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Informations- und Ratgeberbroschüren zum Nachbarrecht

Eine textlinguistische und systemtheoretische Analyse einer komplexen Textsorte

von Helge Missal (Autor:in)
©2021 Dissertation 368 Seiten

Zusammenfassung

Die Publikation analysiert die komplexe Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüren zum Nachbarrecht. Es liegt die Hypothese zugrunde, dass mit dieser Textsorte nicht nur Informationen vermittelt, sondern durch die Emittenten auch eine Verhaltensbeeinflussung auf Rezipientenseite angestrebt wird und somit gesellschaftliche Funktionen erfüllt werden. Die Analyse verbindet textlinguistische, lexikalische sowie systemtheoretische Parameter. Sie erbringt den Beweis, dass Textsorten als kommunikative Strukturen von Funktionssystemen aufgefasst werden können. Es wird verdeutlicht, dass für eine komplette funktionale Erfassung von Texten ein interdisziplinärer Ansatz notwendig ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Untersuchungsgegenstand und Forschungsstand
  • 2.1 Der soziale Bezugspunkt: Nachbarschaft
  • 2.2 Der rechtliche Bezugspunkt: Nachbarrecht in Deutschland
  • 2.3 Die Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre im Bereich der Politik
  • 2.4 Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre als Mittel der Beratung
  • 2.4.1 Die grundlegenden Funktionen von Beratung
  • 2.4.2 Broschüren: Massenbelehrung, Beratung und Persuasion
  • 2.4.3 Die Struktur des Ratschlags
  • 2.5 Der gegenwärtige Forschungsstand
  • 3 Akteurstheoretische Systemtheorie: Abstraktionsniveaus und Strukturen
  • 3.1 Systemtheoretische Basis
  • 3.1.1 System-Umwelt-Differenz
  • 3.1.2 Operation/Beobachtung
  • 3.1.3 Soziale Systeme als Nukleus von Luhmanns Systemtheorie
  • 3.1.4 Autopoiesis/Selbstreferenz
  • 3.1.5 Gesellschaftliche Differenzierung durch funktionale Teilsysteme
  • 3.2 Akteurstheoretische Ergänzung der Systemtheorie Luhmanns
  • 3.2.1 Kommunikation nach Luhmann
  • 3.2.2 Kommunikation und Handlung: System- und Handlungstheorie
  • 3.2.3 Strukturen als Prämisse sozialen Geschehens
  • 3.2.3.1 Strukturen bei Luhmann: Strukturen als Erwartungen
  • 3.2.3.2 Strukturen bei Schimank: Akteure und Struktur
  • 3.3 Strukturarten: Bestimmung und Ergänzung
  • 3.3.1 Teilsystemische Orientierungshorizonte und Deutungsstrukturen
  • 3.3.2 Institutionelle Ordnungen und Erwartungsstrukturen
  • 3.3.3 Akteurskonstellationen und Konstellationsstrukturen
  • 3.3.3.1 Person, Rolle, Akteur: zurück zum Handeln
  • 3.3.3.2 Die Ausdifferenzierung der Akteursebene
  • 3.3.3.3 Das konkrete Handeln von Akteuren in Akteurskonstellationen
  • 3.3.4 Kommunikationsstrukturen
  • 3.3.4.1 Texte als Instrumente kommunikativen Handelns
  • 3.3.4.2 Textsorten als Kommunikationsstrukturen: Fazit
  • 3.4 Teilsystemische Orientierungshorizonte und Akteure
  • 3.4.1 Der teilsystemische Orientierungshorizont Recht
  • 3.4.2 Der teilsystemische Orientierungshorizont Politik
