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Reisen in der deutschen Literatur: Realität und Phantasie

von Berta Raposo (Band-Herausgeber:in) Christian Prado-Wohlwend (Band-Herausgeber:in)
©2021 Sammelband 342 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich mit dem Themenkomplex Reise in all seiner Bandbreite, von der imaginierten Reise in phantastische oder reale Länder bis hin zur Niederschrift oder Chronik von Reiseimpressionen. Die Sichtweise des Mittelalters findet genauso Interesse wie die ästhetischen Haltungen des angehenden 21. Jahrhunderts. Die Bildungsreise, der Massentourismus, die imaginäre Reise, die Reiseutopie u. a. kommen in Texten der deutschen Literatur aus mehreren Jahrhunderten zum Ausdruck. Sie ermöglichen es dem Leser und der Leserin, spannende Einblicke in die Literatur des Reisens zu erwerben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Autorenverzeichnis
  • Ein Vorwort (Reinhold Münster)
  • Einleitung (Berta Raposo/Christian Prado-Wohlwend)
  • Erecs âventiure-Fahrten – unterwegs mit got und wîp (Dennis Korus)
  • Von Damen- und Weibsbildern „Frauenskizzen“ im Reisetagebuch Thomas Platters d.J. (Eckhard Weber)
  • Valencia diacrónica: los tres viajes de Moritz Willkomm (Ingrid García-Wistädt)
  • Franz Lorinser en España: impresiones de un sacerdote católico (María José Gómez Perales)
  • Valencia entre el mito y la realidad en Eine Herbstfahrt nach Spanien de Rosa von Gerold (Mireia Vives Martínez)
  • Auf zur Kur – Die Russen kommen. Periplo literario con destino Meran / Merano (Olga García)
  • „Es war Reiselust, nichts weiter“ Imaginationen des Reisens in Thomas Manns Der Tod in Venedig. (Friedhelm Marx)
  • Reise und Erotik in Robert Müllers Werk (Mihaela Zaharia)
  • Lesabéndio, de Paul Scheerbart, como transformación del paradigma del relato de viajes (Francisco Manuel Mariño)
  • Hans Dominiks Zukunftsroman Die Spur des Dschingis-Khan. Reisen und Siedlung in Zentralasien mit einer Klimautopie im Hintergrund (Jesús Pérez-García)
  • Kontrollverlust erzählen in Thomas Manns Mario und der Zauberer: ein tragisches Reiseerlebnis (Francesca Teltscher Taylor)
  • Die Reise nach Spanien von Gunnar Gunnarsson und ihre literarische Bearbeitung für die deutsche Leserschaft durch Helmut de Boor (Macià Riutort Riutort)
  • Wir wechseln die Länder weit öfter als die Kleider: Reisen im Werk Erika Manns (Kathrin Holzapfel)
  • “Unser Verlangen nach den großen und flachen Horizonten”: imágenes de México en la narrativa de Max Frisch (Isabel Hernández)
  • Reiselärm und Schreibarbeit. Zu einer produktiven Koinzidenz im Schreiben Peter Handkes/Ein episches Ereignis (Tanja Angela Kunz)
  • Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus: eine außergewöhnliche Bildungsreise (Isabella Leibrandt)
  • Ferien für immer o la denuncia del turismo de masas a través de la moralidad dandi (Cristina Paneque de la Torre)
  • La fatiga del viaje: el Camino de Santiago en Hape Kerkeling (María Rosario Martí Marco/Pedro Hernández Verdú)
  • Utopische Gegenwelten: Christoph Ransmayr, Atlas eines ängstlichen Mannes (Rolf-Peter Janz)
  • Entre lo real y lo imaginario. El viaje al Ártico en Die Schrecken des Eises und der Finsternis de Christoph Ransmayr (Manuel Maldonado-Alemán)
  • Die Reisende als Erinnernde. Über Katja Petrowskajas Reise in den Osten als Reise in die Vergangenheit (Sanna Schulte)
  • Das Prinzip Reise: Sehnsucht nach dem eigenen Ich in den Werken von Christian Kracht (Şebnem Sunar)
  • Zwischen Bildungs- und Heimatliteratur Wolfgang Herrndorfs Tschick und Rolf Lapperts Pampa Blues – Das Motiv der Reise im deutschen Jugendroman der Gegenwart (Carlo Avventi)
  • „Nichts Menschengemachtes – nichts, was man interpretieren muss.“ Lanzarote als Handlungsschauplatz in den Romanen Nullzeit und Neujahr von Juli Zeh (Francisca Roca Arañó)
  • Destinationskrimis als identitätsstiftende Kulturräume. Die Stadt Valencia in Lokalkrimis deutscher Autoren (Isabel Gutiérrez Koester)
  • Reihenübersicht

