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Eine Promenadologie des Anti-Helden in der Literatur

Erzähltexte von Joseph von Eichendorff, Robert Walser, Thomas Bernhard, Peter Handke und Wilhelm Genazino

von Kyungmin Kim (Autor:in)
©2020 Dissertation 248 Seiten

Zusammenfassung

Anti-Helden stellen modellhaft die Auseinandersetzung mit der eigenen, oft problematischen Lebenssituation im sozialen Aspekt des Außenseitertums dar. Mit individuellen menschlichen Schwächen bieten solche Figuren Einblicke in Gedanken, Handlungsmotive und Phantasien. Hieran können Erzählungen dann interessante Wahrnehmungsmodelle exemplifizieren. Für die Protagonisten der ausgewählten Erzähltexte bedeutet das Gehen eine Art Therapie, weil es das Denken als Auseinandersetzung mit dem Selbst stimuliert. Beim Gehen reflektieren sie mit ihren Lebenssituationen ihre bedrohten Identitäten, aber auch Möglichkeiten, neue Poetologien zu entdecken.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Anti-Helden in der Literatur
  • 2.1 Die Entstehung des Anti-Helden in der Literatur
  • 2.1.1 Der Bildungsroman
  • 2.1.2 Der Anti-Bildungsroman
  • 2.1.3 Jakob von Gunten als Musterbeispiel des Anti-Bildungsromans und Anti-Helden
  • 2.1.3.1 Das Musterbeispiel des Anti-Helden
  • 2.1.3.2 Walsers Entwurf der ‚kleinen, hoffnungslosen Null‘
  • 2.1.4 Bildungs- und Anti-Bildungsroman aus heutiger Sicht
  • 2.2 Begriffsdefinition und -abgrenzung des Anti-Helden
  • 3 Promenadologie der Literatur: Unterschiedliche Formen des Gehens in der Literatur
  • 3.1 Motiv und Ziel des Wanderns in der Literatur
  • 3.2 Motiv und Ziel des Flanierens in der Literatur
  • 3.3 Motiv und Ziel des Spazierengehens in der Literatur
  • 3.4 Zwischenfazit: Unterschiede zwischen Wandern, Flanieren und Spazierengehen
  • 4 Gehende Anti-Helden in verschiedenen Prosastücken
  • 4.1 Eichendorffs Anti-Held in Aus dem Leben eines Taugenichts (1826)
  • 4.1.1 Charakteristika des wandernden Taugenichts
  • 4.1.1.1 Der nichtsnutzige, fernsüchtige Wanderer
  • 4.1.1.2 Der arbeitsverweigernde Vagabund
  • 4.1.2 Analyse der Erzählstrategie in Aus dem Leben eines Taugenichts
  • 4.1.2.1 Schreibform: Elemente einer vagabundierenden Wanderung
  • 4.1.2.2 Lieder als schöpferische Kunst und Reflexion tiefer Gefühle
  • 4.1.3 Der Bildungswert des wandernden Taugenichts
  • 4.2 Walsers Anti-Held in Der Spaziergang (1917)
  • 4.2.1 Charakteristika des spazierenden Dichters
  • 4.2.1.1 Der erfolglose, arme Dichter
  • 4.2.1.2 Der müßiggängerische, schöpferische Spaziergänger
  • 4.2.2 Analyse der Erzählstrategie in Der Spaziergang
  • 4.2.2.1 Schreibform: Der Spaziergang als Verknüpfung fragmentarischer Episoden
  • 4.2.2.2 Die Bedeutung der Personen und Schauplätze
  • 4.2.2.3 Die Eigen-Reflexion durch Ironie
  • 4.2.3 Der Bildungswert des spazierenden Dichters