  • 3.4.3 PR als Akteur in einem Funktions- oder selbstständigen Teilsystem?
  • 4 Methoden
  • 4.1 Korpus
  • 4.2 Erarbeitung und Erläuterung der Analyseebenen
  • 4.2.1 Analyseparameter Funktionalität
  • 4.2.1.1 Der Analyseparameter Textfunktion
  • 4.2.1.2 Der Analyseparameter Bewirkungsfunktion
  • 4.2.1.3 Der Analyseparameter Bereichsfunktion
  • 4.2.2 Der Analyseparameter Verankerung in der Kommunikationsstruktur
  • 4.2.2.1 Kerntextsorten
  • 4.2.2.2 Textsorten der Anschlusskommunikation
  • 4.2.2.3 Textsorten der strukturellen Kopplung
  • 4.2.3 Analyseparameter Thematische Aspekte
  • 4.2.4 Analyseparameter Lexikalische Aspekte
  • 4.2.5 Analyseparameter Bildebene
  • 5 Analyse der Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zum Nachbarrecht
  • 5.1 Situationalität
  • 5.2 Analyse der Teiltextsorte Impressum
  • 5.3 Analyse der Teiltextsorte Verteilerhinweis
  • 5.3.1 Die Produzenten und Adressaten des Verteilerhinweises
  • 5.3.2 Funktionale Aspekte I: Textfunktion und Sprachhandlungen
  • 5.3.2.1 Hinweisen
  • 5.3.2.2 Erläutern
  • 5.3.3 Die Verankerung in der Kommunikationsstruktur
  • 5.3.4 Thematische Aspekte
  • 5.3.4.1 Themen
  • 5.3.4.2 Deskriptive und explikative Themenentfaltung
  • 5.3.5 Formulierungsadäquatheit: Systembezüge rechtlicher und politischer Lexik
  • 5.3.6 Funktionale Aspekte II: Bereichsfunktion
  • 5.3.7 Funktionale Aspekte III: Bewirkungsfunktion
  • 5.3.8 Zusammenfassung
  • 5.4 5.4   Analyse der Teiltextsorte Ministerielles Grußwort
  • 5.4.1 Sonderfall ministerielles Grußwort: die Autorenfrage
  • 5.4.2 Funktionale Aspekte I: Textfunktion und Sprachhandlungen
  • 5.4.2.1 Assertive Sprachhandlungen
  • 5.4.2.1.1 Hinweisen
  • 5.4.2.1.2 Behaupten
  • 5.4.2.2 Appellative Sprachhandlungen
  • 5.4.2.3 Expressive Sprachhandlungen
  • 5.4.3 Die Verankerung in der Kommunikationsstruktur
  • 5.4.4 Thematische Aspekte und Topoi
  • 5.4.4.1 Gutnachbarschaftliches Verhältnis (1–3)
  • 1) Voraussetzungs-Topos
  • 2) Mehrwert-Topos
  • 3) Nachhaltigkeits-Topos
  • Einordnung
  • 5.4.4.2 Konflikt (4–7)
  • 4) Ursachen-/Auslöser-Topos
  • 5) Konsequenz-Topos
  • 6) Vorbeugungs-Topos
  • 7) Konfliktlösungs-Topos
  • 7i) Gesprächs-/Verständigungs-Topos
  • 7i’) Vertrags-Topos
  • 7ii) Topos der gesetzlichen Regelungen
  • 7iii) Schiedsstellen-Topos
  • 7iv) Topos der juristischen Klärung
  • Einordnung
  • 5.4.4.3 Nachbarrecht (8–9)
  • 8) Rechtslücken-Topos
  • 9i) Rechtsvorschriften-Topos: Pro spezifische Regelungen
  • 9ii) Rechtsvorschriften-Topos: Kontra spezifische Regelungen
  • Einordnung
  • 5.4.4.4 Broschüre (10–14)
  • 10) Rechtskenntnis-Topos und Ungleichgewichts-Topos
  • 11) Verständlichkeits-Topos
  • 12) Selektions-Topos
  • 13) Rechtsberatungs-Topos
  • 14) Hilfsmittel-Topos
  • Einordnung
  • 5.4.4.5 Zusammenfassung
  • 5.4.5 Formulierungsadäquatheit
  • 5.4.5.1 Politische Lexik und Systembezüge
  • 5.4.5.1.1 Institutionenvokabular
  • 5.4.5.1.2 Ressortvokabular
  • 5.4.5.1.3 Wertevokabular
