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Das Recht des Arbeitnehmers auf tatsächliche Beschäftigung

Begründung und Grenzen des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs

von Florian Eckel (Autor:in)
©2021 Dissertation 228 Seiten

Zusammenfassung

Durch ihre existenzsichernde Bedeutung nimmt die Erwerbsarbeit eine zentrale Rolle im Leben der meisten Menschen ein. Der Arbeitsvertrag bildet allerdings nicht nur die Basis materieller Wertschöpfung, sondern gewährt dem Arbeitnehmer auch die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung. Insofern ist heute weitgehend anerkannt, dass dem Recht des Arbeitgebers, die Arbeitsleistung in vertraglich geregeltem Umfang einzufordern, auch die Pflicht gegenübersteht, den Arbeitnehmer ordnungsgemäß zu beschäftigen. Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Beschäftigungsanspruchs überprüft der Autor dessen grundrechtlich geprägte Begründung. Hierbei ordnet er die Beschäftigungspflicht aus schuldrechtlicher Perspektive in den zivilrechtlichen Pflichtenkatalog ein, bevor er in einem weiteren Schritt die Grenzen des Beschäftigungsanspruchs absteckt.

Inhaltsverzeichnis


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B. Interessenlage der Arbeitsvertragsparteien

Zur Nachvollziehbarkeit der Motivation der Arbeitsvertragsparteien und als Grundlage der sich anschließenden Ausführungen ist anfänglich zu erörtern, welche mitunter kollidierenden Interessen im Arbeitsverhältnis an einer Beschäftigung oder einer Nichtbeschäftigung bestehen können. Bevor aus Sicht des Arbeitgebers gefragt wird, welche Aspekte für eine Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers sprechen und somit ein Freistellungsinteresse begründen können, soll zunächst aus der gegenteiligen Perspektive untersucht werden, was das Verlangen des Arbeitnehmers an einer realen Tätigkeitsausführung auszumachen vermag. Die beleuchtete Interessenlage soll im weiteren Verlauf der Arbeit einerseits als Grundlage für die dogmatische Begründung des Beschäftigungsanspruchs dienen sowie andererseits bei der Frage herangezogen werden, wie weit der Beschäftigungsanspruch reicht und wo im Einzelnen seine Grenzen liegen.

I. Arbeitnehmerinteressen

Wie kommt es also, dass der Arbeitnehmer zur Arbeit herangezogen werden und seine Arbeitsleistung tatsächlich erbringen möchte? Oder anders ausgedrückt: Welche Interessen hat der Arbeitnehmer tatsächlich beschäftigt zu werden?

Grundsätzlich könnte man doch zunächst davon ausgehen, dass für viele Arbeitnehmer die Vorstellung, nicht vom Arbeitgeber zur Arbeitsleistung herangezogen zu werden und trotzdem den Lohn zu erhalten, durchaus reizvoll sein dürfte.6 Denn eine – zumindest zeitweise – von der tatsächlichen Beschäftigung unabhängig gezahlte Vergütung, könnte dem Arbeitnehmer eine Reihe von Möglichkeiten eröffnen, die er bei tatsächlicher Erbringung der Arbeitsleistung so wohl nicht hätte. Im Allgemeinen gilt nämlich der Grundsatz, dass sich Vergütungserwerb und „Freizeit“ regelmäßig gegenseitig ausschließen („Die Zeit ist kein Geld. Aber den einen nimmt das Geld die Zeit und den anderen die Zeit das Geld.“7). So könnte der freigestellte Arbeitnehmer, der die Vergütung erhält, ohne die Arbeitsleistung erbringen zu müssen, seine „bezahlte Freizeit“ ←20 | 21→für Urlaube, Hobbys, Familie oder aber zur anderweitigen Stellensuche nutzen, falls er sich beruflich umorientieren möchte.

