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Subjekt und Liminalität in der Gegenwartsliteratur

Band 8.2: Schwellenzeit – Gattungstransitionen – Grenzerfahrungen; Sergej Birjukov zum 70. Geburtstag

von Matthias Fechner (Band-Herausgeber:in) Henrieke Stahl (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband VIII, 496 Seiten

Zusammenfassung

Liminalität ist ein Signum der Gegenwart. Die neuere Literatur, insbesondere die Lyrik, nimmt seismographisch liminale Phänomene der Gegenwart wahr und bildet vielfältige liminale Formen und Funktionen aus. Zentral betroffen ist das sprechende Subjekt, das in Transition versetzt wird: Zersetzung, Auflösung, Fluidität, aber auch Transparenz und Transformation öffnen seine Grenzen zum Anderen: zu den Mitmenschen, der Natur oder auch der Transzendenz. Der vorliegende Band vereint Aufsätze, die Liminalität in Bezug auf Schwellenzeit als conditio historiae der Gegenwart, auf Gattungstransitionen und auf Grenzerfahrungen des Subjekts behandeln. Der Schwerpunkt liegt auf russisch- und deutschsprachigen Gedichten. Darüber hinaus werden weitere slavische und ostasiatische Literaturen einzeln und komparatistisch behandelt sowie andere Gattungen, intermediale Formen und philosophische Perspektiven einbezogen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • About the author
  • About the book
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Schwellenzeit – Gattungstransitionen – Grenzerfahrungen
  • I. Schwellenzeit
  • „wir, alle, haben einen Ort verloren, den kein / anderer ersetzt“ – Lyrische Subjektivität und Globalisierung in der deutschen Lyrik des 21. Jahrhunderts
  • Liminale Entwicklungen. Ein Blick auf die Darstellung ökonomischer Zusammenhänge in der deutschsprachigen Literatur. Vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart
  • Deutschsprachige Migrantendichtung und das liminale lyrische Ich
  • Japanophone Poems in Motion: Languagescapes of Itō Hiromi and Tian Yuan
  • Wenn ein Lyriker einen Roman schreibt: Liminalität und Subjektivität in Lutz Seilers „Kruso“
  • Vom Selbstverlust erzählen. Die Schwellenerfahrung der Alzheimerdemenz als poesiologische Herausforderung für die Literatur der Jahrtausendwende
  • Divergenz der Vermögen in Zeiten geschichtlicher Überschwelligkeit. Günther Anders’ Gesellschaftskritik in Zeiten des Anthropozän
  • II. Gattungstransitionen
  • Lyrik und die Grenzen der Sprache
  • Das poetische Subjekt von Sergej Birjukov als Akteur der „metahistorischen Avantgarde“
  • Die Pluralität des poetischen und künstlerischen Subjekts als liminaler Habitus im Spätwerk Dmitrij Prigovs
  • «Дальше, пожалуйста, без меня»: The Limits of Literature in Short Experimental Prose
  • The Lyric and the Dramatic: Transitional Forms in Russian Poetry since the 1960s
  • III. Grenzerfahrungen
  • A Faceless Subject: Exploring Impersonal Subjectivity through Poems by Wang Wei, Paul Celan, and Wang Yipei
  • The Ethics of Grammar in Anna Glazova’s Nature Lyric
  • Grenzen, Deterritorialisierung und Entwürfe einer Nationaldichtung in der südöstlichen Ukraine (Sergej Žadan, Igor’ Bobyrev und Anatolij Kaplan)
  • New Media and the Liminal Subject in Contemporary Ukrainian Poetry (Dmytro Lazutkin’s Poem “Requiem” and its Versions on YouTube)
  • Dissens und Diglossie: Der implizite (Nicht)Leser und das (bela)russische Subjekt in Dmitrij Strocevs „Flickenode“
  • Potentialities of Disruption: Polina Barskova’s and Linor Goralik’s Liminal Subjects
  • Das Subjekt als Sprache an der Grenze zum Nichts in der Erzählung „Mediterraner Krieg“ von Andrej Levkin
  • „Meine Sozialisation ist das Lager.“ Zu den „Russlandgedichten“ der deportierten Dichter Oskar Pastior und Yoshirō Ishihara
  • Tanikawa Shuntarōs Konstruktion eines Mythos von Menschwerdung und Sprachfähigkeit – Eine Lehrdichtung? Über die „Pseudo-Fragmente des Talamaika-Stamms“ („Taramaika gisho zanketsu“, 1978)
  • Jeder Klarträumer ein Poet? Vom Künstler- und Spielersubjekt im luziden Traum
  • Ein Beitrag zur Poetik des Transitorischen. Metaphysische Perzeption und lyrische Faktur bei Elena Švarc und Gennadij Ajgi

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Einleitung: Schwellenzeit – Gattungstransitionen – Grenzerfahrungen

Henrieke Stahl (Trier)

„Unser heutiges Zeitalter: ein liminales Zeitalter?“ fragt die Religionswissenschaftlerin Kim de Wildt.1 Dafür, dass Liminalität ein Signum der Selbstwahrnehmung der letzten Jahrzehnte um die Jahrtausendschwelle in vielen Kulturen, wenn nicht weltweit geworden sein könnte, spricht nicht nur ein erneuertes Interesse für Victor und Edith Turners an Arnold van Gennep2 anknüpfende Studien zur Liminalität, sondern auch das Aufkommen verschiedenster Forschungsthemen und -gebiete, die mit Liminalität oder ähnlichen Begriffen arbeiten. Zu solchen Begriffen gehören Schwelle, Grenze, Transgression und Transition oder, ausgehend von Turners Prägung “betwixt and between”3, Formen von Schwellen- und Zwischenräumen oder -phasen (Dazwischen, Inbetweenness) sowie nicht zuletzt die populären Konzepte des „dritten Raums“ Homi Bhabhas und der – mit zumindest partieller Deckung – „Heterotopie“ Michel Foucaults, aber auch viele weitere verwandte Begriffe wie Transnationalität, Transkulturalität, Hybridisierung, Verflechtung und andere mehr.

Die Liminalitätsforschung hat sich breit etabliert und in verschiedenen Formen institutionalisiert. Es sei auf die interdisziplinären “border studies” mit Studiengängen und Einrichtungen4, Publikationsreihen wie in der Literaturwissenschaft „Literalität und Liminalität“ (herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein seit 2007) oder in der Soziologie “Contemporary Liminality” (herausgegeben bei Routledge von Arpad Szakolczai seit 2017), auf diverse Forschungsprojekte wie das DFG-Netzwerk “Narrative Liminality and/in the Formation of American Modernities”5 oder die “Border Culture/Border Poetics Research Group” der Universität Tromsø,6 und nicht zuletzt auf die wahre Flut an Publikationen aus den verschiedensten Fachrichtungen und -konstellationen verwiesen. Auch die Kulturszene selbst hat sich Liminalität und mit ihr verwandte Begriffe zueigen gemacht, wie zum Beispiel die 2014 gegründete Lyrikzeitschrift “Liminality. A Magazine of Specula←1 | 2→tive Poetry” oder Ausstellungen wie „Liminalität“ (2019) von Fahed Halabi und Sven Scharfenberg in der Hamburger „Galerie nachtspeicher23 e.V.“.

Auch wenn Liminales in den verschiedensten Bereichen sowie quer durch Geschichte und Kulturen zum Gegenstand der Forschung gemacht wird, scheinen die jüngere Vergangenheit und Gegenwart besonders von Liminalität geprägt zu sein: Grenzen werden aufgehoben und neu definiert, und zwar nicht nur geographisch-politisch (Zusammenbruch des sog. Ostblocks, Entstehen diverser neuer ‚Mauern‘), sondern auch im weitesten Sinne kulturell und gesellschaftlich. Globalisierung, Mobilität, Migration und nicht zuletzt die Digitalisierung fördern transnationale Bewegungen, Verflechtungen und Hybridisierungen in so gut wie allen Lebensbereichen bis hin zu Klima und Gesundheit in einem Ausmaß, das größer zu sein scheint, als je zuvor. Liminalität, von Turner als Schwellenzustand bezeichnet, scheint gleichsam zumindest zeitweise permanent geworden zu sein7: Die Prozessualität des Liminalen, sein Transitionscharakter, hat einen Eigenwert bekommen und zielt zumindest nicht mehr vordergründig auf die Gewinnung neuer Stabilität oder von Strukturen jenseits eines Übergangs ab.

Turner unterscheidet später ‚liminal‘ und ‚liminoid‘, „da die […] liminalen Phänomene, abgeleitet aus den rituellen Kontexten agrarischer Gesellschaften, bei ihrer Übertragung auf komplexe Gesellschaften zunehmend unangemessen erscheinen“8. „Liminoide Phänomene komplexer Gesellschaften haben fragmentarischen, pluralistischen, experimentellen und spielerischen (ludischen) Charakter“; und „in modernen Gesellschaften bestehen Liminales und Liminoides […] gleichzeitig nebeneinander“9. Das Besondere der Gegenwart scheint zu sein, dass sie ‚liminale‘ Merkmale ohne einen rituellen Rahmen ausbildet und ‚liminoide‘, spielerische Züge in der Kultur nicht nur intensiv entfaltet, sondern sie auch zur Beschreibung, Reflexion und Verarbeitung der ersteren einsetzt, wie die Beiträge in diesem Band an Beispielen aus der Philosophie und Literatur zeigen.

