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Freiheit denken. Protestantische Transformationen in der Gegenwart

von Malte Dominik Krüger (Band-Herausgeber:in) Constantin Plaul (Band-Herausgeber:in) Christian Polke (Band-Herausgeber:in) Arnulf von Scheliha (Band-Herausgeber:in)
©2021 Andere 280 Seiten

Zusammenfassung

Freiheit ist ein Grundmotiv evangelischer Theologie, das in den Transformationen der Aufklärung, Moderne und Gegenwart auch zur (Selbst-)Kritik evangelischer Religion führen kann. Auf diese Weise ist die evangelische Theologie produktiv herausgefordert. Die in diesem Band versammelten Aufsätze bieten entsprechende Diskussionsbeiträge aus verschiedenen theologischen und philosophischen Blickwinkeln, insbesondere unter Maßgabe aktueller Diskurse. So reicht die Spannweite der Beiträge von Überlegungen zur Aktualität der Aufklärung über den als Geist konzipierten Gottesbegriff, das Verhältnis von Religion und Geschichte und die Beziehung von Kirche und Kultur bis hin zur Frage nach dem Verhältnis von Gott und Geld.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Ziele der Aufklärung heute (Reinhard Brandt)
  • Gott als Geist
  • Pneumatologie als Differenztheorie (Michael Moxter)
  • Der Gott der Grenze: Zur Theologie Jörg Dierkens (Malte Dominik Krüger)
  • Gemacht als nicht gemacht: Das transzendentalphilosophische Absolute bei Fichte und seine Bedeutung für die Theologie (Roderich Barth)
  • Religion und Geschichte
  • Die Irritation des Fortschritts: Kritisch-konstruktive Beurteilung einer klassischen Kategorie der Religionsgeschichte (Constantin Plaul)
  • Religionsphilosophie im Horizont der Historismusdebatten (Michael Murrmann-Kahl)
  • Singularität und Differenz: Anmerkungen zur Hermeneutik Johann Salomo Semlers (Marianne Schröter)
  • Gefährdungen der Freiheit im Blick behalten: Zum Sinn des Schöpfungsglaubens (Philipp David)
  • Kirche und Kultur
  • Kunst als Denkerin der Freiheit (Anne M. Steinmeier)
  • Welche Unfreiheiten meinen wir, wenn wir über die Autonomie der Kunst reden? (Johann Hinrich Claussen)
  • Gott und Geld
  • „Gott und Geld“: Anmerkungen zur Ähnlichkeit im Widerstreit (Arnulf von Scheliha)
  • Simmels Erben: Sozio-Theologik in spätmodernen Kapitalismen (Christian Polke)
  • Erwiderung
  • Freiheitsdiskurse: Selbstreflexion durch das Gespräch mit Anderen (Jörg Dierken)
  • Reihenübersicht

Vorwort

„Freiheit denken. Protestantische Transformationen in der Gegenwart“ – unter diesem Titel fand vom 15. bis zum 16. Februar 2019 an der Martin-Luther-Universität Halle-Witteberg ein Symposion zu Ehren von Jörg Dierken in Halle (Saale) statt. Damit wurde ein Theologe und Forscher geehrt, der sich um die gegenwartsrelevante Aktualisierung jenes Grundmotivs, das die protestantische Theologie seit ihren Anfängen prägt, besonders verdient gemacht hat und der einen Monat zuvor sein 60. Lebensjahr vollendet hatte.

Der vorliegende Band versammelt die Beiträge jener Tagung und wurde um zwei weitere Texte ergänzt. Eine ausführliche Kommentierung des Jubilars zu den ihm zugedachten Texten und Stimmen beschließt diese Ausgabe.

Die Herausgeber danken der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie, die das Projekt finanziell gefördert hat. Zudem danken wir dem Verlag Peter Lang (Pieterlen/Bern, CH), namentlich Herrn Dr. Hermann Ühlein für die freundliche Aufnahme in sein Programm. Zu herzlichem Dank wissen wir uns weiterhin allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Mitwirkung und die meist zügige Einreichung ihrer Manuskripte verpflichtet. Im Prozess der Formatierung und des Korrekturlesens erfuhren wir tatkräftige Unterstützung von Tobias Grotefend, Catharina Jacob und Marcel Kreft (alle Münster).

