ja im. A.I. Solženicyna“, kurz: DRZ). Vor der Zeit gestorben, war sie am Schluss ihres Lebens mit Übersetzungsarbeiten aus dem Deutschen hervorgetreten.

Lag noch in der Arbeit der ersten Direktorin der Bibliothek des Hauses der sowjetischen Wissenschaft und Kultur Pačkova ein starkes Gewicht auf der Propagierung sowjetischer Kinderliteratur im Deutschen, sah Valerija Poznjak nun ihre Aufgabe in der Propagierung deutschsprachiger Literatur für Kinder im Russischen. So durch ihre Übersetzungen von Elke Heidenreich, die dem breiten Publikum in Russland eher unbekannt, in Deutschland mehr durch Rundfunk- und TV-Auftritte populär. Kann sich die Leiterin der damals in Berlin (West) bestehenden „Bibliothekarischen Auslandsstelle“ Elisabeth Simon, der gerade die fachlichen Kontakte zu sowjetischen Bibliotheken ein besonderes ←19 | 20→Bemühen waren, trotz Rückfrage an keinerlei Kontakte mit der ersten Direktorin des DSNK Pačkova erinnern, so blieben die darauf erfolgten Kontakte mit deren Nachfolgerin Poznjak umso fester in ihrem Gedächtnis.

All diesen Bibliotheken, in der Bundesrepublik und der DDR, ist gemeinsam, dass sie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg entstanden. Anders die nun vorzustellende Tschuproff-Bibliothek in Dresden („Russkaja biblioteka – čital’nja imeni prof. A.I.Čuprova“ oder „Russische Bibliothek und Lesehalle zum ehrenden Gedächtnis an Prof. A.J. Tschuproff“).

Die Besonderheit dieser Bibliothek besteht darin, dass sie als Bibliothek schon von der vorrevolutionären, und dann der nachrevolutionären Emigration genutzt wurde. Von 1908 bis zum Beginn des Weltkrieges bestehend, und wiedereröffnet 1922 unter gleichen Namen, setzte sie ihre Tätigkeit bis 1937 fort. Als Verantwortlicher und Vorsitzender des Präsidiums der Bibliothek zeichnete, nur kurzfristig vor dem Weltkrieg unterbrochen, Jakob Mulmann. Mulmann, wahrscheinlich schon vor 1898 in Dresden wohnhaft,46 war als Lehrer der russischen Sprache, Übersetzer aus dem Russischen wie dem Deutschen (s. folgenden Aufsatz von G. Kratz zur Übersetzung des Deutschlandliedes), sowie als Impressario für den vorrevolutionären Synodal- wie den nachrevolutionären Donkosakenchor der Emigration (s. folgenden Aufsatz von Sv. Zvereva) im weitesten Sinne als Kulturvermittler tätig. Dabei, wie auch in seinen persönlichen Beziehungen, war er auf vielerlei Weise den Vertretern volksbildnerischer und kulturvermittelnder Bestrebungen verbunden. Vertretern, die, häufig aus der Bewegung der Volkstümler (narodniki) und der landschaftlichen Selbstverwaltung (zemstvo) kommend, sich vor der Revolution politisch in der Partei der ideologisch sehr weit ausgreifenden Konstitutionellen Demokraten (KD, Kadetten) gefunden hatten. Auch nach dem Verbot der Partei in Russland (1917) und dem Verlust einer „festen und verbindlichen Parteistruktur“ (Weiss, S. 525) setzten sich diese Beziehungen fort „als personelles Netzwerk […], dessen Mitglieder eine ähnliche politische und ideologische Ausrichtung haben“ (Weiss, S. 511), eher in Gestalt einer „Sociabilité“ (Weiss, 511).47 Im Einzelnen dargelegt werden diese Beziehungen in den Folgebeiträgen.

In den Jahren des Ersten Weltkrieges wurde die Tätigkeit der Tschuproff-Bibliothek unterbrochen. Mit Beginn des Krieges wurde der bisherige Nutzer ←20 | 21→dieser Bibliothek in großer Zahl ausgewiesen, interniert oder zur Emigration in Nachbarländer (Schweiz) veranlasst und die Tschuproff-Bibliothek stellte, wie auch andere russische Bibliotheken (kirchlich-religiöse, akademische) in Deutschland, ihre Arbeit ein. Anstelle des bisherigen Lesers und der bisherigen Bibliotheken traten nun als potentielle Leser russischsprachiger Literatur die zwangsweise in deutschen Lagern festgehaltenen kriegsgefangenen russischen Militärangehörigen mit ihren Bibliotheken.

Militärbibliotheken

Gegründet wurden die Lagerbibliotheken für russische Kriegsgefangene in Deutschland entweder von deutschen Stellen (etwa im Gefolge des Planes des Posener Regierungspräsidenten Graf Friedrich von Schwerin aus Anfang 1915)48 oder später (vor allem nach der Februarrevolution 1917 in Russland) von ←21 | 22→Kommissionen der Lagerinsassen selbst. Sei es als selbständige Lagerbibliothek oder im Rahmen einer Bildungssektion („Prosvetitel’naja sekcija“).

Zugänglich waren sie ausschließlich für die in den Mannschafts- und Offizierslagern festgehaltenen Militärangehörigen. Einzelbände aus den Beständen dieser Bibliotheken finden sich bis heute im Bestand universaler staatlicher Bibliotheken Deutschlands und Russlands oder auch spezieller Bibliotheken (DRZ) in Russland. Der Gesamtzusammenhang, in dem die Arbeit dieser Bibliotheken zu sehen ist, ist im folgenden Beitrag von N.A. Egorova über Bibliothek, Buch und Lesen in den Lagern des Ersten Weltkriegs geschildert. Ausgehend von Einzelexemplaren im Bestand ihrer Bibliothek in Russland (DRZ). Einzelheiten zu den Lagerbibliotheken gibt der Beitrag von G. Kratz.