  • 5.4.5.2 Rechtliche Lexik und Systembezüge
  • 5.4.5.3 Lexikalische Bezüge auf die Akteurskonstellation Nachbarschaft
  • 5.4.6 Funktionale Aspekte II: Bereichsfunktion
  • 5.4.6.1 Die Bereichsfunktion in Bezug auf das Recht
  • 5.4.6.2 Die Bereichsfunktion in Bezug auf die Politik
  • 5.4.6.3 Die Bereichsfunktion in Bezug auf die Nachbarschaft
  • 5.4.7 Funktionalität III: Bewirkungsfunktion
  • 5.5 Analyse der Teiltextsorte Inhaltliche Erläuterungen zum Nachbarrecht
  • 5.5.1 Situationalität
  • 5.5.2 Funktionale Aspekte I: Textfunktion und Sprachhandlungen
  • 5.5.2.1 Assertive Sprachhandlungen im Grundlagenkapitel
  • 5.5.2.1.1 Hinweisen
  • 5.5.2.1.2 Erläutern
  • 5.5.2.1.3 Behaupten
  • 5.5.2.2 Appellative Sprachhandlungen im Grundlagenkapitel
  • 5.5.2.2 Sprachhandlungen und nachbarrechtliche Regelungsbereiche
  • 5.5.2.2.1 Die sprachliche Annäherung an den Sachverhalt
  • 5.5.2.2.2 Die rechtliche Einordnung eines Sachverhalts
  • 5.5.2.2.3 Die Offenlegung der rechtlichen Überformung
  • 5.5.4 Die Verankerung in der Kommunikationsstruktur
  • 5.5.5 Thematische Aspekte: Explikation
  • 5.5.5.1 Die mikrostrukturelle Ebene
  • 5.5.5.1.1 Anlass
  • 5.5.5.1.2 Voraussetzungen
  • 5.5.5.1.3 Anzeige
  • 5.5.5.1.4 Inhalte
  • 5.5.5.1.5 Nutzungsentschädigung
  • 5.5.5.1.6 Schadensersatz
  • 5.5.5.2 Die makrostrukturelle Ebene
  • 5.5.6 Topik
  • 5.5.6.1 Rahmungs-Topoi
  • 5.5.6.2 Normen-Topoi (Kernbereich)
  • 5.5.6.3 Normen-Topoi (Ergänzungsbereich)
  • 5.5.6.4 Normen-Topoi (Peripheriebereich)
  • 5.5.6.5 Der Selektions-Topos
  • 5.5.6.6 Zusammenfassung
  • 5.5.7 Die Modalitäten: Deontik und mehr
  • 5.5.7.1 Die deontischen Modalitäten
  • 5.5.7.1.1 Die deontischen Modalitäten: das Gebot
  • 5.5.7.1.2 Die Deontische Modalität: die Erlaubnis
  • 5.5.7.1.3 Sonderfall: erloschenes Recht
  • 5.5.7.1.4 Die deontische Modalität: das Verbot
  • 5.5.7.1.5 Eingeschränkte Gebote
  • 5.5.7.1.6 Ein weiterer Sonderfall: Wahlfreiheit
  • 5.5.7.1.7 Die deontische Modalität: Empfehlung
  • 5.5.7.2 Die volitive Modalität: Wunsch und Absicht
  • 5.5.7.3 Die epistemische Modalität: die Wahrscheinlichkeit von Sachverhalten
  • 5.5.7.4 Die dispositionelle Modalität: Fähigkeiten und Dispositionen
  • 5.5.7.5 Die Modalitäten und die Beobachterposition
  • 5.5.8 Formulierungsadäquatheit
  • 5.5.8.1 Politische Lexik und Systembezüge
  • 5.5.8.2 Rechtliche Lexik und Systembezüge
  • 5.5.9 Die Funktionen der Bilder
  • 5.5.10 Funktionale Aspekte II: Bereichsfunktion
  • 5.5.11 Funktionale Aspekte III: Bewirkungsfunktion
  • 5.6 Analyse der Teiltextsorte Rechtsquellen
  • 5.6.1 Funktionale Aspekte I: Textfunktion und Sprachhandlungen
  • 5.6.2 Verankerung in der Kommunikationsstruktur
  • 5.6.3 Thematische Aspekte und Formulierungsadäquatheit
  • 5.6.4 Bereichsfunktion und Bewirkungsfunktion
  • 6 Zusammenfassung und Fazit
  • 6.1 Zusammenschau der Analyseergebnisse
  • 6.2 Fazit und Ausblick
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

