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Gewaltdarstellungen in der Gegenwartsliteratur

von Martin Becker (Autor:in)
©2021 Dissertation 296 Seiten

Zusammenfassung

Physische Gewalt ist ein häufiges Motiv in der Literatur. Diese Publikation untersucht die wichtigsten Elemente von Gewaltdarstellungen in der Gegenwartsliteratur und ordnet sie im ersten Teil typologisch. Der zweite Teil widmet sich emotionalen Wirkungspotenzialen von Gewaltdarstellungen und untersucht, wie Gewaltdarstellungen Sympathie, Ekel, Spannung und Komik erzeugen. Der dritte Teil identifiziert an vier Beispielromanen wichtige Themen, die mit den Gewaltdarstellungen verbunden werden. Anhand von Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin, Cormack McCarthys Blood Meridian, Bret Easton Ellis‘ American Psycho und Roberto Bolaños 2666 wird gezeigt, dass zeitgenössische Gewaltdarstellungen die Kritik von Gesellschaftsstrukturen und Kontexten von Gewalt mit Sprachreflexion verbinden.

Inhaltsverzeichnis


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1 Einleitung

„Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“1 Diese bekannte biblische Gewaltdarstellung enthält das archetypische Grundmuster jeder Gewalttat: Es gibt einen Täter, ein Opfer und eine Gewalttat, die sie verbindet. Kain ist neidisch auf seinen Bruder, und die Tat wird von Gott mit Verbannung bestraft; Gewalt hat Ursachen und Konsequenzen, von denen niedere Beweggründe und strafrechtliche Verfolgung durch eine höhere Instanz nur jeweils eine sind.

Die Darstellung von Gewalt zieht sich durch die Literaturgeschichte. Von der Zerstörung Trojas in der Ilias bis zum zeitgenössischen Thriller; jeder Leser findet in seiner Bibliothek Beispiele. Gewalt findet sich in allen Epochen und in allen Gattungen und scheint sowohl auf Autoren als auch auf Leser eine faszinierende Wirkung auszuüben. Trutz von Trotha beschreibt diese Wirkung als „Faszination der Sinnlichkeit der Gewalt, die Erfahrung eines physischen und emotionalen Erlebens, das die Grenzen des Alltäglichen verläßt“2. Gleichzeitig erschreckt uns diese Grenzüberschreitung, und die Darstellung von Gewalt geht oft mit Kritik einher. Zum einen prangert Literatur Gewalt an. Schon die Erzählung von Abel und Kain erklärt Mord zu einem illegitimen Mittel der Interessendurchsetzung, und spätestens Isaak weiß auch warum: Nur Gott darf Menschenleben fordern. Zum anderen haben Gewaltdarstellungen immer auch moralische Entrüstung und Skandale aufseiten der Rezipienten provoziert.3

Gewalt ist ein facettenreiches Phänomen. Es ist keine Kultur bekannt, die vollkommen gewaltlos lebt, und doch haben alle Kulturen verschiedene Wege ←14 | 15→gefunden, mit ihr umzugehen.4 Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich die Beschäftigung mit Gewalt in vielen Kunstwerken niederschlägt. Aus der Literatur lässt sich kein einheitliches Verständnis von Gewalt herauslesen. Stattdessen entwickeln Autorinnen und Autoren verschiedene Sichtweisen auf Gewalt und legen den Fokus auf andere Schwerpunkte in der Auseinandersetzung.

Von dieser Pluralität ausgehend hat diese Arbeit zwei Ziele. Zum Ersten soll eine Typologie entwickelt werden, die die Darstellungen von Gewalt in der Gegenwartsliteratur erfasst. Die Arbeit hat dann ihr Ziel erreicht, wenn es ihr gelingt, ein Bild von der Komplexität von Gewaltdarstellungen zu zeichnen und gleichzeitig hilft, Gewaltdarstellungen in literarischen Texten im Hinblick auf ihre jeweilige Funktion einzuordnen. Es soll demnach darum gehen, Merkmale und Funktionen von Gewalt in Texten der Gegenwartsliteratur zu beschreiben und in Typen zu ordnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Gewalt eine Funktion im Werk hat. Die untersuchten Kunstwerke werden also als Gebilde verstanden, in denen die Darstellung von Gewalt in einem bestimmten Verhältnis zum Gesamttext steht. Das impliziert auch, dass die dargestellte Gewalt nicht einfach Abbild von realer Gewalt ist, sondern spezifische poetische und ästhetische Eigenschaften besitzt. Dies bedeutet, dass Gewaltdarstellungen nicht rein mit sozialwissenschaftlichen Methoden und Begriffen untersucht beziehungsweise beschrieben werden können. Stattdessen bedarf es einer Herangehensweise, die die sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gewalt mit literaturwissenschaftlichen Methoden zusammenbringt, um der Transformation eines lebensweltlichen Phänomens in Literatur gerecht zu werden.