Dennoch gibt es eine Reihe von Interessen, die der Arbeitnehmer nicht nur am Erhalt seiner Vergütung, sondern auch an der tatsächlichen Ausübung der dem Vergütungsanspruch zugrunde liegenden Tätigkeit haben kann. Diese Arbeitnehmerinteressen lassen sich in zwei Hauptfelder, solche monetärer Art und solche ideeller Art, unterteilen.8

1. Interessen monetärer Art

Die grundlegende und vielmals tragende Säule einer Beschäftigung des Arbeitnehmers sind dessen monetäre Interessen zur Sicherung seiner Grundbedürfnisse. Außer Frage steht natürlich, dass insofern nur solche Interessen ins Gewicht fallen können, die nicht den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers als solchen betreffen und im Falle einer Nichtbeschäftigung bereits über das Annahmeverzugsrecht abgedeckt sind. Gleichwohl gibt es eine Reihe von materiellen Aspekten, die über den direkten Gegenleistungsanspruch hinausgehen und ein arbeitnehmerseitiges Beschäftigungsinteresse begründen können.

a) Erhalt des Arbeitsplatzes

Allgemein dient Beschäftigung in erster Linie als Grundlage der Existenzsicherung.9 Unabhängig von gesetzlichen Sondervorschriften wie beispielsweise § 615 BGB oder sonstigen möglichen vertraglichen Abreden, die dem Arbeitnehmer im Falle der Freistellung gegebenenfalls seine Vergütung sichern: Wer tatsächlich arbeitet, möchte sich damit seinen Arbeitslohn verdienen, eine Lebensgrundlage schaffen und an der Gesellschaft teilhaben.10 Der Erwerb der Vergütung ist allerdings grundsätzlich an den Erhalt des Arbeitsplatzes gebunden, woran der Arbeitnehmer somit ein direktes finanzielles Interesse hat.11 Bei der Arbeitsplatzfestigung und damit dem Arbeitsplatzerhalt kann die ←21 | 22→tatsächliche Beschäftigung dem Arbeitnehmer tagtäglich zugutekommen. Denn nur durch die fortwährende Einbindung in arbeitsorganisatorische Abläufe kann der Arbeitnehmer bezüglich der Betriebs- und Aufgabenentwicklung auf dem neuesten Stand und somit im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern „am Ball“ bleiben. Die Teilnahme am täglichen Arbeitsalltag, an Besprechungen, Planungen und nicht zuletzt an der konkreten Aufgabenerfüllung erlaubt es dem Arbeitnehmer ein Teil des ganzheitlichen Arbeitsprozesses zu bleiben, seine Stellung innerhalb des Betriebs immer wieder durch seine produktive Arbeitsleistung zu rechtfertigen und damit zum Erhalt seines Arbeitsplatzes beizutragen. Die individuelle Verknüpfung im Betriebsgefüge schützt den Arbeitnehmer dementsprechend vor dem Verlust bzw. der anderweitigen Besetzung seines Arbeitsplatzes. Insofern kann tatsächliche Beschäftigung Sicherheit in Bezug auf das Arbeitsverhältnis vermitteln.12

b) Erhalt bzw. Steigerung des eigenen Marktwertes

Die Arbeitnehmerinteressen sind aber nicht auf den Erhalt des konkreten Arbeitsplatzes beschränkt, sondern beziehen sich darüber hinaus auch auf den Wert der eigenen Person im Marktgefüge. Insofern kann tatsächliche Beschäftigung zum Erhalt bzw. zur Verbesserung des eigenen Marktwertes führen.13 Dieser wird hierbei maßgeblich von zwei Faktoren geprägt: Einerseits durch die Fähigkeiten der Person als solche, andererseits durch die Außendarstellung der Person, also die Möglichkeit, seine Fähigkeiten am Markt anbieten bzw. präsentieren zu können.

aa) Fähigkeiten der Person als solche

Für den Erhalt der beruflichen Fähigkeiten des Arbeitnehmers ist es häufig erforderlich und mitunter bereits ausreichend, wenn die Tätigkeit regelmäßig ausgeübt wird. Dementsprechend können Personen zum Erhalt ihrer Qualifikation auf eine konstante tatsächliche Beschäftigung angewiesen sein.14