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Liminalität bezieht sich nicht nur auf Grenzen und Schwellen10, sofern sie einen schmalen Grat als Trennlinie von Gebieten bilden, seien es Räume im spatialen, temporalen11 oder übertragenen Sinn bzw. Schichten, sondern auch und gerade auf das ‚Dazwischen‘. Dieser Zwischenraum zeichnet sich durch die Auflösung von Trennlinien aus, indem die scheinbar separierten Gebiete sich auf die verschiedenste Weise vermischen und überlagern können, und gewinnt dadurch von beiden Gebieten unabhängige Qualitäten, Eigenschaften, Regeln und Funktionen, die in dieser Form in keinem der Bereiche jenseits dieses Raums wirksam sind, auch wenn die Grenzen des liminalen Raums mit einem oder beiden nicht-liminalen Bereichen verfließen können (aber nicht müssen).

Liminalität kann sowohl innerhalb einer Dimension als immanente oder horizontale Liminalität (z.B. im geographischen oder historischen Sinn) als auch zwischen unterschiedlich gearteten Dimensionen als vertikale Liminalität (z.B. in der Psyche als verschiedene Grade von Un-/Bewusstheit oder auch im ontischen Sinne als Seinssphären mit verschiedenem Status – etwa empirische versus diverse metaphysische ‚Welten‘) oder in deren unterschiedlichsten Mischformen auftreten, so im Fall chronotopischer Liminalität, welche räumliche und zeitliche liminale Formen verschmilzt. Ferner vermag Liminalität unterschiedliche Grade der Extension sowie der Intensität anzunehmen, und sie kann als statische Strukturform oder aber als dynamischer Prozess der Grenzüberschreitung, Zersetzung, Transformation und Neukonfiguration betrachtet werden.

Die ‚Transgression‘ fokussiert die Überschreitung bzw. den Bruch von Grenzen bzw. Normen12, während ‚Transition‘ eher den Prozess liminalen Geschehens selbst, d.h. sowohl die Art und Weise, mit der Grenzen behandelt – überschritten, aufgelöst, neugebildet – werden, als auch die neu entstehenden Konfigurationen und deren Metamorphosen, in den Blick nimmt.13

Die neuere Literatur setzt sich in allen ihren Gattungen mit Liminalität auseinander, nicht nur inhaltlich, sondern auch performativ und bis in Details der ästhetischen Formgestaltung hinein. Lyrik, von manchen als liminale Gattung per se verstanden (so etwa Zymner in diesem Band)14, erscheint←3 | 4→insbesondere in den letzten Jahrzehnten besonders stark von Liminalität geprägt.15 Sie erfasst nicht nur „seismographisch“ oder spiegelt liminale Phänomene der Gegenwart, sondern bildet liminale Formen und Funktionen aus – verwiesen sei nur auf die Zunahme transnationalen Schreibens mit transkulturellen und trans- sowie polylingualen Prägungen, transgenerischen oder auch inter- und transmedialen Formen16 sowie auf die Intensivierung hybrider Funktionsformen (etwa das Verschwimmen der Grenzen zwischen ästhetischen und pragmatischen Diskursen in den Sozialen Medien oder auch in Performances und in partizipatorischen Kunstformen).

In vielen dieser Erscheinungsweisen neuerer Lyrik ergreift die Liminalität das sprechende Subjekt, das zersetzt, aufgelöst, multiple, transparent, offen, fluid, wandelbar oder aber auch rekonsolidiert wird.17 Insgesamt ist zu beobachten, dass die neuere Lyrik besondere Aufmerksamkeit der Thematisierung und Gestaltung von Subjektivität und Subjekt widmet, die im Gedicht durch Sprecher, Figur oder auch abstraktes Subjekt der Komposition präsent gemacht werden können, und deren Spannungsverhältnis zur realen Person des Autors, die teils mit den Text- oder auch Inszenierungsinstanzen von Performances koinzidieren, teils sich über die verschiedenen Subjektinstanzen im Text partiell verteilen oder aber auch mit einer oder allen Textinstanzen differieren kann. Die postmoderne Verabschiedung von Subjekt und ‚Autor‘ dient Lyrikerinnen und Lyrikern als Anregung, das Subjekt zu reflektieren und ideell sowie auch poetisch formal neu zu fassen: Seine Thematisierung wie Darstellungsformen geraten in Transition.18

Der vorliegende Band vereint Aufsätze, die Liminalität in Bezug einerseits auf das Subjekt und andererseits auf Geschichte und Gattung bzw. Medien behandeln. Wenngleich Gedichte im Fokus stehen, werden auch weitere Gattungen, intermediale Formen und ferner philosophische Perspektiven be←4 | 5→rücksichtigt. Neben Arbeiten zur russisch- und deutschsprachigen Lyrik werden in diesem Band weitere osteuropäische sowie punktuell auch ostasiatische Literaturen und vergleichende Studien einbezogen. Die Aufsätze entstammen zwei Projekten zur neueren Lyrik, die Formen des Subjekts und Transitionsphänomene untersuchen.

Das erste Projekt, bilateral gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und in Russland durch den Russischen Geisteswissenschaftlichen Fonds (RGNF), arbeitete an einer „Typologie des Subjekts in der russischsprachigen Dichtung 1990-2010“ (2015-2018); einige der Aufsätze des vorliegenden Bandes entstammen Konferenzen dieses Projekts, deren letzte eigens dem Thema „Subjekt und Liminalität in der Gegenwartsliteratur“ (Trier, 6.10.7.2017) gewidmet war. Diese Konferenz befasste sich schwerpunktmäßig mit der russischen Lyrik; die russischsprachigen Beiträge zu diesem Themenkomplex sind in dem ersten Teilband des Doppelbandes, dessen zweiten Teilband das vorliegende Buch bildet, erschienen.19 Eine Reihe von Aufsätzen des Doppelbandes entstand ferner im Rahmen der Arbeit der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe FOR 2603 „Russischsprachige Lyrik in Transition: Poetische Formen des Umgangs mit Grenzen der Gattung, Sprache, Kultur und Gesellschaft zwischen Europa, Asien und Amerika“ (erste Förderperiode 2017-2021), die zahlreiche Panels, Workshops und Konferenzen durchgeführt hat, innerhalb derer der Themenkomplex „Subjekt und Liminalität“ immer wieder eine zentrale Rolle gespielt hat.

Die Beiträge dieses Buches sind in drei Sektionen gegliedert. Der Band eröffnet mit Aufsätzen, welche die jüngere Vergangenheit und Gegenwart als Schwellenzeit behandeln. Die zweite Abteilung rückt Fragen generischer Transitionen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die dritte Sektion behandelt Grenzerfahrungen des Subjekts und führt zugleich Aspekte der vorhergehenden Themenblöcke zusammen.

I. Schwellenzeit

Unsere Zeit steht da, wie Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ (in seiner Deutung von Paul Klees Zeichnung „Angelus Novus“)20, schockerstarrt zurückblickend, aber mit dem Sturmwind des Zeitenlaufs in den aufgeblähten Flügeln im rasenden Moment der Gegenwart rücklings in die Zukunft geschleudert: Liminalität erscheint nicht mehr als eine Phase des Übergangs, sondern als neue conditio historiae. Seit mehr als drei Jahrzehnten gewinnen ←5 | 6→die Vermischungen aller möglichen, früher eher separierten Bereiche von Menschheit, Erde und Kosmos an Ausmaß und Beschleunigung. Verschiedenste liminale Prozesse mit Grenzaufweichung, Vermischung, Verflechtung und Überlappung werden forciert durch Globalisierung, weltweite, ja kosmische Mobilität, Digitalisierung und nicht zuletzt anthropogene Eingriffe bis in tiefste Schichten der Erdsubstanz hinein: Die Gegenwart zeigt sich als Schwellenzeitalter für die Erde, das durch weltweit wirkende Krisen ein gesamtplanetarisches Bewusstsein der Verbindung aller mit allen weckt – zuletzt körpernah durch das Virus SARS-CoV-2, wobei aber zugleich der Umgang mit ihm weltweit mit Isolation und Stagnation der mobilen und hybriden Transitionszeit ein gewisses Ende setzen könnte: ob als Phase oder dauerhaft, wird die Zukunft zeigen. Allerdings ist der Antagonismus von liminalen Prozessen und ihrem Gegenteil in Formen der Strukturverhärtungen (etwa Renationalisierung, neue Totalitarismen in Bürokratie wie Politik, erneute Mauerbauten) ein Charakteristikum der letzten Jahrzehnte.21

Der Beginn unseres Schwellenzeitalters kann, gleich dem des Anthropozäns, mit dem es in einer fernen Zukunft vielleicht einmal als überlappend oder teilweise sich überschneidend angesehen werden mag, sehr unterschiedlich definiert werden. Eine wichtige Zäsur aber für seine Entstehung bilden zumindest für viele Länder die großen Transformationen Ende der 1980er und Anfang der 1990er: die deutsche Wiedervereinigung, das Tian’anmen-Massaker, das Zerplatzen der Bubble Economy in Japan, der Zusammenbruch des sog. Ostblocks und das Ende der Sowjetunion. Die neuere Literatur, speziell die Lyrik nimmt solche Entwicklungen wahr22, hat sie wohl auch hier und da vorausgeahnt23, stellt ihnen zeitnah eine Diagnose oder reflektiert sie im Rückblick, wie die in dieser Sektion versammelten Aufsätze zeigen. Gemeinsam ist diesen Beiträgen, dass sie Liminalität als historischen Schwellenzustand eines „Stehens an oder auf der Schwelle“ behandeln, dessen Wurzeln weit in das 20. Jahrhundert, vielleicht bis zu dessen Schwellenzeit am Ende des 19. Jahrhunderts, zurückreichen.