Autorenverzeichnis

Francisca Roca Arañó

Universitat de les Illes Balears

Carlo Avventi

Pädagogische Hochschule Heidelberg

Olga García

Universidad de Extremadura

Ingrid García-Wistädt

Universitat de València

Isabel Hernández

Universidad Complutense de Madrid

Kathrin Holzapfel

Universidad del País Vasco

Rolf-Peter Janz

Freie Universität Berlin

Isabel Gutiérrez Koester

Universitat de València

Dennis Korus

Universität Passau

Tanja Angela Kunz

Humboldt-Universität Berlin/Universität Greifswald

Isabella Leibrandt

Universidad de Navarra

Manuel Maldonado-Alemán

Universidad de Sevilla

Francisco Manuel Mariño

Universidad de Valladolid

María Rosario Martí Marco

Universidad de Alicante

Mireia Vives Martínez

Universitat de València

Friedhelm Marx

Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Reinhold Münster

Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt

María José Gómez Perales

Universitat Politècnica de València

Jesús Pérez-García

Universidad de Valladolid

Christian Prado-Wohlwend

Universitat de València

Berta Raposo

Universitat de València

Macià Riutort Riutort

Universitat Rovira i Virgili

Sanna Schulte

Universität Wien

Şebnem Sunar

Istanbul Universität

Francesca Teltscher Taylor

Monash University

Cristina Paneque De La Torre

Universitat de València

Pedro Hernández Verdú

Universidad de Alicante

Eckhard Weber

Universitat de València

Mihaela Zaharia

Universität Bukarest/Rumänien

Ein Vorwort

Reinhold Münster

Hochschule für angewandte Wissenschaften
Würzburg-Schweinfurt

Seit seinen Anfängen in der dunklen Steinzeit war der Mensch unterwegs, wanderte als Nomade durch liebliche Auen, sumpfige Tundren, dichte Urwälder, durch Wüsten oder über die Gebirge, jagte, kämpfte, sammelte Früchte und Wurzeln, besuchte benachbarte Clans oder Heiligtümer, schweifte durch die Lande und erkundete dabei die Natur. Seine Heimat war da, wo er seine Zelte aufschlug. Die Tatsache, dass der Mensch unterwegs war und noch immer ist, real und in der Sprache und Kultur, könnte als eine anthropologische Konstante definiert werden. In der Philologie und Philosophie sprach man im 20. Jahrhundert vom „unbehausten Menschen“ und von dessen „transzendentaler Obdachlosigkeit“. Die Erfahrungen der displaced persons nach zwei grauenhaften Weltkriegen trugen zu einer solchen Bewertung bei.

Mit der Sesshaftigkeit des Menschen änderte sich sein Verhalten. Nun existierte ein festes Haus, ein Dorf, eine Stadt, ein Mittelpunkt, von welchem aus er seinen Horizont erweiterte, andere Kulturen und den Raum um sich herum wahrnahm. Zu diesem Zentrum kehrte er in der Regel zurück. Das konnte, einmal von zuhause aufgebrochen, eine kurze Strecke von kurzer Dauer sein, eine kleine Wanderung, ein Spaziergang oder Ausflug durch die Gärten, halb Zivilisation, halb Wildnis, rund um die Stadt liegend, oder aber eine lange Distanz, wobei der Weg manchmal eine gefühlte Ewigkeit dauern konnte. Manche brachen auf und kehrten nicht wieder zurück. (Sie traten vielleicht die Reise ins Jenseits an.)