  • 4.3 Bernhards Anti-Helden in Gehen (1971)
  • 4.3.1 Charakteristika des unruhigen Gehers / Erzählers
  • 4.3.1.1 Die unruhigen, bedrohten Existenzen
  • 4.3.1.2 Die nicht handelnden Geher
  • 4.3.2 Analyse der Erzählstrategie in Gehen
  • 4.3.2.1 Schreibform: Kreisförmiges Gehen
  • 4.3.2.2 Gestaffelte Perspektivierung und innere Landschaft
  • 4.3.3 Der Bildungswert des unruhigen Gehers / Erzählers
  • 4.4 Handkes Anti-Held in Nachmittag eines Schriftstellers (1987)
  • 4.4.1 Charakteristika des spazierenden Schriftstellers
  • 4.4.1.1 Die schriftstellernde, spazierende Rand-Existenz
  • 4.4.1.2 Der selbstzweifelnde Schriftsteller
  • 4.4.2 Analyse der Erzählstrategie in Nachmittag eines Schriftstellers
  • 4.4.2.1 Schreibform: Verlangsamte Ortswechsel
  • 4.4.2.2 Die Wahrnehmung und Reflexion
  • 4.4.3 Der Bildungswert des spazierenden Schriftstellers
  • 4.4.4 Exkurs: Das Motiv des Wanderns in Die Lehre der Sainte-Victoire
  • 4.5 Genazinos Anti-Held in Ein Regenschirm für diesen Tag (2001)
  • 4.5.1 Charakteristika des flanierenden Schuhtesters
  • 4.5.1.1 Der erfolglose, handlungslose Einzelgänger
  • 4.5.1.2 Der fantasierende, kindliche Flaneur
  • 4.5.2 Analyse der Erzählstrategie in Ein Regenschirm für diesen Tag
  • 4.5.2.1 Schreibform: Flanieren mit gedehntem Blick
  • 4.5.2.2 Dingobjekte zur Expression der inneren Empfindungen
  • 4.5.3 Der Bildungswert des flanierenden Schuhtesters
  • 5 Fazit
  • Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Auch wenn Anti-Helden als Gegenentwürfe zum Helden konzipiert sind, insofern sie das Handlungsmotiv oder die Tat ins moralisch Verwerfliche, Kritisierbare, Lächerliche und Absurde verkehren, ist die Oppositionsstellung von Held und Anti-Held in der Literatur nicht immer strikt durchgehalten. Eher ist das Präfix ‚Anti-‘ plakativ zu verstehen:1 Als Gegenreaktion zum eindimensional idealisierten, heldenhaften Vorbild trägt der Anti-Held dann meist der fortschreitenden Individualisierung der modernen Gesellschaft Rechnung2 und verkörpert die Vielschichtigkeit der Realität.3 Der Anti-Held figuriert somit modellhaft die Auseinandersetzung mit der eigenen komplexen, oft problematischen Lebenssituation. Mit seiner Fehlbarkeit besitzt er die Attraktivität des Normalen, womit sich die Leser oder Betrachter leichter identifizieren können als mit dem Heldenhaften, und damit ist der Anti-Held eher als folgerichtige Weiterentwicklung des klassischen Helden zu sehen.4 Das Bedürfnis nach solch realistischen Identifikationsbildern wuchs zwar fortlaufend mit der Individualisierung der Gesellschaft; seit den 1960er Jahren erfuhren Anti-Helden aber einen deutlichen Aufschwung, der sich bis heute stetig hält. Dadurch ist ihre große typologische Vielfalt zu erklären, zu der es jedoch bisher kaum eingehende Untersuchungen gibt.5