Die angeführten Texte sind dabei als Beispiele zu verstehen, die den jeweiligen Typ verdeutlichen sollen.5 Dabei geht es weder darum, sämtliche möglichen Beispiele aufzuzeigen, noch die einzelnen Werke umfassend zu interpretieren, sondern darum, generelle Funktionen von Gewaltdarstellungen auf Grundlage von Häufigkeiten zu beschreiben. Die Texte umfassen verschiedene Gattungen und sind sowohl der Unterhaltungs- als auch der Hochliteratur entnommen. Dahinter steht die Absicht, die Bandbereite von Gewaltdarstellungen zu ←15 | 16→zeigen. Einige Beispiele werden dabei mehrmals verwendet. Dies ist nicht einem Mangel an Beispielen geschuldet, sondern soll zeigen, dass sich die verschiedenen Kategorien und Aspekte verbinden lassen. Es ist diese Überlagerung, die die Komplexität von Gewaltdarstellungen ausmacht. Darüber hinaus gibt es bereits Einzelstudien zu Gewaltdarstellungen in bestimmten Genres oder spezifischen Werken, auf die für die Typen und Beispiele zurückgegriffen werden kann und die durch diese Arbeit in einen größeren Kontext gesetzt werden können.

Das zweite Ziel der Arbeit besteht darin zu zeigen, dass Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur sich der Gewalt in doppelter Hinsicht kritisch nähern. Zum einen beanstanden sie existierende Gewalt und sprechen über das Leid der Opfer. Zum anderen hinterfragen die angeführten Beispiele der Arbeit aber auch die Ursachen und Mechanismen von Gewalt und ihrer Wahrnehmung und fragen somit danach, wie Gewalt überhaupt beurteilt wird. Um dieses Ziel zu erreichen, analysiert und interpretiert die Arbeit vier Beispielromane, um gemeinsame Themen herauszuarbeiten.

Gewalt wird in dieser Arbeit im Sinne von Heinrich Popitz als „eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“6, verstanden. Der Gewaltbegriff dieser Arbeit bezieht sich damit einzig und allein auf die Darstellung körperlicher Gewalt zwischen Menschen. Ausgeklammert bleiben Kriegsdarstellungen sowie Gewalt gegen Tiere. Dies ist trotz vieler Überschneidungen – zum Beispiel hinsichtlich der emotionalen Reaktionen auf die Darstellungen – notwendig, um eine sinnvolle Typologisierung der Bestandteile zu gewährleisten.

Der Gewaltbegriff ist somit enger gefasst als in anderen literaturwissenschaftlichen Studien. Hania Siebenpfeiffer unterscheidet in ihrem Artikel zur literaturwissenschaftlichen Gewaltforschung im interdisziplinärem Handbuch Gewalt zwischen zwei Arten von Studien: zum einen solche, die die Gewalt in der Literatur zum Gegenstand haben, also Darstellungen von Gewalt als „Sujet, Motiv oder Thema“; zum anderen solche, die die „Gewalt von (literarischer) Sprache“ untersuchen, „wobei davon ausgegangen wird, dass literarischen Texten eine individuelle ästhetische Gewaltförmigkeit eigen ist.“7 Gewalt wird dann zu einer Metapher, die beschreiben soll, dass Sprache verletzen kann, dass ein ←16 | 17→Text zerstörerisch mit grammatischen Strukturen umgeht oder Sprache Machtverhältnisse reproduziert, denen sich der Mensch nicht entziehen kann.8