Marburg, Halle (Saale), Göttingen, Münster

im Oktober 2020

Die Herausgeber

Reinhard Brandt (Marburg)

Ziele der Aufklärung heute

Die Kantische Aufklärungsschrift von 1784 ist eine verdeckte Kampfschrift gegen den Feudalismus für die Republik im Schutz des Monarchen. Unter der harmlosen Parole der Mündigkeit verbirgt sich die politische Autonomie der Bürger. Wir gehen aus von dieser Kantischen Idee von Aufklärung und bleiben in ihrem praktischen Gravitationsfeld.

Aufklärung ist dual, sie wendet sich gegen Truggestalten im Dunkel und setzt sich positiv ein für die Selbständigkeit des Menschen. Die Gegnerschaft tritt uns in drei Formen entgegen, überraschenderweise: Es ist das Gute, der unbedingte Glaube und die Kultur des je eigenen Volkes. Sodann schwenken wir um zu zwei positiven Zielen von Aufklärung und Selbständigkeit; es ist das Recht auf Arbeit und das Postulat des freien Erkennens und Studiums.

Das alles soll dargestellt werden in einem Panorama, in dem leicht die Übersicht verloren geht. Speriamo bene.

1. „Was ist Aufklärung?“

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (VIII 35,1–8)1

So beginnt Kant die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Es wird in der Schrift, fünf Jahre vor der Französischen Revolution, sicher nicht zu einem gewaltsamen Umsturz aufgerufen, aber auch nicht zur Belebung der eigenständigen Bildung etwa durch Lesezirkel. Was also will die Schrift? Sie enthält eine Botschaft zur gewaltlosen Auflösung der Feudalherrschaft und der Vorbereitung der Republik unter der Obhut der Monarchie.

„Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt!“2 (VIII 37,1–3) Die Trias ist als stabile Ordnung gemeint, wie ihre Wiederholung im Folgetext zeigt (VIII 37,27–32; 37,32–38,2; 38,2–41,9). Es ist eine feste Konstellation, deren Bedeutung der Leser erschließen kann und soll. Sie sind, anders als der vorher genannte Arzt, zwangsbewehrte Vertreter der drei Stände der feudalen Gesellschaft.3 Diese Stände werden gewöhnlich als „Lehr-, Wehr- und Nährstand4“ geführt5 und bezeichnen ein in sich geschlossenes staatliches System von Funktionen.6 Als solches System gelten sie als Maschine, eine Bezeichnung, die Kant aufnimmt.7 „Räsonnirt nicht!“ Dieses Verbot gilt also flächendeckend, es ist ein Verbot von Aufklärung überhaupt! „Räsonnirt nicht!“, sagen sie. Warum nur? Weil das Räsonnement aufdecken würde, dass ihre aus dem Mittelalter datierende Herrschaft, im Gegensatz zu der des Königs, ohne rechtliche Grundlage ist.

Unser Schluss von den drei genannten Berufen auf das System der feudalen Stände ist nicht allzu kühn – er ist unabweisbar. Das Ziel des vom König freigesetzten je eigenen Vernunftgebrauchs der räsonierfähigen Bürger sind keine beliebigen Bildungsgüter, keine technischen Fertigkeiten, sondern die republikanische statt der feudalen Staatsform. Schlagwörter sind: Publikationsfreiheit („Freiheit der Feder“), Menschenrechte und Würde des Menschen, Freiheit und Gleichheit aller Bürger (auch der Frauen) vor dem selbstgegebenen Gesetz. Es sind die Grundpositionen der Kantischen Rechtslehre, der heutigen Demokratien oder Republiken und der UNO. „Kein Zweifel, die in der Charta und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Grundsätze bilden den Horizont unserer Geschichte.“8