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Peter Geist gibt einen Überblick, wie die deutsche Lyrik auf die Globalisierung reagiert hat, die unmittelbar mit ökonomischen Prozessen zusammenhängt. Die neuere deutsche Lyrik diagnostiziere unserer Zeit die Verabschiedung geschlossener Grenzen, Hierarchien und Ordnungen, seien es solche der Kulturen, Staaten, Gesellschaften oder auch ihrer Subjekte: Alle möglichen Grenzen seien ins Schwimmen geraten; die „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Lukács) habe sich globalisiert und damit die Möglichkeit der Suche nach verbindlichen Fluchtpunkten für Aufbau und Festigung von Ordnungen obsolet gemacht. Viele Gedichte geben Symptomstudien von Krisen- und Zerfallsprozessen und daraus resultierenden individuellen und gesellschaftlichen Zuständen und Vorgängen, wie Geist an Langgedichten von Gerhard Falkner, Björn Kuhligk, Ann Cotten, Volker Braun oder Kurt Drawert exemplarisch zeigt. Die Lyrikerinnen und Lyriker ringen um formalästhetische Formen für die Darstellung physischer und psychischer, individueller und sozialer liminaler Erfahrungen zwischen Selbstvergewisserung und Ohnmachtserleben. In ihr Register der poetischen Ausdrucksweisen gehören etwa sprachliche Devianzen, Sinndispersion und -entleerung sowie das Verschwimmen sprachlicher und poetischer Grenzen oder zwischen Realität und Fiktion, Ich und Welt, Signifikat und Signifikant.

Matthias Fechner beschreibt den Wandel ökonomischer Prozesse seit dem 19. Jahrhundert und ihrer literarischen Verarbeitung anhand einer Linie, welche der modernen Dekonstruktion des Subjekts seine Formierung als verantwortungsbewusstes Individuum entgegenstellt. Er unternimmt einen Gang durch die deutschsprachige Literaturgeschichte vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart anhand der Frage nach der Thematisierung ökonomischer und gesellschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse in Werken des Kanons, aber auch und gerade jenseits seiner Grenzen. Seit der Weimarer Republik werden zunehmend ökonomische Sujets thematisiert, und ökonomisch marginalisierte Gruppen und Klassen, welche in den Literaturgeschichten nicht oder kaum Berücksichtigung fanden, werden literarisch produktiv. Gerade diese weniger bekannten Autorinnen und Autoren fokussieren ökonomisch und sozial prekäre Probleme mit einem hohen kritischen Impetus. In solchen Werken gestaltet sich ein starkes Subjekt als literarische Stimme und gesellschaftlicher Akteur.

Zu den Folgen der Globalisierung gehören verstärkt weltweite Formen der Migration und die Zunahme transnationaler Erfahrungen, deren literarische Verarbeitung am Beispiel Deutschlands und Japans, einem lange eher geschlossenen Land, Tatiana Andreiuschkina und Yoshitaka Hibi analysieren. Zunächst wenig beachtet, gewinnt die Literatur der Immigranten heute zunehmend an Bedeutung und Sichtbarkeit. Tatiana Andreiushkina spannt in ihrem Beitrag zur deutschsprachigen Migrantendichtung einen Bogen von Aras Ören und Franco Biondi über Herta Müller und Oskar Pastior bis zu Olga Martynova und Nelly Wacker. Die Autorinnen und Autoren fühlen sich ←7 | 8→zwischen Sprachen und Kulturen stehend und problematisieren die Frage ihrer Zugehörigkeit und Randständigkeit oder sogar Marginalität in ihren Texten. Das literarische Subjekt verbleibt häufig im liminalen Schwebezustand, auch wenn die Verfasser selbst Anerkennung finden, sei es in dem verlassenen oder in dem neuen Land und dessen Literatur. Yoshitaka Hibi vergleicht zwei transnational schreibende japanischsprachige Autoren, deren Werk durch Grenzüberschreitungen zwischen und Interferenzen von Kulturen und Sprachen gekennzeichnet ist. Hiromi Itō lebte zwanzig Jahre in Kalifornien, Tian Yuan ist chinesischer Immigrant in Japan. Itō destabilisiert die Grenzen zwischen realer und magisch-imaginärer Welt, Mensch und Natur, Belebtem und Unbelebtem, amerikanischer und japanischer Kultur und Literatur, während Tian Yuan das Chinesische und Japanische im Medium der in beiden Sprachen präsenten kanji interagieren lässt und die poetische Sprache nutzt, um auf sublime Weise das in China nach wie vor tabuisierte Trauma des Tian’anmen-Massakers von 1989 anzusprechen.

Liminale Verhältnisse in Bezug auf den Einzelnen und sein Verhältnis zu Geschichte, Mitmensch und Gesellschaft untersuchen Ekaterina Friedrichs und Claudia Hillebrandt. Liminalität wird als konstitutiv sowohl für die Biographie insgesamt als auch insbesondere für spezielle Lebensphasen wie Alter und Krankheit dargestellt. Am Beispiel von Lutz Seilers Roman „Kruso“ gelingt es Ekaterina Friedrichs zu zeigen, wie Seiler liminale Erfahrungen formalästhetisch umsetzt und liminale Subjektformen poetisch konstituiert. Der Roman balanciere zwischen narrativen und lyrischen Sprechweisen, die eine zwischen scheinauktorialem Erzähler und Protagonist schwimmende und damit liminale Textsubjektivität aufbauen. Die Figuren haben sich mit Grenzerfahrungen auseinanderzusetzen – traumatisches Leiden infolge des Todes der Geliebten oder der Schwester, das Verschwimmen von Realität und Vision oder Halluzination, die Flucht aus der DDR. Sie kommen an den liminalen Ort der Insel Hiddensee in der Grenzzone, wo sie für eine kurze Zeit eine liminale Initiationsphase im unmittelbaren Sinne des anthropologischen Konzepts durchmachen. Das Ende des Romans wird mit dem Zerfall der liminalen Zone des Romans durch die Wende 1989 markiert – individuelle und historische Liminalität koinzidieren. Claudia Hillebrandt arbeitet in ihrem Beitrag an Beispielen aus der deutschsprachigen Literatur heraus, wie die Schwellenerfahrung des fortschreitenden Verlusts des Selbst durch die Alzheimer-Krankheit in literarischen Darstellungen sowohl aus der Innensicht der Betroffenen als auch durch formale Ausdrucksmittel erfahrbar gemacht werden kann. Die literarische Darstellung tendiere dazu, die negativen Seiten der Erkrankung hinter positiven Aspekten wie der Transformation und dem Aufbau neuer Selbstbilder zurücktreten zu lassen. Die literarischen Darstellungen von Alzheimer als liminaler Subjekterfahrung leisten einen Beitrag zum Verständnis und Umgang mit der Erkrankung in der Gesell←8 | 9→schaft. Sie stehen paradigmatisch für das aktive Streben nach einem Weg aus dem Schwellenzustand und deuten auf den Beitrag hin, den die freie Imaginationskraft der Literatur für die Gewinnung einer neuen Qualität von Leben, Personsein und Geschichte jenseits der liminalen Phase leisten könnte.