Zu den signifikanten Eigenschaften des Anti-Helden zählen vor allem seine Erfolglosigkeit, die zu einem Bruch mit der Gesellschaft führt, sowie ←11 | 12→sein Unvermögen, diese Situation zu verbessern, wodurch er sich als erstrebenswertes Vorbild disqualifiziert. Eine umfassende Analyse soll jedoch zeigen, dass Anti-Helden über die einfache Identifikation hinaus einen wertvolleren Sinn besitzen, denn trotz – oder gerade aufgrund – ihrer individuellen menschlichen Schwächen bieten solche Figuren einen tiefen intimen Einblick in ihre Gedanken und Handlungsmotive, die mitunter durchaus vorbildlich sein können oder interessante Wahrnehmungsmodelle exemplifizieren. Zudem kann eine pädagogische Wirkung erzielt werden, wenn die Erzählung für den Leser erkennen lässt, welche Ansichten diese anti-heroischen Individuen haben, weshalb sie sich nicht mit der Welt abfinden können und warum sie bedrohte Existenzen bleiben.

In dieser Arbeit werden verschiedene Anti-Helden untersucht, die entweder bereits gescheitert oder vom Scheitern bedroht sind. Deshalb stehen sie der Welt fremd gegenüber statt mit ihr in harmonischem Einklang zu leben. Ihre Sehnsucht, diese Harmonie herzustellen, führt zu einem dauerhaft latenten Leiden und der Gefahr des noch tieferen sozialen Falls, des Selbstmordes oder des Abgleitens in den Wahnsinn. Angesichts dieser akuten Bedrohung behelfen sich die hier gegenständlichen Anti-Helden mit häufigem oder ausgedehntem Gehen, also einer höchst alltäglichen Handlung. Das Gehen mitten am Tage wird in der Öffentlichkeit als Müßiggang und dies wiederum als Ausdruck einer Verweigerungshaltung gegen die Arbeits- und Gesellschaftsmoral wahrgenommen. Für die Protagonisten der ausgewählten Texte stellt das Gehen allerdings eine Art ‚Therapie‘ ihrer empfundenen Melancholie als Außenseiter in der modernen, erfolgsorientierten Gesellschaft dar. Es bietet ihnen nicht nur eine (kurze) Fluchtmöglichkeit aus ihrer schwierigen Lebenssituation, sondern gleichzeitig einen Rahmen, um über ihre Probleme und ihre schöpferischen Arbeiten nachzudenken. Ausgelöst durch zufällige, banale Begebenheiten werden ihre anti-heroischen Charakterzüge offenbart. Auf welche unterschiedlichen Weisen das Erzählmotiv des Gehens in seinen verschiedenen Formen des Flanierens, Spazierens und Wanderns für diesen Zweck in der Literatur gestaltet wird, soll in dieser Arbeit an ausgewählten Beispielen aus unterschiedlichen Epochen untersucht werden. Zwar haben einige Arbeiten das Gehen als literarisches Motiv und als Erzählmodell untersucht, doch wird der Zusammenhang dieses Handlungsrahmens mit der Gestaltung von Anti-Helden kaum einmal thematisiert. Es soll ferner beobachtet werden, wie ←12 | 13→der motorische Gehprozess nicht nur das Denken beeinflusst, sondern auch beim Schreibverfahren Akzente setzt. Es werden damit phänomenologische Aspekte des Randgängertums erkennbar, die sich in Erzählungen niederschlagen, weil dort neue formale und stilistische Entscheidungen mitsamt poetologischen Reflexionen anstehen.

Für die Untersuchung wurden die Prosatexte Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) von Joseph von Eichendorff, Der Spaziergang (1917) von Robert Walser, Gehen (1971) von Thomas Bernhard, Nachmittag eines Schriftstellers (1987) von Peter Handke und Ein Regenschirm für diesen Tag (2001) von Wilhelm Genazino ausgewählt. Es verbindet die Protagonisten dieser Texte miteinander, dass sie zwar intensiv über ihre bedauerliche Lebenssituation nachdenken, aber darin ausharren und weiter in den Tag hinein spazieren – in ökonomischen Termini sich also ausdrücklich unproduktiv verhalten, in der Wahrnehmungstätigkeit dafür umso vielfältiger werden.

Zunächst wird unter Zuhilfenahme der einschlägigen Forschungsliteratur untersucht, welche Eigenschaften diese Protagonisten zu Anti-Helden machen. Darüber hinaus werden durch die Analyse der verwendeten Stilmittel weitere Eigenschaften ermittelt, die auf einen antiheroischen Charakter dieser Figuren hinweisen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass diese Figuren keine absoluten Gegenbilder des ‚Helden‘ darstellen, sondern wie dieser eine Vorbildfunktion einnehmen können bzw. einen Bildungswert besitzen und dass die Semantik des ‚Anti-Helden‘ somit weitaus vielschichtiger angelegt ist denn als einfache Negation des Helden. Der besondere Fokus der Analysen aller fünf Texte liegt auf der Funktion des Erzählmotivs ‚Gehen‘ für die Gestaltung dieser Figuren. Durch eine inhaltliche Analyse der Texte werden die literarisch arrangierten Begebenheiten, Beobachtungen, Begegnungen und Unterhaltungen während der Spaziergänge, die Anlass für Gedanken und Handlungen der Protagonisten sind, untersucht, um Aufschluss über ihre Eigenschaften zu erhalten. Darüber hinaus werden auch das Erzählmodell sowie Schreibform und -stil untersucht, um weitere Erkenntnisse über die Gestaltungsmöglichkeiten durch die Wahl dieses Erzählmotivs zu gewinnen. Dafür wird auch die bestehende Forschungsliteratur zu unterschiedlichen Formen des Gehens als Erzählmotiv herangezogen, um weiterführend anhand der Primärtexte das vielfältige Potenzial dieses Erzählmotivs für die Gestaltung von Anti-Helden aufzuzeigen.