Hier zeichnet sich das Schema der rechtlichen Republik ab, wohlgemerkt Republik, nicht jener Demokratie, die es in der Intention schon in Athen gab und die Rousseau mit seiner volonté générale und dem moi commun anvisierte. Es ist die gewaltenteilige Republik, die Montesquieu im Esprit des lois 1748 und Kant 1797 in seiner „Rechtslehre“ skizziert, gegliedert als ein System von Institutionen im Gegensatz zur unmittelbaren Volksversammlung der Demokratie.9

Wir bewegen uns von jetzt an im Gebiet der praktischen Vernunft; es werden Normen entwickelt, aber keine Prognosen ihres Erfolgs gestellt. Wir sollen wir selbst als äußerlich freie Wesen werden; von einer realen Herrschaft der Vernunft fabulieren nur die voreiligen Leser, nicht der Autor selbst.

Es werden wenigstens zwei weitere, häufig verwendete Begriffe von Aufklärung hier nicht verwendet. Einmal kann der Begriff „Aufklärung“ eine Epoche bzw. ein Zeitalter benennen, so dass alle Angehörigen dieser Zeit per Geburt zu Aufklärern werden. Es können zweitens auch zu Tätigkeiten der Aufklärung alle Erkenntnisse der Natur- und Kulturwissenschaften zählen, wie sie etwa von Francis Bacon oder G. W. F. Leibniz betrieben wurden. Auch Kant beginnt seine literarische Laufbahn mit Schriften zur Physik und Astronomie und wendet sich erst später der kritischen Erkenntnisphilosophie (1781) und der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Urteilskraft (1790) zu. Im Laufe der achtziger Jahre entwickelt sich eine Vorrangstellung der praktischen vor der theoretischen Vernunft, des kategorischen Imperativs vor dem hypothetischen. In diese Entwicklung gehört die Aufklärungsschrift von 1784, ihr schließen wir uns im Begriffsgebrauch an, das Erkenntnisorgan ist die reine praktische Vernunft. Aufklärung in diesem praktischen Sinn ist mit einem „Soll“ ausgestattet.

Platon wird die Maxime zugschrieben: „Oudeis ageometretos eisito“, „Niemand soll die Akademie ohne Geometriekenntnisse betreten“. Die Mathematik ist eine Wissenschaft, die in ihrer zeitgemäßen Gestaltung von der Aufklärungsidee vorausgesetzt wird, sie steht nicht im Fokus der Aufklärung selbst. Dies ist ein Befund, den wir zur Kenntnis nehmen.

2. „El sueno de la razón produce monstruos“ („Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“), Goya 1797–1799

Blicken wir vom Ziel der Aufklärung zurück auf die Ungeheuer, die das Recht und seine Institutionen umlauern und häufig vernichten; wir könnten die Aufzählung der „monstruos“ nicht an einem Tag beenden. Ich möchte trotzdem einige der wichtigsten und gefährlichsten Abarten anführen.

a. Das Gute einfach so. Es gibt keinen Übeltäter, inklusive uns selbst, der nicht etwas Gutes will. Alle wollen für sich und die kranke Tochter, den eigenen Clan oder ganz China das Gute, das Beste, Mao Tsetung wie auch Xi Jinping. Das Idol des Guten und Besten bestimmt alle Handlungen, man sucht die Mittel, die es nach bestem Wissen erreichen lassen. Was Recht und was Unrecht ist, bemisst sich dann nach dem zuvor festgesetzten Guten; es ist nicht umgekehrt so, dass nur dasjenige gut sein kann, was dem allgemeinen Recht und der Gerechtigkeit zur Verwirklichung dient. Wer wollte kein guter Mensch sein? 1994 sandte der Rektor der Münchener Universität ein Schreiben an alle Institute mit dem Hinweis, dass es außer der Bestnote auch andere Zensuren für akademische Arbeiten gibt. Das Prüfungssystem kollabiert, wenn jede und jeder nur noch die Note 1 vergeben. Aber wir sind gute Menschen! Welche Note, bitte, möchten Sie denn?10