Nicht nur der anthropologische Blick, auch unsere Sprachen verraten viel über das Reisen. Das Wort „Reise“ enthält in romanischen Sprachen den Weg in sich, der zurückzulegen war; im Lateinischen sagte man „iter facere“, eine Strecke zurücklegen. Im Deutschen erzählt es von einer anderen Herkunft: dem Kriegszug und, soll Jakob und Wilhelm Grimm geglaubt werden, auch von der Auferstehung. Ein Wanderer sammelte Erfahrungen und galt als „bewandert“, wenn er ritt als „sattelfest“ oder gar „gut beschlagen“. Erreichte er mit dem Schiff eine fremde Welt, dann lobte man ihn als „erfahren“. Später kam der Begriff des Touristen hinzu, zum ersten Mal in England um 1800, ab 1830 auch im Wörterbuch der Brüder Grimm anzutreffen. Das Wort „Tour“ verrät die Bewegungsrichtung; wie im Tanz dreht sich der Reisende, bricht auf und kehrt zurück. Um wegzugehen, benötigte der Ritter des Mittelalters die Erlaubnis seiner edlen Dame, den Urlaub. Schon die Römer kannten einen arbeitsfreien Tag, die Ferien. In der Regel brach man auf in die Fremde, man war weit weg, besonders als Legionär. Ex terra sagte der Römer übertrieben dazu.

Eine Reise konnte viele Funktionen erfüllen, dem Besuch von an fernen Orten wohnenden Mitmenschen dienen; unterwegs war man Gast in einem Gasthof. Sie konnte eine Pilgerfahrt, ein Kriegszug oder eine Flucht sein, in ←13 | 14→kaufmännischer Absicht erfolgen, eine Bildungs- und Studienintention aufweisen. Manche begaben sich auf der Suche nach Gesundheit ins Heilbad. Die Reise war oft Entdeckungsfahrt oder touristisches Ereignis. In dieser Eigenschaft befriedigte und befriedigt sie die Abenteuerlust, die allgegenwärtige menschliche Neugierde, manchmal auch die Sehnsucht oder einfach nur das Bedürfnis nach Ruhe und Stille. Sie dient dem Erinnern (an einen Erinnerungsort), der Selbstfindung und -erfahrung, der Erweiterung der eigenen Bildung oder der Ausbildung einer Identität. Sie kann Reise an die Orte und Zeiten der Kindheit oder Jugend sein, eine existentielle Form, auch als Fahrt ins Unterbewusste, annehmen, oder eine transzendentale Form entwickeln und an religiöse Stätten führen, um dort die Gottheit zu verehren. Sie kann aber auch der individuellen und gesellschaftlichen Aufklärung dienen, Wissenschaft und Erfahrungen in der Gelehrtenreise verbinden. Im interessantesten Fall verbindet sie Natur, Mensch und Transzendentes miteinander. Einige dieser Aspekte werden im vorliegenden Band ausgearbeitet und in unterschiedlicher Perspektive dargeboten.

Aus Trampelpfaden wurden befestigte Straßen, auf welchen gewandert, geritten, später gefahren und gerast wurde, aus Flüssen wurden Wasserstraßen; das Meer wurde mit verbesserten Schiffen auf festgelegten Routen durchsegelt, später mit dem Dampfer (auch über vom Menschen erbaute Kanäle wie den Suezkanal oder Panamakanal) durchquert. Über Luftstraßen erreicht man heute schnell viele touristische Ziele, die rund um den Globus verteilt liegen. Die Mobilität der Touristen erhöhte sich rasant, indem neue Techniken dank eines durchorganisierten Transportwesens und einer nützlichen Infrastruktur das Reisen erleichterten. Bahnhöfe, Raststätten, Flughäfen, Restaurants und Hotels, in der Regel „Nichtorte“ einer ungleichzeitig gewordenen Gleichzeitigkeit, die fast immer gleich aussehen und die gleichen Funktionen wahrnehmen, sollen das Reisen beschleunigen. Züge der Eisenbahn, Automobile, Schiffe und Flugzeuge eröffneten Wege in immer neue Regionen der Erde in immer kürzerer Zeit; Brücken und Tunnels halfen dabei. Raketen düsten in den Kosmos hinaus, brachten schon mehr als 550 Astronauten in das All und zwölf von ihnen landeten auf dem Mond. Derzeit bereitet sich die Menschheit auf einen bemannten Flug zum Planeten Mars vor.