1 Einleitung

„Streitende sollten wissen, daß nie der eine ganz recht hat

und der andere ganz unrecht.“ (Kurt Tucholsky)

Für viele Menschen ist ein (eigenes) Haus mit angrenzendem Garten und freundlichen, hilfsbereiten Nachbarn der Inbegriff von Idylle, Ruhe und Entspannung. Doch wenn Menschen auf engem Raum zusammenleben, kann es vorkommen, dass man auf sich widerstreitende Interessen trifft. Die Anlässe sind oftmals nachrangig: Lärmbelästigung, das Überhängen von Früchten auf das eigene Grundstück oder Grenzabstände von Pflanzen. Streitigkeiten unter Nachbarn1 können schnell emotional aufgeladen sein und zu tiefen Zerwürfnissen führen und somit für beide Seiten emotionale Belastungen hervorrufen. Nachbarschaftsstreitigkeiten können viele Facetten aufweisen, was auch von einschlägigen Fernsehformaten aufgegriffen und bildhaft sowie ereignisreich nachgestellt bzw. inszeniert wird.

Vor dem Hintergrund eines freundschaftlichen Verhältnisses einerseits und tief greifender Konflikte andererseits lässt sich vielleicht mindestens ein mittleres Niveau als erstrebenswert bezeichnen, sodass etwaige Konflikte schnell durch Gespräche und notfalls einen Blick in die gesetzlichen Regelungen gar nicht erst entstehen oder sofort gelöst werden. Idealerweise entstehen Konflikte folglich nicht oder aber können frühzeitig auf der Basis eines gesunden Nachbarschaftsverhältnisses beigelegt werden. Erst wenn dieses sogenannte nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis kein Fundament für die Beilegung von Streitigkeiten bildet, greifen die gesetzlichen Regelungen. Die Gesetzeslage zum Nachbarrecht ist in der föderalen Bundesrepublik uneinheitlich: Einige Regelungen zu den nachbarschaftlichen Beziehungen finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Dazu können landesspezifische Regelungen treten, wobei nicht in allen Bundesländern von der Möglichkeit, Nachbarschaftsgesetze zu verabschieden und einzuführen, Gebrauch gemacht wurde. Während beispielsweise im Saarland und in Brandenburg jeweils ein spezifisches ←15 | 16→Nachbarschafts- bzw. Nachbarrechtsgesetz existiert, findet sich weder in Bayern noch in Mecklenburg-Vorpommern ein Gesetz dieser Art. Ferner sind auch noch weitere Regelungen wie das Bundesimmissionsschutzgesetz und lokale Satzungen zu beachten. Vor diesem Hintergrund stellt sich für den Nachbarn die Frage nach der Vereinbarkeit etwaiger Handlungspläne mit den gesetzlichen Regelungen. Daneben können für Informationen und Handlungsempfehlungen auch Dritte konsultiert werden: Ratgeberliteratur, Informationsbroschüren, Schlichtungsstellen oder Anwälte.