Die Tradition dieser Bibliotheken lässt sich weiterverfolgen bis zu Plänen Anfang 1944 deutscherseits, spezielle Bibliotheken für Ostarbeiter zu errichten.49 Gleichzeitig zur Versorgung der in Deutschland festgehaltenen Leser russischsprachiger Literatur durch deutsche Stellen bis hin in den Zweiten Weltkrieg hinein, ist sowjetischerseits auch von Beginn des Zweiten Weltkrieges an von Bibliotheken für die Leser der auf deutschem Boden vorrückenden Roten Armee auszugehen. Insbesondere für die Soldaten, die die eingefallenen deutschen Truppen zunächst auf sowjetischem, dann aber auch auf deutschem Territorium zurückdrängen. War doch schon unmittelbar nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion auf Anordnung der Politischen Verwaltung der Roten Armee die Zusammenstellung von „Frontbibliotheken“ von „künstlerischer, militärischer und politischer Literatur“ für die kämpfende Truppe der Roten Armee verordnet worden.50 Mit Beständen, die von der Rede Stalins zum 24. Jahrestag der Oktoberrevolution („XXIV godovščina Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj revoljucii“) als Staffelexemplar, über die „Regeln für den Scharfschützen“, bis zu Werken (ohne Angabe des Titels) des Klassikers Ivan Turgenev reichten.51

←22 | 23→

Ausgebaut wurden diese kleinen Feldbibliotheken, die in Koffern von nicht mehr als 25 Bänden aufbewahrt wurden, auch in den Jahren nach der Beendigung des Krieges, erscheint doch 1945 ein neuer Leser jenseits des Brandenburger Tores und dann auf dem gesamten Gebiet der SMA und dann der DDR. Gleichsam den schon fast 200 Jahre zuvor geäußerten Wunsch Lomonosovs aus seinem Petr velikij (1756–1761) bekräftigend: „Čtob gordost’ju svoej nakazannyj Berlin / Dlja bespokojstva carstv ne umyšljal pričin“ (II, 39–40).

Gezielt eingerichtet wurden spezielle Bibliotheken für die Angehörigen der dort stationierten militärischen Truppenteile, die meist im jeweiligen „Kulturhaus“, im „Haus des Offiziers“ und vergleichbaren Einrichtungen in den abgeschlossenen Militärsiedlungen („Militärstädtchen“ oder „voennyj gorodok“ genannt) der Standorte der Sowjetischen Streitkräfte untergebracht waren.

Spezielle Untersuchungen zu den Militärbibliotheken in Russland entstanden in Moskau52 und in Novosibirsk (Kalmykov 2006).53 Besonders die bei Kalmykov zitierten gesetzlichen Grundlagen zum militärischen Bibliothekswesen (aus den Jahren 1972, 1986 und 1995)54 beziehen sich auf die innerhalb der Sowjetunion, als auch in den Gruppen der im Ausland stationierten Streitkräfte (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Mongolei u.a.) eingerichteten Bibliotheken. Somit auch auf dem Gebiet der Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland („Gruppa sovetskich vojsk v Germanii“, kurz: GSVG). Informationen zu Struktur, Klassifikation und Aufgaben der Militärbibliotheken bietet vor allem die synoptische Darstellung von Kalmykov: Die Finanzierung erfolgte aus Mitteln des Verteidigungshaushaltes. Thematisch wurde beibehalten seit 1941: Anschaffung von künstlerischer, politischer und militärischer Literatur. Hinzukam jedoch später noch Sachliteratur55 und Jugendliteratur, vor allem aus dem Programm ←23 | 24→des Verlags Detskaja Literatura.56 Letztere war, so mündliche Erfahrungsberichte, besonders beliebt bei den damals jugendlichen Familienangehörigen der Militärs, wenngleich besonderes Augenmerk auf die „kulturell-aufklärerische“ Arbeit unter den Militärangehörigen gerichtet wurde.57

Details

Seiten
218
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631821053
ISBN (ePUB)
9783631821060
ISBN (MOBI)
9783631821077
ISBN (Paperback)
9783631798911
DOI
10.3726/b16919
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Tschuproff-Bibliothek Dresden Mulmann Don-Kosaken Lagerbibliothek Kriegsgefangenenlager USARI Bibliothek Maltzew Bibliothek Pirogoff-Lesehalle Heidelberg Akademische Lesehalle Freiburg
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 218 S., 18 s/w Abb.

Biographische Angaben

Gottfried Kratz (Band-Herausgeber:in)

Gottfried Kratz (Dr. phil., MA) hat nach Abschluss eines slavistischen und germanistischen Studiums eine zweijährige Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar durchlaufen. Anschließend arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Fachreferent in der UB (ULB) Münster, unterbrochen von einer mehrjährigen Unterrichtstätigkeit als Langzeitdozent des DAAD an den Moskauer bibliothekarischen LehranstaltenMGUKI und APRIKT. Unter seinen Arbeiten finden sich Veröffentlichungen zu Autoren, Verlagen und Bibliotheken der Literatur des russischen Auslands.

Zurück

Titel: Russische Bibliotheken in Deutschland
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
218 Seiten