Diese Arbeit verzichtet im Gegensatz dazu auf jegliche metaphorische Verwendung des Gewaltbegriffs. Gertrud Nummer-Winkler arbeitet nämlich überzeugend heraus, dass das Besondere der Gewalt gerade in ihrer Körperlichkeit liegt. Physische Gewalt ist für sie unter Rückgriff auf Popitz eine Möglichkeit jeder menschlichen Interaktion, die deshalb wirksam wird, weil jeder Mensch weiß, wie leicht er selbst körperlich zu verletzten ist9. Dies bedeutet auch, dass das Opfer dem Täter auf eine viel existenziellere Art ausgeliefert ist, als dies beispielsweise bei Beleidigungen der Fall sei. Mithilfe der Sprechakttheorie von John Langshaw Austin macht Nummer-Winkler darauf aufmerksam, dass eine Demütigung als Akt der Kommunikation nur dann funktioniert, wenn das Opfer der Beleidigung diese annimmt. Die Mitwirkung des Opfers ist bei physischer Gewalt nicht notwendig.10

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Die Vorstellung, dass Literatur gewaltförmige Eigenschaften habe, ist folglich keine wissenschaftliche, wertneutrale Analyse, sondern eine Rhetorik, die Literatur kritisiert. Etwas als Gewalt zu bezeichnen ist nach Friedhelm Neidhart eine Strategie zum Skandalisieren und Diskreditieren von Gegnern, weil Gewalt in der westlichen Gesellschaft gemeinhin als verwerflich gelte. Wem die Ausübung von Gewalt vorgeworfen werde, auf den werde Rechtfertigungsdruck ausgeübt.11 Damit ist an dieser Stelle nicht gemeint, dass Literatur grundsätzlich nicht kritikwürdig sei; stattdessen muss der Fokus einer Studie über Gewalt darauf liegen, wie genau Autorinnen und Autoren physische Gewalt und gesellschaftliche Zustände oder bestimmte Diskurse zusammenbringen, um diese zu kritisieren. Darüber hinaus muss es möglich sein, zwischen Propagandaliteratur, die rhetorisch bewusst darauf angelegt ist, eine politische Sicht zu stützen, und den Eigenschaften von Sprache allgemein zu unterscheiden. Ein vorschnelles In-eins-Setzen dieser verschiedenen Ebenen ist also hinderlich für das literaturwissenschaftliche Arbeiten, da sonst nicht klar abgrenzbar ist, wann eine sprachliche Äußerung einen Gewaltakt darstellt und wann nicht. Es werden folglich nur Texte betrachtet, in denen Szenen oder Episoden zu finden sind, in denen sich Figuren physische Gewalt antun. Gewalt wird somit in dieser Arbeit als literarisches Motiv verstanden, also als „situationsgebundenes Element, dessen inhaltliche Grundform schematisiert beschrieben werden kann“.12

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Teil A widmet sich den allgemeinen, formalen Eigenschaften von Gewaltdarstellungen. In der eingangs zitierten Darstellung des Brudermords wurde bereits auf das Grundmuster jeder Gewalttat, bestehend aus Täter, Opfer und Gewalthandlung hingewiesen. Peter Imbusch beschreibt darüber hinaus noch weitere Merkmale aus Sicht der Soziologie, die für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden können, wie die Umstände der Gewaltausübung, ihre Legitimation, Ursachen und Motive13. In Kapitel 2 werden diese Merkmale als typische Elemente von literarischen Gewaltdarstellungen herausgearbeitet.

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Kapitel 3 beschreibt verschiedene Typen von Perspektiven, die für die Unterscheidung von Gewaltdarstellungen grundlegend sind. Gewalt kann aus Sicht des Opfers, des Täters oder aus Sicht einer dritten Person beschrieben werden, die auf unterschiedliche Weise am Geschehen beteiligt sein kann, und sei es nur als Beobachter.

Darüber hinaus unterscheidet sich Gewalt deutlich in der Darstellungsart, die in Kapitel 4 in den Fokus rückt. Hier ist erstens danach zu fragen, wie ausführlich die Gewaltdarstellung erfolgt. Zweitens ist es wichtig, ob die Darstellung nur aus der Gewalthandlung und den oben herausgearbeiteten typischen Elementen besteht, oder ob sie durch andere Elemente angereichert wird. Dabei kann es sich auch um außersprachliche Elemente wie Bilder oder Typografie handeln.