Die Justizministerien der Länder – bisweilen auch jene ohne spezifisches Landesgesetz – publizieren Informations- und Ratgeberbroschüren zu nachbarrechtlichen Themen bzw. Fragestellungen. Die Publikationen tragen Namen wie „Rund um die Gartengrenze“ (Bayern ab 1986), „Tips für Nachbarn“ (Niedersachsen 1987), „Einigung am Gartenzaun“ (Sachsen-Anhalt ab 1998), „Nachbarrecht im Saarland“ (2011), „Auf gute Nachbarschaft“ (Brandenburg 2012) oder „Thüringer Ratgeber: Nachbarrecht“ (Thüringen 2012). Die Broschüren nehmen Bezug auf die jeweiligen rechtlichen Regelungen. Die Rezipienten können demnach Antworten auf Fragen nach bestimmten Handlungsoptionen finden oder darauf, wie sich in spezifischen Fällen die Rechtslage darstellt. Die Titel weisen bereits teilweise darauf hin, dass sich in den Broschüren möglicherweise nicht auf ein bloßes Informieren beschränkt wird, sondern auch durch Ratschläge und Empfehlungen eine Verhaltensbeeinflussung angestrebt wird. Teilweise fehlen in den Titeln bisweilen sämtliche Bezüge zu den gesetzlichen Regelungen, sodass eventuell der Fokus nicht auf juristischen, sondern auf sozialen Aspekten von Nachbarschaft liegen könnte, wie sich „Einigung am Gartenzaun“ und „Auf gute Nachbarschaft“ ebenfalls interpretieren ließen – auch wenn ein Bezug zu rechtlichen Normen ebenfalls möglich ist. Es sind bisweilen unterschiedliche Lesarten zu konstatieren.

Es kann somit die Hypothese aufgestellt werden, dass unter Umständen in den Publikationen nicht nur Fragen wie Welche gesetzlichen Regelungen existieren in Bezug auf einen spezifischen Sachverhalt?, sondern vor allem Wie verhalte ich mich gegenüber meinem Nachbarn vor dem Hintergrund eines längeren Nachbarschaftsverhältnisses (sozial) richtig/angemessen? bzw. Welche Ratschläge und Handlungsempfehlungen werden mir unterbreitet? beantwortet werden. So lässt sich formulieren, dass sich – zumindest partiell – eine Abwendung von den gesetzlichen hin zu sozialen Normen, welche die Akteurskonstellation2 Nachbarschaft ausformen können, beobachten lässt. Diese Hypothese wirkt ←16 | 17→sich im Sinne einer funktional-strukturalistischen Auffassung – der zufolge die Funktion nicht nur die situativen Parameter, sondern eben auch die sprachliche Form induziert – auf das sprachliche Erscheinungsbild der Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zum Nachbarrecht aus.