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1 Vgl. Ann-Christin Bolay, Andreas Schlüter: Faszinosum Antiheld. In: dies. (Hrsg.): helden, heroes, héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen, Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“. Band 3. 1 (Freiburg 2015), S. 6;. Nora Weinelt: Zum dialektischen Verhältnis der Begriffe ‚Held‘ und ‚Anti-Held‘. Eine Annäherung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. In: Ann-Christin Bolay und Andreas Schlüter (ebd.), S. 15 f; Ulrich Bröckling: Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch. In: Ann-Christin Bolay und Andreas Schlüter (ebd.), S. 9.

2 Vgl. Markus Schwahl: Die Ästhetik des Stillstands. Anti-Entwicklungstexte im Literaturunterricht (Frankfurt a. M. 2010), S. 8 f.

3 Vgl. Bettina Plett: Problematische Naturen? Helden und Heroismus im realistischen Erzählen (Paderborn, München, Wien / Zürich 2002), S. 97.

4 Vgl. ebd.

5 Vgl. Ann-Christin Bolay, Andreas Schlüter: Faszinosum Antiheld, S. 5.

2 Anti-Helden in der Literatur

Aufgabe des Romans ist es, so schreibt Blanckenburg 1774, den „möglichen Menschen der wirklichen Welt“6 abzubilden und sich „mit den Handlungen und Empfindungen des Menschen“7 zu beschäftigen. Umfassender als vollkommene Helden werden damit Nicht-Helden und Anti-Helden8 dieser Forderung gerecht. Insbesondere aus rezeptionspsychologischen Gründen seien vollkommene Helden aus Romanen auszuschließen, denn der Leser würde angesichts der unerreichbaren Vollkommenheit des Romanhelden an der Darstellung dieser Figur zweifeln sowie an seiner eigenen Unvollkommenheit verzweifeln.9 In die gleiche Richtung geht der Zeitgenosse Engel mit seiner grundsätzlichen Forderung: „nie geht der wahre Poet […] ins Unglaubliche und Unnatürliche über; er beobachtet in seinen Charakteren das Maaß der Menschheit, ohne sie zu Kolossen zu bilden.“10 Dieses Postulat erkennt Kreyssig in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die er als „Literatur der Klage, der Verzagtheit, der Hoffnungslosigkeit“ bewertet, als in eine pessimistische Strömung gewendet.11 Dort wird die faktische und ästhetische Unmöglichkeit des Heroischen dem in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit propagierten Heroismus gegenübergestellt.12 Der absolute Held zählt nicht länger zu den sonderlich reizvollen Charakteren der Literatur und wird zunehmend von relativen ←15 | 16→oder gar ‚dunklen‘ Helden – auf andere Weise außergewöhnliche Figuren – verdrängt. Damit rückt das Bewusstsein solcher Figuren von sich selbst in den Fokus, der Blick wird nach innen gerichtet und die Beziehung zur Welt reflektiert, sodass Zweifel an sich selbst und am Verhältnis zur Welt intensiver vermittelt werden. Die Unvereinbarkeit der jeweiligen Zielvorstellungen führt zu Konflikten und häufig auch zu Resignation. Dadurch werden die mangelnde Bereitschaft sowie schließlich die Unfähigkeit und der Unwille des Individuums zum Heroismus nachvollziehbar dargestellt.13 Dem zeitgenössischen Leser werden also vermehrt anti-heroische Romanhelden vorgestellt, die kaum noch als Tätige und Handelnde charakterisiert sind, sondern sich eher durch ein machtloses Wollen sowie durch ein unentschlossenes und tatenscheues Reflektieren auszeichnen.14