Wenn beispielsweise ein Chirurg nicht die Möglichkeit zur regelmäßigen Vornahme von Operationen bekommt, wird er bei komplexen Eingriffen nicht die nötige Sicherheit und Routine haben. Ähnliches gilt für einen Croupier, der ←22 | 23→seine Fingerfertigkeit im Umgang mit Chips und Karten zu verlieren droht.15 Auch im Bereich des Leistungssports hat die tatsächliche Beschäftigung eine besondere Bedeutung für den Athleten: Die Teilnahme an Training und Wettkampf ist erforderlich, um die Leistungsfähigkeit erproben, erhalten und steigern zu können.16 Hat etwa ein Lizenzfußballspieler keine Möglichkeit am Trainings- und Spielbetrieb teilzunehmen, wird er neben seiner körperlichen Leistungsfähigkeit auch sein technisches Geschick verlieren und zudem nicht an den neuesten fußballtaktischen Veränderungen partizipieren.

Dass der Arbeitnehmer bei fehlendem Arbeitseinsatz gehindert ist, seine beruflichen Fähigkeiten zu erhalten und fortzubilden, hat das BAG bereits in seiner Entscheidung aus dem Jahr 195517 ausgeführt. Zwar gilt dies, wie vom BAG angedeutet, vor allem für leitende Angestellte und andere Arbeitnehmer mit überdurchschnittlich bedeutsamen Aufgaben. Denn je spezialisierter die jeweilige Tätigkeit ist und je schnelllebiger die Entwicklungen im entsprechenden Beschäftigungsbereich sind, desto größer sind die Nachteile, die dem Arbeitnehmer im Falle seiner Nichtbeschäftigung drohen.18 Zumindest im Grundsatz stellt sich das Phänomen des Fähigkeitsverlustes bei längerer Nichtausübung des Berufs aber bei einer Vielzahl von Tätigkeiten dar: Dem Akkordarbeiter am Fließband werden im Falle seiner Nichtbeschäftigung ebenso seine gewohnten Arbeitsabläufe fremd wie dem Kfz-Mechaniker oder dem Sachbearbeiter im Büro, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Ein Fähigkeitsverlust im Falle einer zumindest länger andauernden Nichtbeschäftigung ist daher im Allgemeinen kein berufs- oder branchenspezifisches Problem.

Andererseits wird der Marktwert durch regelmäßige Teilhabe an Schulungen und Fortbildungen erhalten und gesteigert. Zahlreiche Berufe, etwa im Bereich der Medizin, des Rechts oder der Informationstechnologie, setzen die regelmäßige Aktualisierung des eigenen Wissens geradezu voraus.19 Nur wer über die neuesten Arbeitsabläufe und Prozesse in seinem Arbeitsfeld informiert bleibt, kann seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen ←23 | 24→Arbeitnehmern erhalten. Insofern eröffnet die Teilnahmemöglichkeit an der betrieblichen Berufsbildung einen Schutz gegen die Überalterung und damit Entwertung bestehender Fähigkeiten und dient auf diese Weise der Steigerung der persönlichen Bedeutsamkeit.20 Aber auch die Chance zum Aufstieg zu qualifizierteren Tätigkeiten eröffnet sich mitunter erst durch Fort- und Weiterbildungen.21 Tatsächlich sehen im Durchschnitt 3/4 der Deutschen die Notwendigkeit, in jedem Alter für den Beruf dazu zu lernen.22 Natürlich fällt es leicht, den Beschäftigten insofern auf seine Eigenverantwortung zu verweisen.23 Allerdings ist die tatsächliche Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oft die Voraussetzung für eine sinnvolle und effektive Weiterbildung. Denn häufig stehen die nötigen Arbeitsmittel nur am konkreten Arbeitsplatz zur Verfügung. So kann der Croupier zwar auch zuhause mit Chips und Spielkarten seine Fingerfertigkeit trainieren, allerdings wird er die ganzheitlichen Spielabläufe am Casinotisch nicht alleine simulieren können. Auch der Fußballprofi ist privat in der Lage, seinen allgemeinen Fitnesslevel einigermaßen aufrechterhalten. Für spezielle fußballtechnische Feinheiten und fußballtaktische Abläufe ist er aber einerseits auf sein Trainerteam, andererseits auf die unmittelbare Mannschaftseinbindung und nicht zuletzt auf unterschiedliche Trainingsmöglichkeiten im Kraftraum, auf dem Trainingsplatz oder in Rehabilitationsanlagen angewiesen. Insofern bildet die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers einen Faktor, der sich auf den Marktwert des Betroffenen unmittelbar auswirken kann.