Die zu untersuchende Textsorte besteht aus verschiedenen Teiltextsorten, deren Vorkommen teilweise rechtlich begründet ist oder aber auf die kommunikativen Ziele zurückzuführen ist. Die Arbeit stellt die erste Beschäftigung mit der komplexen Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zu rechtlichen Inhalten am Beispiel des Nachbarrechts dar. Mit der erstmals gewählten Methodik – der Verbindung von systemtheoretischen, akteurstheoretischen und textlinguistischen Ansätzen – soll die Fruchtbarkeit dieser Theoriekonstrukte für die Untersuchung von textbasierter Kommunikation im Spannungsfeld zwischen politischem und rechtlichem System aufgezeigt werden, sodass auch die (gesamt-) gesellschaftliche Relevanz der Textsorte deutlich wird. Für Letzteres eignet sich eine Kombination aus verschiedenen Theorien besser als eine Analyse mit ausschließlich textlinguistischen Parametern. Darüber hinaus soll auch die bereits angedeutete gesellschaftliche Relevanz der zu analysierenden komplexen Textsorte herausgestellt werden. In einer Welt, in der die gesellschaftliche und alltagsweltliche Komplexität zunimmt und in der sich ein steter Optimierungsbedarf – der in vielfältigen Beratungsangeboten seinen Ausdruck findet – auch hinsichtlich des Einzelnen propagiert wird, kommt auch Informationsbroschüren politischer Akteure eine besondere Rolle zu. Sie sind ein Mittel, um der verfassungsmäßigen Verpflichtung nachzukommen, die Öffentlichkeit zu unterrichten. Andererseits sollen mit ihnen gemäß der obigen Hypothese den Bürgern in Form von Empfehlungen Orientierung geboten und Komplexität reduziert werden. Auch vor diesem Hintergrund bietet sich die Integration eines systemtheoretischen Ansatzes an, dessen übergeordnetes Desiderat in der Verringerung von Komplexität zu sehen ist. Es klingt an, dass dieser Textsorte ganz unterschiedliche Funktionen zugeschrieben werden können. Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Funktionen auf Grundlage der verwendeten sprachlichen Mittel offenzulegen. Durch die systemtheoretische Herangehensweise lässt sich der Untersuchungsgegenstand in seine gesellschaftlichen Kontexte einbetten und seine spezifischen Funktionen offenlegen. Die Einbindung einer Akteursebene im Sinne einer Mesoebene erlaubt es, Leerstellen zu etablieren, um die Kommunikate spezifischen Akteuren zuzuweisen und somit eine Brücke zu textuellen Kriterien wie Funktion, Thema und sprachliche Gestalt zu schlagen. Das komplexe Theoriekonstrukt dient einerseits dazu, die Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zum Nachbarrecht auf einem – analog zur Systemtheorie – hohen Abstraktionsniveau zu beschreiben, darüber hinaus ←17 | 18→auch dazu, eine Mikroebene einzubeziehen, auf welcher die sprachlichen Charakteristika fokussiert werden. Die interdisziplinäre Ausrichtung der Arbeit scheint eine Conditio sine qua non zu sein, um den komplexen Untersuchungsgegenstand vollständig zu erfassen.

Nach einer Darstellung des Untersuchungsgegenstands und des Forschungsstands bedarf es einer Einführung in die zentralen Kategorien der Systemtheorie Luhmanns. Es gilt die Fragen zu beantworten, was Systeme im Sinne Niklas Luhmanns sind, wie sich diese etablieren und nach außen hin abgrenzen. Dazu werden die System-/Umwelt-Differenz, die Beobachtungsoperationen sowie das Konzept der Autopoiesis vorgestellt. Darauf aufbauend werden die Charakteristika dieser Systeme herausgestellt, um in der Folge die Systemtheorie Luhmanns mit (text-)linguistischen Kategorien in Einklang zu bringen.

Nachdem eine erste systemtheoretische Grundlage geschaffen wurde, soll die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Augenschein genommen werden, denn jedes Teilsystem der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft übernimmt für diese eine spezifische Funktion mit einer eigenen Systemrationalität. Für die in dieser Arbeit angestrebte textlinguistische Adaption der Systemtheorie bedarf es einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Parametern der Systemrationalität für die funktionalen Teilsysteme Recht sowie Politik. Im Rahmen des – sehr abstrakt gefassten – Kommunikationsbegriffs Luhmanns fungieren Subjekte als Adressaten, um die Anschlussfähigkeit der Kommunikation und in Konsequenz den Fortbestand des Systems zu sichern. Wenn Textsorten analysiert und beschrieben werden sollen, dann handelt es sich hierbei um Muster mit bestimmten Merkmalen, dem konkrete Textexemplare zugeordnet werden können. Texte sind Kommunikationsmittel, mit denen ein Produzent bzw. ein Emittent einem Adressaten/Rezipienten etwas mitteilen kann. Aus diesem Grund soll die systemtheoretische Basis um akteurstheoretische Komponenten ergänzt werden, damit ein Instrumentarium zur Verfügung steht, um Informations- und Ratgeberbroschüren sowohl systemtheoretisch als auch als kommunikatives Handlungsmittel erfassen und sie somit handelnden Akteuren zurechnen zu können. Dazu bedarf es einer Ergänzung von Luhmanns Kommunikationskonzeption.