2.1 Die Entstehung des Anti-Helden in der Literatur

Die Genese des Anti-Helden hängt sehr stark mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem wachsenden Bedürfnis nach Individualität zusammen. Mit dem einheitlichen Vorbild des tüchtigen, nach Größe strebenden Gelehrten konnte und wollte sich nicht jeder identifizieren. Stattdessen verlangt das Individuum seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach der Gestaltung eines individuellen Lebensplans15, also nach der Handlungsfreiheit „ohne Rücksicht auf die Folgen und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen – solange wir ihnen nichts zuleide tun – selbst dann, wenn sie unser Benehmen für verrückt, verderbt oder falsch halten.“16 Das andere Denken und Handeln ist also die Freiheit der vielleicht kurios unkonventionellen, aber konsequenten Selbstverwirklichung. Trotz eines Konsenses über Ziele und Wertvorstellungen in einer Gesellschaft wird gefordert, dass „verschiedene Personen auch ein verschiedenes Leben führen können“17 und sich deshalb nicht unbedingt an „Größe oder gar Heldentum als Vorbild für ←16 | 17→die eigene Lebensgestaltung“18 orientieren müssen. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von dem gesellschaftlich Allgemeinen hin zum Individuellen. Das Individuum ist aber kein idealtypisches oder sozialgeschichtlich geprägtes Konstrukt, sondern es wird in seiner spezifischen Selbstbezogenheit zum Maß der gesellschaftlichen Widersprüche.19 Mit den Anti-Helden wurden in der Literatur realistische Entwürfe „gegen das gültige Zeitbild“20 skizziert, die eine diversifiziertere Auseinandersetzung mit schwierigen Lebenssituationen darstellen. Vor dem Hintergrund der Suche nach individueller Identität werden mit solchen Außenseiterfiguren neue Vorstellungen vom Ich geprägt. Die Entstehung solch subjektzentrierter Figuren hängt unmittelbar mit der Entstehung von Bildungsromanen und Anti-Bildungsromanen zusammen, wie in den folgenden Kapiteln erläutert wird.

2.1.1 Der Bildungsroman

Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚Bildung‘ ist Abbild und Ebenbild (lat. imago), aber auch Nachbildung (lat. imitatio), Gestalt (lat. forma) und Gestaltung (lat. formatio). In all diesen Bedeutungen war das für den Menschen vorbildhafte Gottesbild inhärent. Durch die Säkularisierung im 18. Jahrhundert gab es einen Bedeutungswandel, wodurch ‚Bildung‘ nicht mehr die ausschließlich theologische Bedeutung der Wirkung Gottes auf den Menschen besitzt, sondern eine der Natur des Menschen immanente Kraft umfasst. ‚Bildung‘ wurde zum Synonym für Erziehung oder Entwicklung und beschreibt fortan die Selbstbildung eines eigenverantwortlichen Individuums.21 Das Wort Bildung steht dabei nicht nur für ←17 | 18→den Entwicklungsprozess, sondern auch für den Zustand am Ende eines solchen Prozesses und wird zudem als Inbegriff kultureller Werte verwendet.22 In der Aufklärungszeit bedeutete ‚Bildung’ die Ausbildung der rationalen Fähigkeiten des Menschen, erhält im weiteren Zeitverlauf aber weitere Bedeutungsvertiefungen. Johann Gottfried Herder betont mit einem humanitätsphilosophischen Bildungsbegriff die Individualität des Bildungssubjekts und die Zielgerichtetheit des Bildungsprozesses. Bildung umfasst bei ihm die Wirkung des Lehrenden und die Aktivitäten des Sich-Bildenden, wobei dieser einen Ausgleich zwischen den äußeren Einflüssen und der Bildung seiner inneren Anlagen suche.23