bb) Möglichkeit der Außendarstellung

Daneben definiert sich der berufliche Wert vieler Personen über eine vergleichende Einordnung der ausgeübten Tätigkeit am Markt, welche nicht zuletzt von der öffentlichen Meinung geprägt wird. So sind beispielsweise Schauspieler oder Musiker auf eine Bühne angewiesen, um ihre Fähigkeiten regelmäßig einem Publikum präsentieren, damit unter Beweis stellen und so ihren Marktwert erhalten zu können. Unabhängig von der Tatsache, dass es einem Schauspieler ←24 | 25→oder Sänger ohne regelmäßige Auftritte wahrscheinlich kaum gelänge, sein Niveau bzw. seine Qualifikation zu erhalten oder gar zu steigern, würde bei ausbleibenden Auftritten sein Bekanntheitsgrad und damit die Nachfrage bezüglich seiner Leistung sinken, wodurch sein Marktwert erheblich beeinträchtigt werden würde. Ähnlich stellt sich die Situation im Berufssport dar: Erfolge und gute Resultate bei Wettkämpfen bringen nicht nur Preisgelder mit sich, sondern erhöhen gleichermaßen die Chancen auf sich aufmerksam zu machen und so neue Sponsoren oder Kooperationspartner zu finden.24 Daher ist die Teilnahme an Training und Wettkampf wichtig für die finanzielle Grundversorgung im kommerzialisierten Sport.25

Die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers dient also nicht nur dem Erhalt bzw. der Erweiterung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten. Auch die Wahrung von beruflichen Kontakten sowie die Steigerung seines Bekanntheitsgrades sind Aspekte, welche die Arbeitsmarkttauglichkeit des Arbeitnehmers sichern und fördern.26

c) Erwerb von „besonderen“ Vergütungsbestandteilen

Ein Interesse des Arbeitnehmers an einer tatsächlichen Beschäftigung kann sich weiter aus dem Umstand ergeben, dass ein Teil seiner Vergütung aus leistungs- und erfolgsabhängigen Bestandteilen besteht.27 Im Falle der Freistellung wird etwa Vertretern, Verkäufern oder Maklern die Möglichkeit genommen, durch ihre Tätigkeit Provisionen zu erzielen.28 Auch stellen beispielsweise Trinkgelder mitunter einen wesentlichen Teil des monatlichen Gesamteinkommens von Kellnern dar, welche nur im Falle der tatsächlichen Beschäftigung erzielt werden können.29 Zudem kann sich der Arbeitnehmer durch Leistung im Rahmen seiner tatsächlichen Beschäftigung für Prämien wie Jahressonderzahlungen empfehlen.30

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2. Interessen ideeller Art

Neben den rein monetären Interessen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen gibt es eine Reihe von weiteren Bedürfnissen, welche durch die tatsächliche Beschäftigung des Arbeitnehmers befriedigt werden können. Dass neben finanziellen Gesichtspunkten auch solche ideeller Art stehen, wird bereits durch den Umstand deutlich, dass mehr als die Hälfte der Deutschen auch weiterhin arbeiten würden, selbst wenn sie finanziell nicht darauf angewiesen wären.31 Dies unterstreicht, dass Arbeit für viele Erwerbstätige keine Last, sondern eine geschätzte Betätigung und Abwechslung darstellt.32 Daher ist es für das Verständnis von tatsächlicher Beschäftigung von entscheidender Bedeutung, diese nicht ausschließlich anhand ihrer ökonomischen Funktion zu beurteilen, sondern als Teil der individuellen Lebensgestaltung zu begreifen.33