Im Anschluss sollen die systemtheoretischen Abstraktionsniveaus neu gefasst werden. Der Akteursbegriff soll vor diesem Hintergrund geschärft sowie anwendbar gemacht und Textsorten als Strukturen beschrieben werden. Für eine theoretische Fundierung müssen die textlinguistischen Kategorien Textmuster, Textsorte sowie Textexemplar mit dem Strukturbegriff in Beziehung gesetzt werden. Zudem soll geprüft werden, ob Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (PR) ein eigenes System im Sinne Luhmanns darstellt oder vom ←18 | 19→jeweiligen Muttersystem abhängig ist – davon hängen maßgeblich die funktionalen Erfordernisse der Textsorte ab.

Bevor mit der Analyse begonnen wird, sollen in einem gesonderten Methodenkapitel das Korpus und die Analyseparameter dargestellt werden. Die eigentliche Analyse gliedert sich in die Betrachtung der einzelnen Teiltextsorten der Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zum Nachbarrecht auf. Hierbei finden funktionale Parameter (Text-, Bewirkungs- und Bereichsfunktion), aber auch die Verankerung der Teiltextsorte in der Kommunikationsstruktur des Systems Berücksichtigung. Darüber hinaus sind thematische und lexikalische Aspekte Bestandteil der Analyse. Ferner werden für die Hauptbestandteile der Broschüre auch Topoi ermittelt, um über diese Rückschlüsse auf (außertextuelle) Funktionen ziehen zu können. Zudem werden die in den Broschüren verwendeten Bilder hinsichtlich ihrer Funktionen analysiert. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Zusammenschau der Ergebnisse der einzelnen Teilanalysen, um die Funktionalität der komplexen Textsorte Informations- und Ratgeberbroschüre zum Nachbarrecht vollends zu erfassen. Besonders bei komplexen Textsorten wie der zu analysierenden liegen eine umfangreiche Funktionalität sowie verschiedene gesellschaftliche Anknüpfungspunkte nahe. Ein Fazit samt Ausblick beschließt die Ausführungen.

Mit der vorliegenden Arbeit wird ein neuer, interdisziplinärer Weg für die Analyse von komplexen Textsorten gangbar gemacht. Die Verknüpfung von textlinguistischen und soziologischen Theorien soll es erlauben, neue Aspekte der Funktionalität perspektivieren zu können. Textsorten dienen als Mittel der Beobachtung von Sachverhalten, Praktiken oder Prozessen im eigenen kommunikativen Spektrum, aber auch deutlich über dessen Grenzen hinaus. Der Funktionsumfang von Texten bzw. von Textsorten ist deutlich größer, als mit ihnen bisweilen sprachlich explizit gemacht wird. Oftmals finden sich lediglich indirekte Hinweise auf über Textgrenzen hinausreichende Funktionen, die erst dann in den Blick geraten, wenn übergeordnete Abhängigkeiten und Interdependenzen berücksichtigt werden. Die Arbeit soll anhand der Analyse von Informations- und Ratgeberbroschüren am Beispiel des Nachbarrechts genau diese Zusammenhänge aufdecken, die ohne eine interdisziplinäre – demnach mit einer rein textlinguistisch geprägten – Methodik im Hintergrund oder gänzlich unbeachtet blieben.

←19 |
 20→←20 | 21→

1 In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen männliche und weibliche Personen sowie das dritte Geschlecht.

2 In der vorliegenden Arbeit wird die weitverbreitete Schreibweise mit Fugenelement gewählt, auch wenn bei Schimank als maßgeblicher Quelle in Bezug auf diesen Komplex ausschließlich die Schreibweise ohne Fugenelement zu finden ist.

2 Untersuchungsgegenstand und Forschungsstand

2.1 Der soziale Bezugspunkt: Nachbarschaft

Dieses Kapitel soll dazu dienen, einerseits die Akteurskonstellation Nachbarschaft zu bestimmen und den Nachbarschaftsbegriff so zu erschließen, dass geprüft werden kann, welches Konzept von Nachbarschaft in den Informationsbroschüren zugrunde gelegt wird. Andererseits soll dieser Abschnitt dazu beitragen, den Stellenwert der Nachbarschaft in der sozialwissenschaftlichen Forschung darzulegen.