Ausgehend von diesem Überblick über die Zusammensetzung von Gewaltdarstellungen wird deutlich, dass verschiedene Darstellungsarten ganz verschiedene Funktionen in den Texten übernehmen können. In Teil B der Arbeit werden zunächst verschiedene Emotionen herausgearbeitet, die Gewaltdarstellungen unabhängig vom Thema des jeweiligen Textes erzeugen können. Diesem Teil der Arbeit liegt die These zugrunde, dass Gewaltdarstellungen sich in besonderem Maße dazu eignen, beim Leser Emotionen unterschiedlichster Art hervorzurufen. Die Literaturwissenschaft hat der Erforschung von Emotionen in den letzten Jahren eine hohe Aufmerksamkeit gewidmet.14 Die Darstellung von Gewalt ermöglicht wegen ihrer Körperlichkeit einen besonderen emotionalen Zugang. Dieser entsteht beim Leser vor allem durch das bereits erwähnte Wissen über die eigene Verletzbarkeit und die starken moralischen Normen, die auf die Unversehrtheit des Körpers abzielen.15

Mit Blick auf Gewaltdarstellungen geht es darum zu fragen, wie Gewalt mithilfe literarischer Techniken dargestellt und sprachlich vermittelt wird und welche emotionale Wirkung diese Darstellung potenziell hat. Damit wird unterstellt, dass es einen Zusammenhang zwischen Text und emotionaler Rezeption gibt, Emotionen also nicht rein subjektiv im Leser entstehen, sondern die ←19 | 20→Evokation zumindest im gewissen Maße regelgeleitet verläuft. In Kapitel 5 wird dieser Zusammenhang kurz erläutert, um eine theoretische Grundlage für die folgenden Kapitel zu schaffen, in denen Sympathie, Ekel, Spannung und Komik als Funktionen von Gewaltdarstellungen beschrieben werden. Die Kapitel beinhalten jeweils eine kurze theoretische Einleitung und unterscheiden dann zwischen verschiedenen Formen der Kombination aus Gewalt und der jeweiligen Emotion. Leitend ist dabei die Frage, was Gewaltdarstellungen jeweils spannend, komisch oder ekelhaft, beziehungsweise was Figuren in Gewaltdarstellungen sympathisch oder unsympathisch erscheinen lässt.

Kapitel 6 widmet sich der Sympathie. Diese beruht auf der Bewertung von Figuren und deren Handeln. Da die Anwendung von Gewalt in westlichen Gesellschaften weitestgehend tabuisiert ist, tendiert der Leser dazu, Gewalt abzulehnen und entwickelt Empathie für die Opfer. Die Täter hingegen findet er unsympathisch. Da Sympathie auf einem Werturteil beruht, lassen sich Täter danach unterscheiden, welche Motive sie für ihre Taten haben. Auf der Seite der Antipathie sind das niedere Beweggründe und Hass sowie Geisteskrankheit. Gelingt es dem Text aber, die dargestellte Gewalt zu legitimieren und nachvollziehbar zu machen, könnten Täter sympathisch bewertet werden. Zu den gängigen Formen der Legitimation in der Literatur zählen zum Beispiel Selbstverteidigung und Rache. Darüber hinaus kann es mildernde Umstände geben, die den Täter sympathisch werden lassen – vor allem, wenn er seine Tat bereut.

Der Ekel, der den Gegenstand des siebten Kapitels darstellt, ist eine Reaktion auf Objekte, die der Mensch nicht in seiner Nähe wissen möchte.16 Dies gilt sowohl für den physischen Ekel, der sich im Falle von Gewaltdarstellungen auf Leichen, abgetrennte Körperteile, Blut, Wunden etc. beziehen kann, als auch für den moralischen Ekel, der sich auf unreine Handlungen und deren Urheber bezieht. Diese Form des Ekels ist eine der Möglichkeiten, Täter unsympathisch erscheinen zu lassen. Darüber hinaus kann die Darstellung von Gewalt existenziellen Ekel als Widerwillen gegen das Wertesystem selbst auslösen, wenn die Frage nach der Legitimität von Gewalt in den Vordergrund rückt. In diesem Fall fragt die Literatur beispielsweise danach, warum Gesellschaften die Augen vor der Gewalt verschließen und sie zulassen.