a) Rechtfertigung des Verdienstes

Wie dargestellt wird dem Arbeitgeber durch seine Beschäftigung die Möglichkeit gegeben, sich seinen Lohn zur Sicherung der Grundbedürfnisse und zur Finanzierung darüber hinausgehender Luxusbedürfnisse zu erarbeiten. Hierbei spielt es durchaus eine nicht unwesentliche Rolle, ob man (negativ formuliert) „Entbehrungen erbracht hat“34 oder (positiv formuliert) „etwas geleistet hat“, jedenfalls wirklich tätig geworden ist. Denn auf der Grundlage tatsächlicher Beschäftigung erwächst nicht selten der Eindruck, man habe sich die Gegenleistung und die im Folgenden daraus resultierenden Anschaffungen verdient. Mit einem tatsächlichen „Erarbeiten“ geht nicht selten ein Gefühl der Rechtfertigung des wirtschaftlichen Gegenwertes einher. Es entsteht die Empfindung des „Verdienthabens“ („Ich habe in letzter Zeit so viel gearbeitet, diesen Urlaub habe ich mir verdient.“). Arbeit und Belohnung sind daher aufs Engste miteinander verknüpft.35

Daneben trägt tatsächliche Beschäftigung nicht nur zur Rechtfertigung von Ausgaben und Anschaffungen vor sich selbst, sondern auch vor seinem sozialen Umfeld bei. Denn auch im gesellschaftlichen Umgang erfahren beispielsweise ←26 | 27→Urlaube oder sonstige Neuanschaffungen eine höhere Akzeptanz, wenn sie tatsächlich erarbeitet worden sind. Nur der durch eigene Arbeit bzw. eigenes tatsächliches Handeln erworbene Reichtum und Wohlstand gilt als gesellschaftlich legitimiert.36 Dementsprechend wird bei der Rechtfertigung des Verdienstes ein qualitativer Unterschied zwischen Leistungen gemacht, die man aus sozialen Sicherungssystemen bezieht und solchen, zu denen man ohne eine „Belastung der Gesellschaft“ gekommen ist. So würden zwar immerhin 55 % der Deutschen selbst dann weiterarbeiten, wenn sie bei einem Gewinnspiel viel Geld gewinnen würden.37 Allerdings würden sogar 73 % der Deutschen auch dann lieber selbst arbeiten, wenn das Arbeitslosengeld sehr hoch wäre.38 Insofern erscheint es in der öffentlichen Wahrnehmung durchaus verächtlich Lohn in Empfang zu nehmen, den man sich nicht durch eigene Leistung tatsächlich erarbeitet hat.39

b) Wertschätzung der Arbeitsleistung

Nicht nur die Rechtfertigung der erhaltenen Vergütung, auch das durch tatsächliche Beschäftigung vermittelte Gefühl der Wertschätzung liegt maßgeblich im Interesse des Arbeitnehmers. Kaum ein anderer Lebensbereich bestimmt die soziale Selbstwahrnehmung mehr als die berufliche Tätigkeit.40 In der allgemeinen gesellschaftlichen Anschauung scheint nichts mehr über die Tüchtigkeit eines Menschen auszusagen als die Zeit, die er täglich an seinem Arbeitsplatz verbringt – nichts mehr geneigt zu sein, einem Menschen Vertrauen zu schenken, als seine verantwortliche Stellung in seinem Beruf – nichts mehr seine persönlichen Verdienste zu beweisen, als sein beruflicher Erfolg.41