Günther sieht in der Nachbarschaft ein Phänomen universeller Ausprägung, welchem sich fast ausnahmslos jeder unabhängig vom Wohnort (Land vs. Stadt)3 und der konkreten Wohnsituation (Einfamilien- vs. Mehrfamilienhaus) gegenübersieht (vgl. Günther 2009: 445).

Im Hinblick auf die Ausprägung nachbarschaftlicher Kontakte bedarf es einer Differenzierung, ob man Nachbarschaft im urbanen oder im ländlichen Raum betrachtet. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass nachbarschaftliche Beziehungen im ländlichen Raum häufiger und oftmals auch intensiver gepflegt werden als in Städten (vgl. Alle/Kallfaß-de Frênes 2016: 16 f.).

Hamm spricht der Nachbarschaft eine Sonderstellung zu, da „kaum ein anderer Beziehungstyp […] den wechselseitigen Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Organisation von Gesellschaft so konkret […] und mittelbar erlebbar [macht]“ (Hamm 2000: 173).

Häufig werden Nachbarschaften aufgrund ihres instrumentellen Charakters zu den Bekanntschaftsbeziehungen gezählt (vgl. Heidbrink/Lück/Schmidtmann 2009: 100). Melbeck sieht in Bekanntschaft eine Restkategorie, zu der alle sozialen Beziehungen gehören, die nicht auf Verwandtschaft, Freundschaft oder Kontakten am Arbeitsplatz beruhen (vgl. Melbeck 1993: 239).

Heidbrink et al. betonen aber trotz dieses randständigen Status von Nachbarschaft innerhalb der persönlichen Beziehungen, dass die Mehrheit der Menschen einen gesteigerten Wert auf ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn legt. Nachbarschaftliche Kontakte gehören zum Alltag der meisten Menschen, ←21 | 22→werden erwünscht und angestrebt, wobei eine enge Ausprägung von Nachbarschaft die Ausnahme ist (vgl. Heidbrink/Lück/Schmidtmann 2009: 100 f.).

Günther zufolge sind beim Nachbarschaftsbegriff einige Unschärfen zu verzeichnen. Allgemein finden bei der Bestimmung von Nachbarschaft vor allem räumliche Aspekte Eingang, indem durch den Begriff Nachbarschaft das den eigenen Wohnbereich umgebende Gebiet bezeichnet wird. Zudem umfasst Nachbarschaft das soziale Netzwerk der in unmittelbarer räumlicher Nähe wohnenden Personen (vgl. Günther 2009: 446). Auch der juristische Nachbarschaftsbegriff orientiert sich am Faktor Raum. Hinzu treten noch die jeweiligen Besitzverhältnisse. Günther erwähnt das sächsische Nachbarrechtsgesetz, nach dem ein Nachbar Besitzer eines Grundstückes ist, das mit einem weiteren Grundstück in einem örtlichen Zusammenhang steht (vgl. Günther 2009: 446). An anderer Stelle verweist Günther darauf, dass bei Anwendung dieser Definition Mieter und Pächter nicht als Nachbarn zu bezeichnen wären und diese Definition der alltäglichen Praxis nicht gerecht werden kann (vgl. Günther 2012: 12). Sozialwissenschaftliche und psychologische Betrachtungen verschieben das Hauptaugenmerk auf die aus räumlicher Nähe entstehenden persönlichen Beziehungen (vgl. Günther 2009: 447).

Details

Seiten
368
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631850480
ISBN (ePUB)
9783631850497
ISBN (MOBI)
9783631850503
ISBN (Hardcover)
9783631839256
DOI
10.3726/b18292
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Textlinguistik Systemtheorie Textsortenlinguistik Nachbarrecht Akteurtheorie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 368 S., 22 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Helge Missal (Autor:in)

Helge Missal ist Lehrkraft für besondere Aufgaben mit den Schwerpunkten Textproduktion und Technisches Deutsch an der Hochschule Merseburg.

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