Hier das Recht, dort das Gute. Das bloße Recht des Mein und Dein ist von kahler Nüchternheit, das grenzenlos Gute dagegen versetzt alle poetisch aufflammbaren Herzen vom Kind bis zu den wogenden Massen auf dem Roten Platz in helles Mitgefühl und politische Bewegung. Alle Rhetorik, alle Blumengirlanden dienen dem gefühlten und geflügelten Guten. Es ist die Melodie, die alles in uns zum Mitklingen und Mitsingen bringt, die Melodie des „moi commun“, der umschlungenen Millionen, Brüder und Schwestern; nichts hemmt die Masse auf dem Rot-Roten Platz, wenn nur die Feinde zu Tode gesungen werden. Das Gute scheint gut in der grenzenlosen Überwältigung, und wehe dem, der nicht einstimmt. Erst später stehen sie vor dem entsetzlichen Grauen, dass das kollektive Scheingute angerichtet hat. Gut war die Sklavenhaltung, denn ohne sie wäre kein griechischer Tempel gebaut worden; gut waren die Häresieprozesse, denn ohne sie wäre kein Licht in die Seelen der Ketzer gedrungen, Sibirien und Guantánamo. Auch Marx entkommt dem nicht.

Der neue Polyphem Trump tönt „Me first“ und ökonomische Daten, „Me first“; das Recht richtet sich nach wirtschaftlichem eigenen Nutzen, die Wahrheit und Lüge nach eigenem Gutdünken, „fake news“ täuschen und erheitern den Hörer.

Er klärt uns auf, ohne es zu wollen: Eine Kenntnis des Menschen- und Völkerrechts ist hier nicht in Sicht. Trump, der Höhlenmensch, wüsste nicht, wovon die Rede ist.

Die Klärung des Konfliktes ist eine erste unerlässliche Aufgabe der Aufklärung: Wie wird verbindlich für alle, verständlich für viele bestimmt, was gut für uns ist? Wir sind umrandet vom Guten, es gilt, das Gute zu sortieren.

„Das wirklich Gute“ – Platon stellt auf den Gipfel der Werte das Gute selbst, das „autó to agathón“ oder „agathòn autó“. Wir nehmen auf dieses Gute aus guten Gründen keine Rücksicht. Es ist Gegenstand der Philosophen in der Polis, die zu seiner Erkenntnis ein Jahrzehnte langes Studium benötigen. Sie bilden eine kleine Elite, die die Polis lenkt und keinen institutionell gestützten Widerspruch duldet. Dieser Platonismus hat historisch nie eine Chance der Realisierung gehabt. Die moderne Aufklärung plädiert für eine Alternative. Was praktisch gut ist, soll für jeden Bürger erkennbar und befolgbar sein; er muss sich an dieser Idee bilden.

b. Der unbedingte Glaube an die Offenbarung Gottes steht dem Guten nicht nach, sondern nimmt es in Besitz; was Gott tut, ist, wie der Gläubige glaubt und verkündet, wohlgetan. „Dein Wille geschehe!“ Schrankenlos und höher als alle Vernunft.

Details

Seiten
280
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631845332
ISBN (ePUB)
9783631845349
ISBN (MOBI)
9783631845356
ISBN (Hardcover)
9783631842959
DOI
10.3726/b18226
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Kultur Geist Religion Ethik Wirtschaft Fortschritt Geschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 280 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Malte Dominik Krüger (Band-Herausgeber:in) Constantin Plaul (Band-Herausgeber:in) Christian Polke (Band-Herausgeber:in) Arnulf von Scheliha (Band-Herausgeber:in)

Malte Dominik Krüger ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie und Direktor des Rudolf-Bultmann-Instituts für Hermeneutik (RBI) an der Philipps-Universität Marburg. Constantin Plaul ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Systematische Theologie / Ethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Christian Polke ist Professor für Systematische Theologie / Ethik an der Georg-August-Universität Göttingen. Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES).

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