Harald Schwaetzer schließlich gibt, ausgehend von Günther Anders Studien zum Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki 1945, eine philosophische Diagnose der Gegenwart. Er stellt als prägendes Merkmal heraus, dass unsere Zeit in ihrem Schwellenbewusstsein gerade das Moment versäume, welches sie, wie den „Angelus Novus“ Klees in der Deutung Benjamins, auf die Vergangenheit zurückstarren lässt: dass die Schwellenerfahrung selbst eigentlich schon ‚überschwelliger‘ Natur ist und damit zu ihrer Erfassung eines anderen als des die Schwelle reflektierenden Bewusstseins, eines ‚überschwelligen‘ Bewusstseins, bedarf, welches das ‚Überschwellige‘ der Schwelle selbst zu erfassen vermag, also eine potenzierte Überschwelligkeit oder ‚Überschwelligkeit des Überschwelligen‘ erlangt. Um im Bild Benjamins zu bleiben, müsste der Engel in die Lage versetzt werden, sich zweizuteilen: einerseits aufzufliegen und auf sich selbst zurückzuschauen und zu sehen, wie er selbst andererseits ‚über‘ der Schwelle schwebt und damit gleichsam in der Zeit aus der Zeit herausfällt, indem diese ihn im Moment der Gegenwart mit sich fortreißt. Wenn Benjamins Engel die Kohärenzerfahrung verloren hat und rücklings, d.h. unbewusst und selbst als Opfer der Zeit – den Wind in seinen geblähten Flügeln – in die Zukunft stürzt, dann könnte der auffliegende Engel sich vielmehr als Teil von Geschichte begreifen und seine Position und Rolle in den Verflechtungen nicht nur wahrzunehmen, sondern vielleicht auch zu gestalten beginnen.

Die eingangs im Beitrag von Peter Geist als für die Gegenwart signifikant hervorgehobene globalisierte „transzendentale Obdachlosigkeit“ ist ein Verlust nicht nur von Transzendenz, sondern auch von Transzendentalität, also der Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit empirischer (und ggf. metaphysischer) Wahrnehmung und Erkenntnis. Die Fixierung auf die Schwellenerfahrung selbst und ihre Perpetuation in der Reflexion und poetisch-ästhetischen Darstellung mag ein Grund dafür sein, dass die letzten Jahrzehnte sich als liminal gerieren bzw. auf der Schwelle verharren. Wie der Engel bei Benjamin zum Platzhalter des Menschen geworden ist, müsste nun vielmehr umgekehrt der Mensch wieder ‚Engel‘ werden, d.h. fähig zur Transzendierung – dann könnte, so ist zumindest die Stoßrichtung des Vorschlags von Schwaetzer, die Zeit in Biographie und Geschichte eine andere Qualität jenseits der Schwelle(nzeit) entwickeln. Am Ende des Bandes werden in dem Beitrag von Angelika Schmitt Lyriker behandelt, die solcherart ‚Flugübungen‘ in die Transzendenz im Medium der Dichtung versuchen; manche neuere ‚mystische‘ oder ‚metaphysische‘ ←9 | 10→Lyrik der Gegenwart stellt dabei auch eine Verbindung zu Krisen und Problemen der Gesellschaft oder auch des Anthropozäns her.24

Lyrik ist, wie vielleicht keine andere literarische Gattung, von Liminalität auch formal gekennzeichnet. In der Gegenwart bildet sie – in Analogie zu Liminalitätserfahrungen, die oft ihr Gegenstand sind – in poetischer, sprachlicher, generischer sowie medialer Hinsicht mannigfaltige liminale Formen aus, verwischt oder überschreitet die Grenzen zwischen Gattungen, Medien, Sprachen, Traditionen usw. Generische Transitionen der neueren Lyrik bilden den Untersuchungsschwerpunkt der folgenden Sektion.

II. Gattungstransitionen

Die generische Zuordnung sieht sich mit einer liminalen Praxis konfrontiert, wenn literarische Texte eine eindeutige Gattungszugehörigkeit unterlaufen. Die Zuordnung ist ein Akt der Interpretation und erfolgt gewöhnlich anhand der Feststellung von Merkmalsdominanzen und des Vergleichs mit Ähnlichkeiten zu in der Tradition als paradigmatisch anerkannten Beispielen. Die Nähe zu prototypischen Beispielen und die Ausprägung von in generischer Hinsicht als konstitutiv erachteten Merkmalen weisen graduelle Relationen auf. Rüdiger Zymner stellt heraus, dass darüber hinaus Liminalität für Lyrik gattungskonstitutiv sei, allerdings weniger bezogen auf die Grenzen zu anderen Gattungen als vielmehr auf die für das Genre selbst prägenden Merkmale. Denn Lyrik arbeite grundsätzlich mit und an den Grenzen von Sprache sowie systemhaften Normierungen; sie balanciere auf dem schmalen Grat ‚zwischen‘ verschiedenen Vorgaben, speziell der Sprache(n) und poetischen Traditionen. In zugespitzter Weise trifft dieses auf das poetische Prinzip des Modernismus zu. Insbesondere die historischen Avantgarden testeten in Experimenten aus, wie weit sich alle möglichen Grenzen oder scheinbar festgesetzte Normen überschreiten oder auflösen lassen. Die Linie solcher Grenzexperimente lässt sich aber sowohl in frühere Zeiten als auch weiter bis in die Gegenwart verfolgen. Sergej Birjukov, dem dieser Band zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, hat hierfür den Begriff der „Metaavantgarde“ geprägt. Michail Pavlovec zeigt, wie seine künstlerischen Experimente nicht nur die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache und Sprachlichkeit (bis hin zur transrationalen Sprache Zaum’ im russischen Futurismus) ausloten, sondern auch die Relationen zu anderen Medien und künstlerischen wie nichtkünstlerischen Ausdrucksformen. Sergej Birjukov entwickelt ein metaavangardistisches Kunstprojekt, das die Grenzen zwischen Lyrik und Literaturwissenschaft ←10 | 11→sowie Herausgebertätigkeiten ins Schwimmen bringt. Dabei lässt er nicht nur sein künstlerisches Schaffen durch die Wissenschaft befruchten, sondern generiert auch umgekehrt im Gedicht Ansätze wissenschaftlicher Erkenntnis. Birjukov entwickelt in vielfältigen Transitionen scheinbar etablierter Grenzen Qualitäten prozeduraler Liminalität, und zwar sowohl in seinem Schaffen als auch in Bezug auf ein Subjekt, welches sich als multiple und fluide Identität des Autors realisiert. Das fluide und multiple Selbstbild bezieht sich allerdings weniger auf den Autor als reale Person, die ihrerseits, auch wenn sie Quellsprung des Ganzen ist, doch nur als eine Art Teilhypostase fungiert und einmal mehr einmal weniger mit einer der anderen Rollen und Hypostasen verfließt, als vielmehr auf ein Subjekt als künstlerisches Projekt und Konstrukt, das sich immer wieder neu in den verschiedenen Aktivitäten ausgestaltet, aber „an sich“ nicht als Person, Stimme oder auch nur konstante Perspektive oder selbstidentisches Gestaltungsprinzip greifbar wird – da alle diese und weitere Ausdrucksformen nur variabler Teil des stets sich erneuernden Projekts sind. Rainer Grübel weist darauf hin, dass diese Instanz, die sowohl in Differenz zu einem Sprecher oder Subjekt im Text als auch der realen Autorperson steht, aber zugleich an beiden partizipiert, als „poetisches Subjekt“ bezeichnet und theoretisch gefasst werden kann.25 Auch Prigov entwickelt ein fluides und multiples poetisches Subjekt, das sich allerdings anders, als im Fall von Sergej Birjukov gestaltet. Emaniert es bei Birjukov quasi aus seiner realen Person, ist es bei Prigov, so Grübel, „spezifischer poetisch-artistischer Habitus“, der nicht mit einem konkreten Gestaltungsprinzip zu verwechseln oder auf einen Referenzpunkt hin vereindeutigt werden könne, da er sich gerade durch Offenheit und Variabilität auszeichne. Die reale Person ist genauso eine Fiktion innerhalb des Kunstprojekts im und mit dem Namen des Autors, wie die Rollen, die sie zugleich imaginiert und performt. Prigov überschreitet dabei nicht nur die Grenzen von Gattungen und Medien, sondern unterläuft auch die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen Dokument und Artefakt, Realität und Fiktion.

Multiple und fluide Subjektkonstruktionen gehen oftmals mit der Transition von Gattungsgrenzen zusammen. Ainsley Morse findet in fragmentarischer, hermetischer Kurzprosa jüngerer russischer Autorinnen und Autoren, namentlich von Marianna Gejde und Sergej Sokolovskij, dieselben Prinzipien wirksam, wie sie auch die neuere Lyrik zeigt, wenn sie Subjektivität problematisiert. An die Stelle eines sprechenden Subjekts treten Stimmen und vage sowie multiple Subjekte; Bedeutungsreferenzen werden gelockert, und es ←11 | 12→wird mit Grenzformen zwischen Prosa und Versform sowie Hybridisierungen der Sprechmodi des Lyrischen, Epischen und Dramatischen gearbeitet. Diese experimentellen Formen im Grenzbereich zwischen Sprechweisen und Gattungen, die zugleich geschlossene und stabile Subjektformen und -vorstellungen auflösen, setzen Tendenzen der Avantgarde und ihres Weiterlebens in der inoffiziellen Literatur der Sowjetzeit fort. In Anknüpfung an die Avantgarde bildet die russische Lyrik seit den 1960er Jahre Formen der Dramatisierung aus, welche den lyrischen Sprecher relativieren und ihn für andere Subjekte öffnen, wie Henrieke Stahl an Gedichten von Elena Švarc, Ol’ga Sedakova, Gennadij Ajgi, Faina Grimberg, Sergej Zav’jalov, Konstatin Kedrov sowie der jüngeren Lyriker Kirill Korčagin und Danila Davydov ausführt. Die Dramatisierung in den Gedichten ist weniger auf Aufführung, denn auf imaginative Inszenierung hin angelegt. Die hierdurch erzielten Relativierungen des lyrischen Sprechers führen zur Stärkung der Komposition, die auf ein gleichermaßen von den Figuren wie dem Sprecher und auch dem Autor selbst verschiedenes Subjekt zurückgeführt werden kann: auf das bereits oben genannte ‚poetische Subjekt‘, das, da allein auf Texte bezogen, hier auch als ‚Textsubjekt‘ bezeichnet wird. Es ist abstrakt bzw. nicht personal, aber als strukturierendes Prinzip greifbar. Es muss jedoch, wie es schon bei Birjukov und Prigov sichtbar wurde, keineswegs geschlossener oder statischer Natur sein.26