Im Jahr 2018 waren rund 1,4 Mia. Menschen als Touristen unterwegs. Ungefähr die Hälfte von ihnen reiste nach Europa. Die Reiseindustrie gehört heute zu einem der wichtigsten Unternehmenszweige weltweit. Grenzüberschreitende Reisen machen im Dienstleistungsbereich bis zu 30 Prozent des Welthandels aus. Sieben Länder teilen sich derzeit die Hälfte aller Umsätze: USA, England, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland und Österreich.

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Ohne Hilfsmittel lässt sich schlecht reisen. Der Koffer/Trolley wäre ein solches Utensil, ohne das die Reise heute kaum gelingen wird. Aber auch der Wohnwagen, das Campingmobil und das Zelt, der Rucksack, früher das Felleisen, die Wanderschuhe, die Zeitschrift aus der Buchhandlung am Bahnhof, der gute alte Fotoapparat oder heute das Smartphone, die Sonnencreme und -brille oder die Kreditkarte erleichtern das Unterwegssein. Und natürlich sollte man den Voucher des Reiseunternehmens und die Fahrkarten nicht vergessen. Für manchen wurden Packlisten im Internet obligatorisch für die Reisevorbereitung: Wie viel wiegen die Ohrstöpsel, um im Hotel in Ruhe schlafen zu können oder unterwegs Musik zu hören? Heute, so scheint es, will man unbeschwert durchs Leben reisen.

Schon früh dienten Portolane der Seefahrt, Straßenkarten für den Fußmarsch oder die Fahrt mit der Kutsche. Die älteste bekannte Karte ist die Tabula Peutingeriana, die immer wieder erweitert wurde, deren früher Kern aber schon den Weg nach Indien (Alexander d. Gr.) wies. Die Karte ist ein Itinerar und bezeichnet die Orte (Städte und Poststationen), die ein Reisender auf dem Weg aufsucht, verfügt schon über Einträge zu Gebirgen, Flüssen, Seen und Wäldern. Die Karten dienten der Orientierung, waren aber auch Wissensspeicher. Sie dienten nicht nur der politischen Macht, um Grenzen von Territorien aufzuzeigen, sie veränderten radikal das Wissen über die Welt. Die Erde als Scheibe: Das galt schon einem durchschnittlichen Stadtbürger im Spätmittelalter als eine lächerliche Idee.

Die Weltkarten der frühen Christenheit (Londoner Psalterkarte, Ebstorfer Karte) positionierten Jerusalem im Zentrum, die späteren Atlanten präsentierten die Welt als Theater (Abraham Ortelius, Gerhard Mercator). Martin Waldseemüller zeigte Gebiete, die bisher nicht kartographisch dargestellt wurden und gab „Amerika“ den Namen. Der älteste „Erdapfel“ von Martin Behaim aus Nürnberg (1493) oder die Schedel’sche Weltchronik aus dem gleichen Jahr kannten den neuen Kontinent noch nicht. Die Verbesserung der Messtechnik – Alexander von Humboldt vermaß auf dem Weg nach Madrid die spanische Meseta noch mit einfachen Mitteln – und die Einteilung der Erde in Längen- und Breitengrade ermöglichte unterschiedliche Projektionen für Atlanten, Globen und Landkarten und erleichterten vor allem die Seefahrt. Heute liefern Satellitensysteme wie das „Global Positioning System (GPS)“ exakte Daten für den Reisenden.