Gewalt kann in der Literatur verschiedene Formen von Spannung erzeugen, die in Kapitel 8 betrachtet werden. Sie kann zum einen im Falle der Zukunftsspannung eine Bedrohung für eine Figur sein. Zum anderen kann sie ←20 | 21→beispielsweise in Form des Mordes in einem Detektivroman die Funktion des Rätsels übernehmen, das der Detektiv lösen muss. Spannung entsteht durch bestimmte Formen der Informationsvergabe, wobei gewisse Informationen dem Leser vorenthalten werden. Daneben werden in diesem Kapitel noch zwei weitere Formen der Informationsvergabe betrachtet: Überraschung und Desorientierung. Diese können sowohl innerhalb des Spannungsbogens vorkommen als auch eigenständige Funktionen von Gewaltdarstellungen sein.

Dass Gewalt komisch sein kann, mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, scheint das Leid anderer sich doch kaum zum Gegenstand von Lachen zu eignen. Und tatsächlich ist die Komiktheorie lange Zeit davon ausgegangen, dass der Gegenstand der Komik harmlos sein müsse.17 Demgegenüber wird heute eher davon ausgegangen, dass Komik vor allem in der Darstellung begründet liegt. Kapitel 9 greift deshalb auf die Vorstellung von Komik als einer Inkongruenz in der Darstellung zurück und arbeitet Elemente heraus, die bei Gewaltdarstellungen Komik erzeugen können.

Teil C der Arbeit schließlich betrachtet zunächst vier verschiedene Romane der Gegenwartsliteratur und analysiert deren individuellen Zugang zur Gewalt. Dafür wurden die folgenden Romane ausgewählt, in denen die Darstellung von physischer Gewalt eine zentrale Rolle spielt und die sich gleichzeitig thematisch mit Gewalt auseinandersetzen:

1. Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983)

2. Cormac McCarthy: Blood Meridian (1985)

3. Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

4. Roberto Bolaño: 2666 (2004)

In Die Klavierspielerin verknüpft Elfriede Jelinek physische Gewalt mit verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen, die der Roman als mitverantwortlich für die Diskriminierung von Frauen beschreibt. Die physische Gewalt ist im Roman, so die These der Interpretation, dabei nicht nur Metapher für die Unterdrückung, sondern dient auch als rhetorisches Mittel der Skandalisierung. Indem gesellschaftliche Diskurse als Gewalt dargestellt werden, werden sie zugleich als illegitim kritisiert. Der nicht unumstrittene Roman findet sich auch deshalb unter den intensiver analysierten Beispielen, weil eine Beschreibung der Gewaltdarstellungen und ihrer Funktion für den Roman bisher nur oberflächlich geleistet wurde.

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Cormac McCarthy hat mit Blood Meridian or the evening redness in the West einen Anti-Western verfasst, der den brutalen Genozid an den amerikanischen Ureinwohner erzählt. Der Roman reflektiert dabei die Rolle, die das Genre des Western – der das Leid der Opfer weitestgehend ausblendet – für die Unsichtbarmachung der Gewalt spielt und reflektiert gleichzeitig die Bedeutung von Gewalt für das Begründen von gesellschaftlichen Ordnungen. Der Autor wird bereits vielfach in der Amerikanistik rezipiert und untersucht. Aufgrund des vordergründigen Thema des Wilden Westens ist dies nicht weiter erstaunlich. Aber die philosophische Tiefe des Romans und die zahlreichen Bezüge machen ihn auch für einen stärker komparatistisch geprägten Blick interessant. Vor allem die Bandbreite der unterschiedlichen Arten der Gewaltdarstellung machen den Roman für diese Arbeit zu einem lohnenden Forschungsobjekt.

American Psycho von Bret Easton Ellis schockiert durch seine minutiösen Gewaltdarstellungen. Der nach außen wohlsituierte Banker Patrick Bateman ist in Wahrheit ein grausamer Serienmörder, in dessen Figur sich die Pathologie des neoliberalen Kapitalismus entlarvt. Die Gewalt des Mörders wird als direktes Produkt einer Gesellschaft beschrieben, für die Status und Geld zu den einzigen Normen geworden sind. Der Roman wird in der Forschungsliteratur oft als Satire auf die US-amerikanische Gesellschaft der Reagan-Ära interpretiert. Die Gewaltdarstellungen dienen zum einen der Skandalisierung von sozialer Ungleichheit und einer Ideologie, die Menschen einzig als Konsumenten begreift. Zum anderen reflektiert der Roman die besondere Faszination, die von Gewalt ausgeht und kritisiert Gewaltdarstellungen als Teil der Konsumkultur in den Medien. Da der Roman selbst auch Objekt eines Literaturskandals wurde, zählen seine Gewaltdarstellungen zu den bekanntesten ihrer Art, nicht zuletzt auch durch seine Verfilmung durch Mary Harron. Am Beispiel der Rezeptionsgeschichte von American Psycho lassen sich somit auch die Mechanismen der Sensationslust an der Gewalt exemplarisch darstellen, die der Roman zwar kritisiert, denen er aber selbst nicht entkommen kann.