III. Grenzerfahrungen

Die dritte und letzte Sektion vereint Beiträge zu poetisch-lyrischen Texten, die Erfahrungen von Schwellenübertritten verarbeiten oder auch zu solchen Erfahrungen hinführen können. Dabei steht weniger die Schwelle als vielmehr der Prozess ihrer Überwindung sowie der Interaktion der Bereiche vor und nach der Schwelle in einem liminalen Raum bzw. einer liminalen Phase im Vordergrund. Subjektivität selbst ist eine Grenzerfahrung, da sie sich zwischen Eigen und Fremd, Innen und Außen bewegt, und ist eng mit dem Ichbewusstsein verknüpft. Das Ich aber ist nur ein Ich, so lange es in präsenter Prozessualität den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Innen und Außen oder anderen, ähnlich gearteten Konstellationen in Bezug auf sich selbst herstellt – im Moment des Kohärenzverlustes, wie Schockmomente zeigen können, setzt das Ichbewusstsein mit Blackouts oder Ohnmacht aus. Im Gedicht wird, so Yi Chen, Subjektivität als Kohärenzbildung gestaltet. Hier aber ist sie unpersönlich, „gesichtslos“27, wenn die Identität des Subjekts durch den Text selbst performativ geschaffen wird. Chen zeigt, wie sich „gesichtslose ←12 | 13→Subjektivität“ in klassischer und gegenwärtiger chinesischer Lyrik sowie in Gedichten Paul Celans als Ausdruck poetischer Kreativität gestaltet.

Paul Celan ist ein wichtiger Autor für die russischschreibende Lyrikerin, Übersetzerin und Philologin Anna Glazova, die seine Gedichte nicht nur vielfach übersetzt und als Wissenschaftlerin untersucht, sondern aus ihrer Auseinandersetzung mit seinem Werk auch Impulse für die eigene Poetik gewonnen hat. Zentral für sie ist Celans auf Osip Mandel’štam zurückgehende Idee des Gedichts als Flaschenpost, als Hinwendung zu einem (unbekannten) Leser, welche das hermetische Gedicht dialogisch grundiert. Lyrik hat auch für sie ihre Quelle in der Sprache selbst. Ihre Lyrik verwebt Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, ohne aber die Grenzen zwischen ihnen auszulöschen. Diese Grenzen werden vor allem im Gebrauch der Grammatik „erodiert“, wie Luba Golburt mithilfe der Kontrastfolie des zeitgenössischen Ecocriticism und Transhumanismus herausarbeitet, der die Grenzziehungen zwischen Mensch und Natur, belebter wie unbelebter, negiert. Glazovas Lyrik öffnet das Subjekt zur Welt sowie zur Sprache; es realisiert sich in postdualistischen Formen und wechselseitigen Interdependenzen, ohne aber dabei Differenzen zu nivellieren. Auch die poetische Kommunikation wird in einen offenen reziproken Prozess wechselseitiger Interdependenzen verwandelt.

Einen Schritt weiter als Glazova geht Sergij Žadan, dessen Gedichte im Kontext des Konflikts um die südöstlichen Gebiete der Ukraine Kirill Korchagin mithilfe der postmodernistischen Konzepte melancholischer und nomadischer Subjektivität analysiert. An die Stelle von Interdependenzen tritt hier ‚horizontal liminale‘ Verflechtung. Subjektivität wird als fluides Gewebe einer Vielzahl von Elementen und Umständen gedacht, das sich als rhizomartige Verflechtung und Verbindung ohne Zentrum und Hierarchie oder abgeschlossene Grenzen darstellt und einen „glatten Raum“28 bildet. Die nomadische „Kriegsmaschine“ richtet sich gegen die Etablierung von Ordnungen und Systemen, den „gekerbten Raum“. In der Verbindung des Nomadischen mit Melancholie, welche den Raum durch Affekte strukturiert, entstünden bei Sergij Žadan eine Form der Subjektivität und ein Modell der ukrainischen Nation, welche die Strukturierung zugleich anstreben und beständig wieder auflösen, um sie neu zu gewinnen. Diese utopische Dimension animiere jüngere Autoren zu Gegenkonzepten wie Internalisierung (Igor’ Bobyrev) oder umgekehrt aggressive Externalisierung (Anatolij Kaplan). Während Žadan Liminalität gleichsam verstetigt, streben dagegen die beiden anderen Dichter die Aufhebung des liminalen Zustands an.

Eine ähnliche Situation zeigt Anna Fees an einem Beispiel aus der neuesten ukrainischen Kriegslyrik. Dabei berücksichtigt sie, dass diese Lyrik sich aus dem Buch löst und sich kommunikative Räume einerseits in der Stadt (wie hier dem Kiever Maidan), andererseits in den Sozialen Medien er←13 | 14→schließt. Politisch engagierte Lyrik gewinnt durch inter- und transmediale Ausdrucksformen im Internet partizipatorische Qualitäten. Fees analysiert ein zu einem konkreten politischen Anlass verfasstes Gedicht Dmitro Lazutkins, das sich durch den Fokus auf eine liminale Situation auszeichnet – die Trauer über den Verlust der Einheit der Ukraine und die Opfer im Krieg auf beiden Seiten der gespaltenen Nation. Im Gedicht wird mit der Ausbildung einer ‚dritten‘ Position die Parteinahme für eine der Seiten des Konflikts vermieden; das Subjekt verharrt damit in der liminalen Phase des ‚Dazwischen‘, dem Verlust der Einheit mit dem unabsehbaren Ende des Kriegs. In intermedialen Versionen des Gedichts auf YouTube wird die dritte oder liminale Position zugunsten einer der Seiten oder auch, analog zu Kaplan, zugunsten der Aggression mit dem Ziel der Beendigung des Konflikts ausgehebelt. Musik und Bildsequenzen und zusätzliches Material inclusive Texten sowie Kontextualisierungen verengen hier (theoretisch wäre auch umgekehrt eine Weitung möglich) die Bedeutung des Gedichts in Bezug vor allem auf die ‚dritte‘ und ‚liminale‘ Position im Konflikt. Bewahrung, Vertiefung oder aber Auflösung der liminalen Position des Gedichts sind Optionen, die durch die jeweilige mediale Unterfütterung oder Inszenierung umgesetzt werden.

Auch wenn unterschiedliche Lektüren durch verschiedene Leserschaften mit deren je eigenen Kontexten und Kenntnissen nach Sprach- und Kulturzugehörigkeit speziell für an sich kontextarme Gedichte charakteristisch sind, können Gedichte mit dieser Anlage gezielt spielen – Beispiele für ein solches Spiel mit doppelten Codes finden sich etwa vor dem Hintergrund der Sprachpolitik der ehemaligen Sowjetrepubliken. So zeigt der Aufsatz von Yaraslava Ananka und Heinrich Kirschbaum, wie Dmitrij Strocevs „Flickenode“, ein russischsprachiges Gedicht eines weißrussischen Autors, durch einen Widerspruch zwischen „Mitteilung und Kanal“ gekennzeichnet ist. Denn wenn ein weißrussischer Autor über politische Realia seines Landes auf Russisch schreibt, verleiht diese Sprachwahl dem Gedicht den Anschein, den russischen Imperialismus zu unterstützen, auch wenn das Gedicht selbst anhand topographischer Details, im Gegenteil, an die belarussische inoffizielle Kultur und deren Unabhängigkeitsstreben anschließt. Die potentielle Leserschaft wird auf diese Weise gespalten, denn der russischen Leserschaft wird sich die topographische Realsemiotik zumindest teilweise entziehen, während die belarussische auch und gerade, wenn sie mit der inoffiziellen Kultur sympathisiert, durch die Sprachwahl irritiert wird. Hinzu kommen in diesem Gedicht Referenzen auf die russische Lyrik (Mandel’štam), welche die Sprachwahl als Bekenntnis zu einer literarischen Tradition zu erkennen geben und eine sprachpolitische Aussage signalisieren: Die russische Sprache ist nicht als Repräsentant neoimperialistischer Politik des Russischen Staats abzuurteilen, sondern auch in dem Reichtum seiner Ausdrucksmöglichkeiten insbesondere im Bereich der Lyrik anzuerkennen – eine Überlegung, die auch an←14 | 15→dere Autoren in kleinen Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Absetzung von deren Sprachpolitik anstelle (oder neben und auch gemeinsam mit) ihrer Muttersprache das Russische wählen lassen, wie es etwa die lettische Gruppe „Orbita“ eine Zeit lang versucht hat, oder die zahllosen russischsprachigen Autorinnen und Autoren, die in anderen Staaten leben und sich auch jenseits der heutigen russischen Kultur- und Publikationslandschaft bewegen.29 Allerdings stellt sich seit dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland die Frage nach der Sprachwahl mit neuer Schärfe – insbesondere in den postsowjetischen Staaten wird die Wahl des Russischen als Grenzverletzung wahrgenommen.