Das Reisebüro veranstaltet und vermittelt Reisen. Schon im alten Rom gab es Institutionen, die als Reisebüros agierten. Organisierte Reisen gab es im Spätmittelalter, vor allem die Pilgerfahrten nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela. Das ähnelte durchaus unseren Pauschalreisen. Ein erstes, echtes Reisebüro richtete um 1630 der Arzt Théophraste Renaudot in Paris ein. Dessen Idee breitete sich in der Zeit der Aufklärung in Europa aus. Spezielle Zeitschriften informierten rund um das Reisen und die Reiseziele. ←15 | 16→Die ersten organisierten Gruppenreisen fanden im deutschen Harzgebirge in den 1780er Jahren statt.

Erfolgreich wurde die Institution erst mit Thomas Cook. Dieser bot 1841 die erste Gruppenreise mit der Eisenbahn, den high tea inklusive, an. Das Unternehmen wuchs schnell und zehn Jahre später ermöglichte es für mehr als 150.000 Engländer den Besuch der Londoner Weltausstellung. Seine Werbung richtete sich an wohlhabende Arbeiter und Angestellte. Erst 2019 meldete das bis dahin erfolgreiche Unternehmen Konkurs an.

Schnell entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Nordeuropa Reisebüros. Man bevorzugte als Destinationen den Süden, Italien, Griechenland und Ägypten; der Bildungsbürger reiste gerne an die Stätten des klassischen Altertums. Die Schönheit der griechisch-römischen Statuen hatte schon Johann J. Winckelmann fasziniert. Der Raum schrumpfte und Weltreisen wurden gerne unternommen. Jules Vernes Reiseroman In achtzig Tagen um die Erde (1875) kann als Ausdruck einer neuen Mentalität gewertet werden. Henry de Toulouse-Lautrec entwarf hochmoderne Werbeplakate für das Reisen, ihm folgten Pablo Picasso und viele andere Künstler. Neue Akzente setzte die Reisefotografie. Heutzutage buchen viele Touristen über Suchmaschinen im Internet ihre Reisen, die sie sich auf „Youtube“ in kurzen Werbeclips angesehen hatten. Dieses Geschäft hat sich extrem diversifiziert.

Der Reisende informierte sich vor und während der Fahrt mithilfe eines Reiseführers in Buchform. Als ältester „Reiseführer“ gilt Pausanias mit seiner Beschreibung Griechenlands (um ca. 170 n. C.). Seine Darstellung berichtet von Sitten und Kultur, von Geschichte und Natur; sie hatte einen enzyklopädischen Anspruch. Im Spätmittelalter stand die Pilgerfahrt im Mittelpunkt, in der Regel noch als Itinerar abgefasst. In der Folge entstanden unsäglich viele Reiseberichte, die von erlebten und gemachten Fahrten erzählten; sie regten Reisen zu fernen Zielen an, im 18. Jh. ins eisige Hochgebirge und an das wilde Meer.

Einen Neuanfang versuchte Karl Baedeker. Nach seiner eigenen Rheinreise ärgerte er sich über die ungenauen und vagen Informationen aus Reiseberichten und versprach Verbesserung. Seine qualitativ hochstehenden Hinweise wurden vor Ort durch eine Inaugenscheinnahme überprüft und immer wieder aktualisiert. Die Mitarbeiter vergaben auch die berühmten Sterne als Auszeichnung für Unterkünfte oder Hotels. Seine roten, goldgeprägten Bände gelten bis heute als Standard für den Reiseführer. Genauso beliebt waren die roten Reiseführer von John Murray, beginnend 1836, oder der Guide Bleu in Frankreich ab 1841. Heute haben sich Reiseführer an die jeweiligen Milieus und Lebensstile angepasst.