Roberto Bolaño hat mit 2666 einen Roman geschaffen, der versucht, Gewalt gerade in ihrer Nicht-Darstellbarkeit zu begreifen und kritisiert traditionelle Darstellungsformen von Gewalt in Journalismus, Wissenschaft und Literatur. Der Roman zeichnet dabei ein komplexes Bild von Gewalt in Lateinamerika und der ganzen Welt, formuliert aber gleichzeitig die Hoffnung auf eine Überwindung der Gewalt. Diese Hoffnung konkretisiert sich in der Figur des Autors Benno von Archimboldi, der die Suche nach adäquaten Darstellungsformen personifiziert. Der Roman öffnet den Horizont dieser Arbeit für Gewaltphänomene in Lateinamerika und diskutiert diese im Kontext von westlichen Darstellungstraditionen und der Geschichte von Kolonialisierung und Globalisierung.

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Die ausgewählten Romane zeigen insgesamt eine große Bandweite an Gewalt, sowohl hinsichtlich des kulturellen Kontextes als auch den bearbeiteten Themen. Gemeinsam ist allen Autoren, dass sie Gewalt als komplexes Phänomen auffassen, das sich der Wahrnehmung und der Kommunikation zu entziehen scheint und deshalb Anlass zur Reflexion gibt. Dabei geht es ihnen sowohl um Kritik an tradierten Formen der Gewaltdarstellungen und Grenzen literarischer Darstellungen als auch um Darstellungen von Gewalt in Alltagssprache, ihre Behandlung in der Wissenschaft oder in den Medien etc. Die Texte entfalten ein gesellschaftskritisches Potenzial, das durch den bereits beschriebenen skandalisierenden Effekt unterstützt wird. Indem die Texte gesellschaftliche Zustände mit Gewalt gleichsetzen, werden diese kritikwürdig oder überhaupt erst kritisierbar, wenn die Strukturen in den Texten sichtbar gemacht werden.

Damit lässt sich ein Anordnungsprinzip vom Allgemeinen zum Speziellen feststellen. Während die Teile A und B allgemeine Aussagen über die Darstellung von Gewalt formulieren, untersucht Teil C individuelle Zugänge zur Gewalt. Damit trägt die Arbeit dem Umstand Rechnung, dass die literarische Darstellung zwar auf Standardmuster zurückgreift, die konstitutiv für das Motiv der Gewalt sind, Autorinnen und Autoren aber individuelle Zugänge zu Gewalt in ihren Werken formulieren, die mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden interpretierbar sind. Dabei geht diese Arbeit von der These aus, dass durch die Betrachtung von Gewalt in ganz verschiedenen Facetten eine Ausdifferenzierung der Wahrnehmung von Gewaltphänomenen stattfindet. Zum einen gilt dies hinsichtlich der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, die Gewalt befördern, legitimieren oder gar naturalisieren. Zum anderen reflektiert Literatur sprachliche Muster in Alltagssprache, Medien und der Literatur selbst, die Anteil an solchen Phänomenen haben.

Details

Seiten
296
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631845653
ISBN (ePUB)
9783631845660
ISBN (MOBI)
9783631845677
ISBN (Hardcover)
9783631831038
DOI
10.3726/b18272
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Gewalt 2666 American Psycho Die Klavierspielerin Blood Meridian Emotionsforschung Literaturwissenschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 296 S., 1 farb. Abb., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Martin Becker (Autor:in)

Martin Becker studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Buchwissenschaft und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hier folgte auch im Jahr 2019 die Promotion. Seit 2013 arbeitet er an derselben Hochschule als Studienberater in der Zentralen Studienberatung und im Career Service.

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