Die Auseinandersetzung mit liminalen Situationen in der neueren Lyrik ist jedoch nicht auf die Zeitgeschichte beschränkt. Auch traumatische Erfahrungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts rücken in ihrer existentiellen Liminalität vermehrt in die Aufmerksamkeit der Dichterinnen und Dichter. Mark Lipovetsky beleuchtet liminale Situationen und die mit ihnen verbundenen Subjektkonstruktionen sowie ästhetischen Darstellungsverfahren in Texten über traumatische Erfahrungen: zum einen historischer Art in Werken von Polina Barskova zur Blockade Leningrads, zum anderen alltäglich existentieller Art in Prosafragmenten von Linor Goralik. Die beiden Autorinnen repräsentieren entgegengesetzte Strategien: Während Barskova durch sprachpoetische Verfahren der menschlichen und historischen Ent- und Verfremdung Rechnung trägt, konzentriert sich Goralik auf die emotionale Krisenerfahrung. Beide zeigen, dass die Liminalität traumatischer Erfahrungen jedoch auch eine Sinnerfahrung ermöglichen und sogar ein utopisches Potential eröffnen kann. Ähnlich arbeitet Juliana Kaminskaja an Andrej Levkins Erzählung „Mediterraner Krieg“ heraus, wie sich das Subjekt in der Erfahrung existentieller Leere neu konstituieren kann. Die Rekonstitution von Mensch und Welt, so fragil sie auch sein mag, vollzieht sich hier durch die Arbeit mit und an der Sprache. Das Dichten selbst erscheint nicht nur als Spiegel liminaler Erfahrungen, sondern auch als Akt ihrer Verarbeitung – als Form der Modellierung und damit letztlich Sinngenerierung, als Entwurf alternativer Möglichkeiten von Realität. Das gilt auch für Oskar Pastior und Yoshirō Ishihara, wie Hiroshi Yamamoto an einem Vergleich ihrer Lyrik zeigt. Beide Dichter waren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft; die Schwellenzeit traumatischer Erfahrungen an dem liminalen Ort des Lagers hat ihr Leben und Schreiben zutiefst geprägt, auch und gerade, weil dieses auf den ersten Blick in ihrem späteren Werk nicht zu sehen ist: Die Lagererfahrung selbst wie auch die Schwierigkeit darüber in der Nachkriegsgesellschaft zu sprechen, haben sie einerseits verstummen lassen, andererseits aber auch die Entwicklung einer ‚stummen‘ Sprache der Hermetik gefördert, die eine verborgene Präsenz des Traumas ermöglicht. Diese Sprache hat ihre Wurzeln im Sprachverlust durch die Lagererfahrung, der jedoch von ←15 | 16→Innen, aus der Sprache selbst heraus, in die Findung einer Sprache, auch und gerade, wenn sie Spuren des Gebrochenseins zeigt, einmünden konnte.

Die Liminalität repräsentierende und zugleich transzendierende Kraft von Dichtung kann eigens zum metapoetischen Gegenstand von Gedichten werden. So konturiert Eduard Klopfensteins Beitrag zu Tanikawa Shuntarō die Idee der Existenz von Poesie als kreativer Kraft, welche den einzelnen Sprachen, vor allem aber dem menschlichen Subjekt vor- und übergeordnet ist. Menschen und ihre realen Sprachen sind das Organ, durch welches sich diese Kraft ihren Ausdruck verschafft, ohne aber mit ersteren identisch zu werden, wie Tanikawa Shuntarō mit den „Pseudo-Fragmenten des Talamaika-Stamms“ (1978) demonstriere. Lyrik als sprachgewordene Gestalt von Poesie ermögliche für ihn eine Form ganzheitlicher Erkenntnis, welche unabhängig von Rationalität sowie ursprünglicher und tiefergehender sei als diese. Tanikawa Shuntarō befreit Lyrik von ihrer westlich-modernen Bindung an das Subjekt und spricht ihr einen ontischen Status als Weltkraft zu.

Ein gewisses Äquivalent findet diese Idee im Unbewussten, welches das Subjekt impulsieren und es in Traum oder Kreativität an eine zu seinem Bewusstsein transzendente, aber wirksame Macht erinnern kann. Insbesondere kreative Prozesse können als Interaktion des Unbewussten mit dem bewussten Zugriff und damit als Schwellenphänomen verstanden werden, das zugleich das Subjekt, genommen als Grenzen des selbstreflexiven Bewusstseins, übersteigt und es doch zugleich involviert. Im Anschluss an Schillers „Ästhetische Briefe“ ließen sich die Interaktion und Verflechtung der beiden Seiten auch als „Spiel“ oder „dritter Zustand“ bezeichnen, der sich in einem Balanceakt von Gegensätzen als prozeduraler Vollzug realisiert. Im Unterschied zum postmodernistischen Verständnis von Subjektivität und Kreativität als rhizomartiger ‚horizontaler‘ Vernetzung, die als immanent selbststeuernd gedeutet und mit einer Maschine gleichgesetzt wird30 und ohne einen Agenten auskommt, bedarf dieses Verständnis von Kreativität sowohl eines Subjekts als aktiver und bewusst reflektierender und entscheidender Steuerungsinstanz als auch einer transzendenten oder ‚vertikalen‘ Dimension, die sich seines direkten Zugriffs entzieht und transzendental als Bedingung der Möglichkeit von Kreativität, aber auch der Erkenntnis und letztlich sogar der Wahrnehmung begründet werden kann31. Carolin Buchheit zeigt, dass es ein menschliches Phänomen gibt, welches mit einem solchen transzendental gefassten Konzept von Kreativität zusammenstimmt: der luzide Traum. Im Unterschied zum Traum, der sich unabhängig vom Zugriff des Bewusstseins ←16 | 17→analog zum postmodernistischen Verständnis der Kreativität rhizomartig entwickelt, kennzeichnet den luziden Traum das Zusammenspiel unbewusster Impulse und bewusster Entscheidungen, welche das Traumgeschehen genauso beeinflussen, wie das dem Subjektbewusstsein entzogene Unbewusste. Das Selbstbewusstsein ist zugleich Agens und damit Subjekt des Geschehens sowie dessen Bestandteil oder Objekt und auch noch Beobachter dieses Zusammenspiels. Damit deutet sich an, dass der luzide Traum eine „Metaebene“ impliziert, welche auf ein transzendentales Subjekt als Bedingung der Möglichkeit des luziden Traums verweist.

In der neueren Lyrik bis in die aktuelle Gegenwart gibt es durchaus Gedichte, welche mit Transzendenz und Transzendentalität – jeweils vor anderen philosophischen und / oder religiösen Hintergründen – umgehen, auch wenn sie im Segment der anspruchsvollen ästhetischen Literatur eher selten zu finden sind. So haben sich beispielsweise im Kontrast zum ideologisiert materialistischen Weltbild der Sowjetunion in der inoffiziellen Kulturszene metaphysische und religiöse Auffassungen in der Lyrik fortgesetzt, wobei an unterschiedliche Traditionen angeknüpft wurde. Diese Lyrik arbeitet nicht nur mit verschiedenen Vorstellungen von Geistigkeit und Transzendenz, sondern entwickelt auch aus der Vorstellung von Transzendenz unterschiedliche poetische Formen, wie Angelika Schmitt paradigmatisch an Gedichten von Elena Švarc und Gennadij Ajgi demonstriert, die beide zu den ‚neuen Klassikern‘ gehören. Wenngleich beide sowohl an das christliche Erbe als auch an den russischen Modernismus anschließen, wählen sie im Konkreten differente Ansatzpunkte und stellen andere Verbindungen her. Für Švarc kann der Leib des Menschen zum Organ metaphysischer Perzeption umgebildet werden, und das Gedicht inkorporiert formal entsprechend metaphysische Ideen bis in Rhythmus und Lautgestaltung hinein. Ajgi dagegen dichtet apophatisch – die Transzendenz liegt in der Stille, die in innerem Schweigen erfahrbar werden kann. Gemeinsam ist beiden Lyrikern die Vorstellung, dass der Mensch zu „metaphysischer Perzeption“ grundsätzlich fähig ist, sich zu dieser heranbilden kann und ihr Erleben in der Dichtung nicht nur auszudrücken, sondern für den selbst transformationswilligen Leser auch erlebbar zu machen vermag. Lyrik wird mystisches Tagebuch und Anlass wie Anleitung zu eigenen Erfahrungen mit der metaphysischen Dimension. Das mystische Erleben und das Dichten als Ausdruck und Weg zu seiner Erlangung spielt sich für die beiden Lyriker in einem Grenzbereich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, Mensch und geistiger Dimension der Welt bzw. des Kosmos ab, zu welchem für sie der Traum und das Dichten einen Zugang eröffnen können. Traum, mystisches Erleben und Dichten vollziehen sich als liminaler Prozess, der zwischen diesen Welten vermittelt und sich hierzu an deren Grenzen bewegt, diese bald nach der einen, bald der anderen Seite überschreitend. Diese vertikale Liminalität ermöglicht bei beiden Lyrikern auch einen Zugang zu Welt und ←17 | 18→Mitmensch – die Grenzen von Innen und Außen, Mensch und Natur, von Ich und Du öffnen sich mit der und durch die Transzendierung der Subjektgrenzen in das Metaphysische. Damit kommen die beiden russischen Lyriker auf einem ganz anderen Weg als Tanikawa Shuntarō zu einem ähnlichen Ergebnis wie dieser: dass Lyrik eine „Weltkraft“ sein kann, oder, wie Heinz Schlaffer über den Ursprung von Lyrik schreibt: magisch, und das heißt: metaphysisch liminal, einerseits partizipieren und andererseits auch wirken kann.