Den zentralen Beitrag für die Entwicklung des Genres der Reisebeschreibung, die nicht immer leicht von einer Reiseerzählung unterscheidbar ist, lieferten die reisenden Wissenschaftler und natürlich die Entdecker. Herodot ←16 | 17→von Halikarnassos gilt nicht nur als der Vater der Geschichtsschreibung, sondern auch als Verfasser eines spannenden Reisebuches. Im Raume las er die Zeit, besuchte Ägypten, Babylon, den Vorderen Orient, die Küsten des Schwarzen Meeres, das Land der Thraker, Makedonien und die Siedlungen der Skythen. Befremdliche Bräuche lernte er dort kennen. Frauen wählten sich dort die Männer für das erotische Abenteuer einer Nacht aus, eine für einen (patriarchal erzogenen) Griechen wie Herodot schreckliche Erfahrung.

Strabon erkundete Ägypten und Äthiopien; Ausonius beschrieb in seinem Band Mosella eine anmutige Flusslandschaft, die er selbst durchwandert hatte. Der chinesische Gelehrte Xuanzang erforschte im Frühmittelalter den indischen Kontinent. Im Reiseroman Der Weg nach Westen (aus dem 16. Jh.) begleiten ihn göttliche Tiere mit menschlichen Eigenschaften. Im Gegenzug reiste Marco Polo im Frühjahr 1275 in das China des Kublai Khan. Sein Bericht erfreute Generationen mittelalterlicher Leser, auch wenn sie ihm nicht in allen Dingen Glauben schenkten. Die umfangreichsten Reisen des Mittelalters unternahm Ibn Battuta aus Nordafrika, der in 30 Jahren 120.000 Kilometer zurücklegte. Doch den am häufigsten gelesenen Reisebericht des Mittelalters schrieb Jean de Mandeville, der (angeblich) nicht nur nach Ägypten, China und Äthiopien reiste, sondern auch auf seiner Fahrt Zwerge antraf, die sich vom Geruch der Äpfel ernährten, oder Menschen, die Hundeköpfe hatten. Sein Buch inspirierte Christopher Columbus zum Aufbruch in die Neue Welt.

Die Frühe Neuzeit war die Zeit der großen europäischen Entdecker, die mit ihren Berichten über den unglaublichen Reichtum und die Fremdartigkeit des neuen Kontinents Aufmerksam erregten: Christopher Columbus, Ferdinand Magellan, Hernán Cortés, Francisco Pizarro, Vasco da Gama, Amerigo Vespucci. Francisco de Orellana machte sich auf die Suche nach El Dorado und erkundete den Amazonas; Samuel de Champlain erforschte Kanada. Missionare folgten ihren Spuren. Erst im 18. Jahrhundert bereiste James Cook die Südsee und ankerte in Australien. Vitus Bering und Georg Streller betraten in dieser historischen Phase als erste Europäer Alaska. Die Berichte der Abenteurer und Entdecker erweiterten den Horizont des Zeitalters und sorgten für eine Neuordnung des Wissens über die Welt. In Wunderkammern wurden die Artefakte dieser Entdeckungen und Eroberungen ausgestellt.

Details

Seiten
342
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631839263
ISBN (ePUB)
9783631839270
ISBN (MOBI)
9783631839287
ISBN (Hardcover)
9783631808481
DOI
10.3726/b17834
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Hodeporik Tourismus Erinnerung Fernweh Länderstereotype Utopie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 342 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Berta Raposo (Band-Herausgeber:in) Christian Prado-Wohlwend (Band-Herausgeber:in)

Berta Raposo ist Professorin für deutsche Philologie und deutsche Literatur an der Universität Valencia in Spanien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die deutschsprachige Reiseliteratur über Spanien und die nationalen Stereotype, sowie die Mittelal-terrezeption in der deutschen Romantik. Christian Prado-Wohlwend ist Lehrbeauftragter für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Valencia in Spanien mit Forschungsschwerpunkt im Bereich der älteren deutschen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der frühneuhochdeutschen Zeit.

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Titel: Reisen in der deutschen Literatur: Realität und Phantasie
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