So soll die Arbeit als zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens42 einen sinnvollen Beitrag für den Arbeitgeber leisten, der bestenfalls auch gewürdigt ←27 | 28→und anerkannt wird. Doch selbst wenn dies nicht geschieht, etwa weil die Arbeitsleistung in den Augen des Arbeitgebers eher durchschnittlichen Anforderungen entspricht, oder der Arbeitgeber, unabhängig von der Qualität der erbrachten Arbeitsleistung, seine Wertschätzung – aus welchen Gründen auch immer – schlicht nicht zum Ausdruck bringt, so ist der Arbeitnehmer im Falle der tatsächlichen Beschäftigung zumindest in den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens mit eingebunden und wird nicht zum „reinen Lohnempfänger“ degradiert, für den es im Unternehmen keinen sinnvollen Platz mehr zu geben scheint.43 Denn sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch gegenüber dem Betroffenen selbst, kann die in eine Freistellung hineininterpretierbare Grundaussage, dass man den Arbeitnehmer lieber dafür bezahle nicht zu arbeiten, als seine Arbeitsleistung in Anspruch zu nehmen, schnell verächtlich und herabwürdigend wirken.44 Beschäftigung hat dementsprechend eine sinnstiftende Wirkung und gibt dem Arbeitnehmer das Gefühl „gebraucht zu werden“, nicht „nutzlos“ zu sein oder sein Leben nicht „zu vergeuden“.45 Die durch tatsächliche Beschäftigung vermittelte Wertschätzung bestätigt den Arbeitnehmer dahingehend, dass sein bisheriger Leistungseinsatz (Ausbildungsweg, Engagement an der Arbeit) lohnenswert war.46

Gleichzeitig gilt Nichtbeschäftigung und Arbeitslosigkeit als persönliches Versagen. Und das weniger, weil sie den Einzelnen in eine materielle Notlage bringen und ihn so der Gesellschaft zur Last legen würde, sondern vielmehr, weil „Tatenlosigkeit“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung per se einen Makel darstellt.47 Damit kann aus der Nichtbeschäftigung ein Ansehensverlust des Arbeitnehmers resultieren,48 der noch gesteigert zu werden droht, je höher die öffentliche Beachtung des jeweiligen Arbeitnehmers bzw. der entsprechenden Berufsgruppe ist.49 Ähnlich wie bei einer Kündigung kann auch im Falle einer ←28 | 29→Freistellung beim Arbeitnehmer das Gefühl erzeugt werden, nicht mehr wichtig bzw. nützlich zu sein (Schock des „Draußenseins“).50 Tatsächliche Beschäftigung ist somit verknüpft mit einem Erwerb sozialer Achtung und Wertschätzung in der beruflichen, genauso wie in der privaten Umwelt.51

c) Persönlichkeitsentfaltung

Da Arbeit einen ganz wesentlichen Teil der Lebenszeit einnimmt und den Arbeitnehmer nicht nur bewusst, sondern auch unterschwellig beeinflusst, kann die Tätigkeit auf lange Sicht einen spürbaren Effekt auf die Persönlichkeitsbildung und -entfaltung haben.52 Bestenfalls kann der Arbeitnehmer im Rahmen der tatsächlichen Beschäftigung seinen Interessen nachgehen und seine Persönlichkeit entwickeln bzw. ausleben. Arbeit und Beschäftigung dienen dann – zumindest partiell – als Ausdruck des eigenen Wesens. Dies kann neben den klassischen Beispielen wie im Falle von künstlerischen oder wissenschaftlichen Tätigkeiten grundsätzlich auch in allen anderen Bereichen vorkommen, in denen der Arbeitnehmer durch seine Tätigkeit „ausgefüllt“ wird oder ein Gefühl der Freude oder des „Zufriedenseins“ vermittelt bekommt. Daher lässt sich tatsächliche Beschäftigung grundsätzlich als eine Möglichkeit zur Verfolgung eigener Interessen, Werte und Ziele sowie als Chance zur Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten einordnen.53

Details

Seiten
228
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631852958
ISBN (ePUB)
9783631852965
ISBN (MOBI)
9783631852972
ISBN (Hardcover)
9783631849521
DOI
10.3726/b18331
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Nebenleistungspflicht allgemeines Persönlichkeitsrecht Berufsfreiheit staatliche Schutzpflicht Unternehmerfreiheit Freistellung Interessenabwägung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 228 S.

Biographische Angaben

Florian Eckel (Autor:in)

Florian Eckel studierte Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Anschließend war er in Göttingen als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht von Prof. Dr. Rüdiger Krause tätig. Das Referendariat absolvierte er im Bezirk des Oberlandesgerichts Braunschweig mit Stationen in Göttingen, Hamburg und Hannover.

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