* * *

Die Beiträge dieses Bandes haben gezeigt, dass die neuere Literatur Liminalität als Paradigma unserer Zeit nicht nur in verschiedenen Bereichen und Formen wirksam sieht, sondern auch unterschiedliche Antworten auf die als krisenhaft empfundene Gegenwart entwickelt, die von Annahme und Akzeptanz von Liminalität als permanent gewordenem Zustand bis hin zu auch einander diametral entgegengesetzten Auswegen reichen. Die poetische Sprache selbst wird ‚liminal‘ und eröffnet in manchen Texten Sinn im und Perspektiven zum Umgang mit Liminalität.

In der Gegenwart verfestigt sich der Eindruck permanenter Liminalität weiter, wofür auch Bruno Latours „Terrestrisches Manifest“32 von 2017 spricht. Latour beschreibt ein omnipräsentes apokalyptisches Gefühl: dass die Menschheit in einen „Abgrund“ zu stürzen oder von einem „Malstrom“, wie der Protagonist von E.A. Poes Erzählung33, in die Tiefe gerissen zu werden droht.34 Die neue „universelle Conditio humana“, „die neue Universalität“ sei „das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt.“35 Es sei durch die reale Gefahr hervorgerufen, dass die Menschheit ihren Lebensraum verliere.36←18 | 19→Denn die „ERDE“ – in Grossbuchstaben gesetzt – „schlage“ als neuer „Politik-Akteur37 der Weltgeschichte „zurück“38, indem sie ihre Ausbeutung durch die Menschheit mit Naturkatastrophen und dem drohenden Klimakollaps sowie auch Migrationswellen39 beantworte. Das Anthropozän sei „eine das ganze Erdsystem tangierende Erschütterung“, die „den Begriff der Natur wie den des Menschen“ verändere und „einen wahrlich in Schockstarre versetzen“40 könne: Latour sieht die Menschheit heute also in einer mit Benjamins „Engel der Geschichte“ vergleichbaren Situation.

Latour lässt auf seine Diagnose einen Therapievorschlag folgen, ein sozialistisch-materialistisches Programm, das eine „neue Welt“41 mit einem „neuen Fundament“42 unter den Füßen verspricht, das eine grundsätzlich andere Qualität haben soll als in unserer alten Welt. Latour knüpft die Verwirklichung des Programms nicht an politische Maßnahmen, sondern an die Bedingung, dass der Mensch sich verändern müsse, also gleichsam an eine ‚innere Revolution‘43, denn die „neue Welt“ mache „eine andere psychische Ausstattung erforderlich“44. Die zu entwickelnden Fähigkeiten beschreibt Latour mit Begriffen und Metaphern, die Teil eines sich durch das ganze Buch ziehenden literarisch-bildhaften Netzwerks sind: sich im „Atmosphärischen“ als „Subversion der zeitlichen wie räumlichen Stufen und Grenzen“45 bewegen zu können, „sich innovativ Grenzen zunutze“ zu machen46 und „in der tausendfach gefalteten ERDE“ zu „graben“47. Mit Hilfe dieser neuen psychischen Fähigkeiten soll die Menschheit zugleich „weltbezogen“ (statt globalisiert) und „bodengebun←19 | 20→den“ (lokal, traditions- und geschichtsbewusst, aber nicht national) werden48 und sich ihren Lebensraum jenseits von Staatsformen und allen möglichen kulturellen, politischen, sozialen und anderen Normen und Grenzen untereinander und mit allen Lebewesen sowie mit der ERDE selbst aushandeln können.49

Latour entwirft die „neue Welt“ nach dem Vorbild von Deleuzes und Guattaris oben bereits genanntem „glatten Raum“ in Absetzung vom „gekerbten Raum“50 der alten Welt mit ihrer ökonomischen Kartografierung51. Grenzlosigkeit und Grenzziehung in fließender Transformation entsprechen dem „nomadischen Prinzip“, das den „glatten Raum“ ermöglicht. Auch die „Kriegsmaschine“, mit der das „Nomadische“ arbeitet, findet sich bei Latour indirekt wieder, denn das Aushandeln der Interessen ist konflikthaft, also eine Art ‚Krieg aller gegen alle‘52, aller Einzelnen und ihrer Interessensgemeinschaften mitsamt der ERDE und ihren nichtmenschlichen Wesen. Liminalität erscheint damit bei Latour als Dauerzustand dieser „neuen Welt“ – ähnlich, wie es Kirill Korchagin in seinem Beitrag in diesem Band als von links inspiriertes politisches Modell im Schaffen Sergij Žadans darstellt.

Die drei zu gewinnenden psychischen Fähigkeiten bauen auf altbekannten auf, mit dem Unterschied, dass sie nicht mehr hierarchisch, sondern selbstregulativ funktionieren sollen: Latours Utopie arbeitet egoistisch53, ←20 | 21→denn jeder hat, wie „Diogenes […] Anrecht auf eine Tonne“54, allerdings muss der Einzelne – wobei Poes Erzählung über den Malstrom als Parabel genommen wird – das reich mit Fischen beladene „Schiff“ (den Nationalstaat oder auch alles, was über den lebensnotwendigen Besitz hinausgeht) verlassen, um sich in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Malstroms selbst dem Abgrund entziehen zu können. Der Egoismus findet seine Begrenzung im Lebensnotwendigen („Mein Königreich für eine Tonne!“55) sowie in den Gesetzen der Umwelt und dem Streben der Anderen (zum Glück des Protagonisten in Poes Erzählung vertrieb sein Bruder ihn vom Ring und zur Tonne, an der dieser zuvor sich festgehalten hatte!). Latours Modell ist anthropozentristisch, wie die von ihm zitierte Formel Pascals verbildlicht: dass der Mittelpunkt (der Mensch) überall (die Welt) sei.56 Es geht Latour explizit nicht um die Natur als solche oder die Erde als Planeten und Teil des Kosmos – begrenzt auf das „TERRESTRISCHE“ (gemeint ist wesentlich die – nutzbare – Humusschicht der Erde)57, spielt die „ERDE“ in seinem Modell nur insoweit eine Rolle, als sie der Lebensraum des Menschen ist, der dessen Streben begrenzt und so an den Aushandlungen um das Leben aktiv mitwirkt. Und nicht zuletzt ist Latours Utopie materialistisch, da es ihm ausschließlich um die Lebensgrundlage, die überlebensnotwendigen ‚Bedürfnisse‘, gefasst im Bild von „Tonne“ und „Boden“, geht. Die Wende von der Ausbeutung zum←21 | 22→Selbstregulativ, sich wechselseitig begrenzen zu lassen und umgekehrt auch die positive Seite der Abhängigkeiten zu nutzen, wird für ihn durch die Realität des Abgrunds erzwungen – denn anders gebe es kein Überleben: wie der Bruder des Protagonisten in Poes Erzählung, der das Schiff nicht loslassen möchte, vom Malstrom verschlungen wird.

Entgegen der Intention des Autors, ‚hinter seinem Rücken‘, ist jedoch in seiner Beschreibung der zu entwickelnden Fähigkeiten sowie der Metapher des Abgrunds ein Gegenbild angelegt, welches Latours Utopie einer „neuen Welt“ linker postmodernistischer Couleur in eine mystische und spirituelle Weltsicht verkehrt.