Zum Thema des Bildungsromans werden somit die individuellen Bildungsgeschichten bildungsfähiger und bildungsbedürftiger Existenzen, die ihren Platz in der Gesellschaft und den Sinn ihres Lebens selbst finden müssen. Im Sinne des aufklärerischen Ideals des Selbstdenkens und der Auflösung traditioneller Bindungen sind diese Lebenswege nicht mehr durch den Geburtsstatus vorbestimmt, sondern können durch die persönliche Leistung und persönliche moralische Qualitäten stärker individuell gestaltet werden.24 Der Bildungsroman erzählt den Bildungsweg eines meist jugendlichen Protagonisten, der sein Talent und Potenzial an einer Folge von Bildungsstationen unter Beweis stellen muss.25 Der Begriff des Bildungsromans26 wurde 1819 von Karl Morgenstern geschöpft, der seine ←18 | 19→Definition an Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) anlehnt. Blanckenburg hatte zunächst den Roman in Abgrenzung zum Drama als einen Idealtyp definiert, welcher sich jedoch als paradigmatisch für den später erscheinenden Bildungsroman erweist. Die Betonung liegt auf der inneren Geschichte des Helden, dessen Entwicklungsgeschichte im Zentrum des Romans steht – womit sich auch eine didaktisch-moralische Wirkung erzielen lässt, sodass nicht nur der Held, sondern ebenso der Leser des Romans gebildet wird. Wie auch Selbmann schreibt27, geht Morgensterns folgende Definition des Bildungsromans im Grunde nicht über Blanckenburgs Definition des Romans hinaus:

„Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerad durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterem Umfange als jede andere Art des Romans, fördert.“28

Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegels allgemeine Ausführungen zum Roman, insbesondere die Beschreibung der Protagonisten im Spannungsverhältnis der individuellen subjektiven Zwecke zur gesellschaftlichen Ordnung, werden immer wieder zur Charakterisierung des Bildungsromans herangezogen.29 Viel zitiert und selbst schon wieder programmatisch sind ←19 | 20→Hegels Äußerungen zu den Helden des Bildungsromans in seinen Vorlesungen zur Ästhetik:

„Sie stehn als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. […] Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. […] Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinen Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt“.30

Als Begründungstext dieser Gattung und als vorbildhaftes Muster hat rasch nach seiner Veröffentlichung Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre31 (1795/96) eine zentrale Prototyp-Rolle eingenommen.32 Wilhelm Dilthey wiederum wird die Prägung des Begriffes ‚Bildungsroman‘ in Bezug auf Goethes Roman zugesprochen,33 insofern er dazu ausführt:

„Ich möchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen […], Bildungsromane nennen. Goethes Werk zeigt menschliche Ausbildung in verschiedenen Stufen, Gestalten, Lebensepochen. Es erfüllt mit Behagen, weil es nicht die ganze Welt sammt ihren Mißbildungen und dem Kampf böser Leidenschaften um die Existenz schildert; der spröde Stoff des Lebens ist ausgeschieden. Und über die dargestellten Gestalten erhebt das Auge sich zu dem Darstellenden, denn viel tiefer noch, als irgendein einzelner Gegenstand, wirkt diese künstlerische Form des Lebens und der Welt.“34

←20 | 21→

Wilhelm Meisters Lehrjahre folgt wie die nach ihm erschienenen Bildungsromane dem „Progressionsmodell individueller Selbstvervollkommnung, das von der Steigerungsfähigkeit jedes Individuums zu seiner Idealität im Sinne individueller Totalität ausgeht“35. Wilhelm von Humboldt hat diese Selbstvervollkommnung als Hervorholen der eigentlichen inneren Möglichkeiten programmatisch wie folgt gefasst:

Details

Seiten
248
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631830833
ISBN (ePUB)
9783631830840
ISBN (MOBI)
9783631830857
ISBN (Hardcover)
9783631830260
DOI
10.3726/b17344
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Gehen Spazieren Flanieren Wandern Denken Identitätsfindung Bildung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 248 S.

Biographische Angaben

Kyungmin Kim (Autor:in)

Kyungmin Kim ist in Südkorea geboren und aufgewachsen. Sie studierte Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum und schloss dort auch ihren M.A. und die Promotion ab.

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