Der ‚Abgrund‘ ist eine traditionsreiche apokalyptische und mystische Metapher für die Begegnung mit dem ‚Jenseits‘ einer ‚Göttlich-Geistigen Welt‘, die den Menschen, der nicht über die für diese Begegnung notwendigen Fähigkeiten verfügt, vernichtet – zuletzt prominent in diesem Sinn ausgebildet in der Literatur der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, das sich zumindest in manchen Kulturen als apokalyptische Schwellenzeit verstand (so besonders etwa in Russland58).

Latours Formulierung der neuen Fähigkeiten impliziert drei der klassisch vier Elemente, die auch immer wieder als leitende Metaphern in seinem Text figurieren: das Atmosphärische“ steht für die Luft, die keine Grenzen kennt; die beständige Transformation von Grenzen, ihre Aufhebung und Neubildung, verweist auf das Wasser, das in Latours Text als rekurrierendes Bild für den Abgrund verwendet wird, aus dem es sich zu retten gilt; und explizit genannt wird immer wieder die Erde (Humus) als Todes- wie Lebensprinzip. Die Elemente zielen auf das Erlernen von drei Tätigkeiten, die auch im Text angedeutet werden: implizit nur das Fliegen, durch das Poe-Zitat eingebracht das Schwimmen und explizit schließlich das „Graben“. Diese Tätigkeiten sollen durch die neue „psychische Ausstattung“ ermöglicht werden, d.h. stehen für die Entwicklung von seelisch-geistigen Fähigkeiten.

Auch wenn Latour es wohl kaum beabsichtigt haben wird, machen die Kombination der drei Elemente und der entsprechenden Tätigkeiten als Bild für psychische Entwicklung, zudem im Kontext der Metaphorik von Abgrund und liminaler Phase, eine Lesart durch die Brille der mystischen Tradition möglich, ja fordern diese geradezu heraus: Der Menschheit als Neophyt über dem Abgrund stehen eine Luftprobe, eine Wasserprobe und die Todesbedrohung (es fehlt bei Latour die Feuerprobe) bevor, wie sie etwa das Freimaurerritual – an ältere Traditionen anknüpfend – für den Initianden vorsah. Bekanntheit erlangten diese Prüfungen beispielsweise durch ihre Verarbeitung in Mozarts „Zauberflöte“ (das Libretto stammt von dem Freimaurer Emanuel Schikaneder).

In einigen Beiträgen dieses Bandes sind Ansätze zu einer spirituellen Deutung der durch solche Proben zu entwickelnden Fähigkeiten angelegt: ←22 | 23→Elena Švarc und Gennadij Ajgi unternehmen im Medium des Gedichts Versuche eines Vorstoßes in die Transzendenz. Paul Celan gewinnt das Ich am Du und sieht beide als nur in ihrer Beziehung für wirklich an; Anna Glazova und Ol’ga Sedakova lassen in ihren Gedichten Subjekt und Objekt, die Grenzen zwischen den Menschen sowie der Natur transparent werden, und Günther Anders fordert ‚moralische Philosophie‘, die durch einen Subjekt und Objekt übergreifenden und in der Transzendenz wurzelnden Akt möglich wird. Polina Barskova und Andrej Levkin schließlich gewinnen aus der Erfahrung von Tod, Trauma und Nichts Sinn, der in die Geschichte, aber auch in eine offene, erst zu gestaltende Zukunft führt.

Transition und Transgression – die Transformation von Grenzen und ihr Überschreiten – verwandeln in solchen Versuchen das Selbstverständnis (vom ‚Ich‘ zum ‚Selbst‘), das Naturverhältnis (die Menschheit entdeckt sich als Teil des Kosmos) und die Vorstellung vom Tod (als Tor zu einem anderen Sein).

Aber auch Latours Zitat von Pascals Bild hat eine Vorgeschichte, die ihm eine spirituelle Bedeutung unterschiebt: In den frühesten Verwendungsnachweisen wurden Kreis (Sphäre) und Punkt gemeinsam, als Relation, und nicht nur einseitig ausgehend vom Punkt oder dem Umkreis her, gedacht. In seiner mittelalterlichen Genese wurde das Bild mit der Annahme von Unendlichkeit verbunden – weshalb es als theologisches Bild für die Trinität, aber auch für das Verhältnis des Menschen zu Gott und Universum Geschichte machen konnte.59

Die neuere Lyrik bewegt sich zwischen den Polen einerseits einer weltimmanent verbleibenden Liminalität mit ihrem Aggressionspotential der Grenzverhandlungen und andererseits Versuchen, die Grenzen des Menschen zu transzendieren – zum Anderen, zu Natur und Kosmos, in eine geistige Dimension.60 Die Sprache erscheint dabei weniger als Medium, Material und Ausdrucksmittel, denn als Akteur, der auch ein Eigenleben entfalten kann – als Muse und Helfer, aber auch als Agent61, der ‚hinter dem Rücken‘ des Autors gänzlich andere Sinnhorizonte eröffnen kann, als dieser sie intendiert haben mag. Latour, der vielfältig Metaphorik und literarische Zitate←23 | 24→einsetzt, hat mit diesem ‚Akteur‘ wohl nicht gerechnet: Die poetische Sprache subvertiert Diagnose und Utopie seines neosozialistischen „Manifests“ in eine mystisch-spirituelle Deutung unserer Gegenwart, der zufolge die Menschheit auf der Schwelle eines neuen Zeitalters steht, welches von ihr, will sie überleben, die Entwicklung von Transzendenzfähigkeit fordert – gerade das Gegenteil dessen, was der Autor verkündet. Die von Latour für den Weg aus dem „Malstrom“ geforderte „kaltblütige Aufmerksamkeit“62 sollte, um mit Anton Ehrenzweig zu sprechen, um die Entwicklung ‚schwebender Aufmerksamkeit‘63 erweitert werden, welche das Liminale des eigenen Bewusstseins und seiner Äußerungen wahrzunehmen vermag, oder, um mit Harald Schwaetzer in dem Beitrag zu Anders in diesem Band zu sprechen: ein Bewusstsein der ‚Überschwelligkeit des Überschwelligen‘ zu erwerben.

Sind gerade Kunst, Literatur und Philosophie heute vielleicht so etwas wie Übungsfelder für neue „Engel der Geschichte“, um ‚auf der Schwelle‘ und ‚mit der Schwelle‘ leben zu lernen?

Literatur

Benjamin, W. (GS I/1): Gesammelte Schriften. Band I/1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M., 1991.

Boge, Ch. (2009): Outlaws, Fakes and Monsters. Doubleness, Transgression and the Limits of Liminality in Peter Carey’s Recent Fiction. Heidelberg.

Bräunlein, P. J. (2012): Zur Aktualität von Victor W. Turner. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden.

Deleuze, G. / Guattari, F. (1992): Abhandlung über Nomadologie. Die Kriegsmaschine. In: Dies.: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin. 481-585.

Deleuze, G. / Guattari, F. (2019): Die Wunschmaschinen. In: Dies.: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a.M. 7-63.

Ehrenzweig, A. (1974): Ordnung im Chaos. Das Unbewußte in der Kunst. Ein grundlegender Beitrag zum Verständnis der modernen Kunst. Aus dem Englischen übertragen von Gerhard Vorkamp. (Englisch 1967). München.

Flasch, K. (2013, Hg./ÜS.): Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Übers. u. Komm. v. K. Flasch. 3. Aufl. München.

Friedrichs, E. / Stahl, H. (2020, Hgg.): Субъект и лиминальность в современной литературе. Subjekt und Liminalität in der Gegenwartsliteratur. Band 1: Границы, пороги, лиминальность и субъективность в современной русскоязычной поэзии. Berlin.

Geist, P. (2019): Ahnung? Erkenntnis? Antizipatorisches in der DDR-Lyrik der Vor-Wende-Zeit. In: Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik. Band 1 (2019): Lyrik und Erkenntnis. Herausgegeben von Ralph Müller und Friederike Reents. 163-181.

Details

Seiten
VIII, 496
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631834381
ISBN (ePUB)
9783631834398
ISBN (MOBI)
9783631834404
ISBN (Paperback)
9783631830758
DOI
10.3726/b17545
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Russischsprachige Lyrik Deutschsprachige Lyrik Komparatistik Transnationale Literatur Historische Traumata Ostasiatische Lyrik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. VIII, 496 S., 3 farb. Abb., 2 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Matthias Fechner (Band-Herausgeber:in) Henrieke Stahl (Band-Herausgeber:in)

Henrieke Stahl ist Professorin für slavische Literaturwissenschaft an der Universität Trier und Leiterin der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe FOR 2603 „Russischsprachige Lyrik in Transition: Poetische Formen des Umgangs mit Grenzen der Gattung, Sprache, Kultur und Gesellschaft zwischen Europa, Asien und Amerika". Matthias Fechner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projektverbands „Transkulturalität und ihre Grenzen: Wechselbeziehungen zwischen Schlüsselregionen in Europa und Ostasien" (Forschungsinitiative Rheinland-Pfalz) an der Universität Trier; Research Associate der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe FOR 2603.

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Titel: Subjekt und Liminalität in der Gegenwartsliteratur
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