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Von der Linie zum Körper

Das Rauschen der Medien in Prousts «À la recherche du temps perdu»

von Kristin Mlynek-Theil (Autor:in)
©2018 Dissertation 270 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 25

Zusammenfassung

Der Band führt mediale und wahrnehmungsästhetische Überlegungen vor dem Hintergrund des Sinnbildes der Motte zusammen. Die Motte avanciert im Proust’schen Romanwerk nicht nur zum Inbegriff der Störungen, die sich immer wieder in den Schreibprozess des Protagonisten einnisten, sondern spiegelt zugleich die subtile Medialisierung der «Recherche», die in ihrer alles erfassenden Wirkung eher hintergründig bleibt: als Rauschen, das den Wahrnehmungsprozess des Protagonisten beständig begleitet, als leiser und beständiger «Mottenfraß» am Papier, der jedoch weit davon entfernt ist, bloße Irritation zu sein, und vor allem auch kreative Prozesse beim Protagonisten zu erwecken vermag. Die Analyse deckt ein filigran gewebtes Netz medialer Interferenzen auf, das den Weg vom Körper zu den Verzweigungen der Wahrnehmung sowie zurück zum Körper beschreitet und bereits auf medientheoretische Thesen vorausweist, die sich so erst in den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts Bahn brechen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Vorbemerkungen
  • 1.1 Die Bewegungen des Werkes. Proust mit Foucault, Eco und dem Protagonisten der Recherche
  • 1.2 Vom Körper zur Linie
  • 2. Theoriedesign
  • 2.1 Kreationen im Zwischenraum, oder: Von der wechselhaften Natur der Störung
  • 2.2 Pendelbewegung und Symmetriebrechung im Kontext des Wahrnehmungsumschlags
  • 2.3 Die Positionierung des Subjekts: mediales Dispositiv und ‚environment‘
  • 3. Das Rauschen der Information
  • 3.1 Die Stadt und das Rauschen
  • 3.2 Optisches Rauschen
  • 3.2.1 Von der Wucht der Wahrnehmung: Laterna magica und kinematographische Projektion
  • 3.2.2 In der Dunkelkammer der Wahrnehmung: Camera obscura und Camera lucida
  • 3.3 Akustisches Rauschen
  • 3.3.1 Klangumgebungen: Ton und Geräusch bei Proust
  • 3.3.2 Irrungen und Wirrungen der Fernkommunikation
  • 3.4 Optisch-akustisches Rauschen
  • 3.4.1 Das Pianola im Kontext des Nebels
  • 3.4.2 Doncières, Paris und die poetologische Kreation
  • 4. Der strauchelnde Blick
  • 4.1 ‚To the moon and back‘ – Galilei und die mentale Konstruktion des Blickes
  • 4.1.1 Vom heimlichen Leben der Augengläser
  • 4.1.2 Von Augenwischereien und Stromunterbrechungen
  • 4.2 Von Jägern und Sammlern: Bilderverzehr und hyperrealistische Seherlebnisse in der Recherche
  • 4.2.1 Spielarten des Konsums
  • 4.2.2 Sehbegierden
  • 4.2.3 Der insistierende Blick
  • 4.2.4 Ansichten
  • 4.2.5 Gewölbte Welten
  • 4.2.5.1 Von Aquarienbewohnern und Gesichtsfeldeintrübungen
  • 4.2.5.2 Von Glaskäfigen und programmierten Umgebungen
  • 4.2.5.3 Von Zoowelten und Dressureffekten
  • 4.3 Bewegungsverlagerungen
  • 4.3.1 Von der Passivität des Zuschauers: Das Panorama im Kontext des Fernsehens
  • 4.3.1.1 (Des-)Illusionierungen
  • 4.3.1.2 Exkurs: Von Selbst-Illusionisten und Zwangsneurotikern
  • 4.3.2 Reise in die Bilderwelt
  • 4.3.2.1 Entmaterialisierungserscheinungen
  • 4.3.2.2 Bildprozesse
  • 4.3.3 Instabilitäten
  • 4.3.3.1 Von Halluzinationen und Wahrnehmungsunsicherheiten: das Stereoskop
  • 4.3.3.2 ‚Im Fluss‘: Von Oszillationen und Beschleunigungseffekten
  • 5. Von der Linie zum Körper – Schlussbetrachtungen
  • 6. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 6.1 Primärliteratur
  • 6.2 Sekundärliteratur
  • 6.2.1 (Meta)Theorie
  • 6.2.2 Medien- und Wahrnehmungstheorie
  • 6.2.3 Proust-Studien
  • 6.2.4 Analysen zu De Carlo
  • Reihenübersicht

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1.  Vorbemerkungen

1.1  Die Bewegungen des Werkes. Proust mit Foucault, Eco und dem Protagonisten der Recherche

« […] il n’y a pas de fourreurs qui s’y connaissent aussi bien comme les mites.
Ils se mettent toujours dans les meilleures étoffes. »1

Dass die Medialisierung unseres Alltagslebens immer weiter voranschreitet und dabei auch vor unseren Wahrnehmungsgewohnheiten keinen Halt macht, jene erfasst und tiefgreifend verändert, ist heute angesichts aktueller medialer Formate, die immer stärker auf Partizipation und Interaktion abzielen, kein Geheimnis mehr. Umso interessanter ist es deshalb, wenn jene Theorien und Thesen, die die Mitte und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, sich bereits in einem Werk präfigurieren, das um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden ist, zu einer Zeit, als das Kino noch in den Kinderschuhen steckte und an das heimische Erleben via Fernseher oder Computer noch nicht in aller Konsequenz zu denken war. Das Werk, von dem hier die Rede sein soll, ist das siebenbändige Romanwerk Marcel Prousts, das – in einem autoreflexiven Gestus – bezeichnenderweise den Titel À la recherche du temps perdu trägt, wobei die verlorene Zeit, die hier gesucht werden soll und scheinbar erst mit dem letzten Band gefunden wird, eigentlich bereits im Moment des Öffnens des Buches vor dem Leser ausgebreitet liegt.

Wenn man so will, ist das Romanwerk Prousts um den besonderen Fall des Verschwindens des Schreibens im bzw. hinter dem Schreiben selbst zentriert, was erst am Ende des Romans in dessen Zirkel deutlich figuriert. Der Protagonist, so erfährt man im Verlaufe der verschiedenen Bände, möchte einen Roman über sein Leben, seine Erinnerungen schreiben und thematisiert im Fortgang ← 11 | 12 → des Romans dezidiert dann und wann die Probleme, die bei der Umsetzung jener Sehnsucht auftreten – man vergleiche hierzu die desesperierten Äußerungen des Erzählers, der von Zeit zu Zeit seine Schreibblockade bedauert und an seiner Befähigung als potentieller Schriftsteller zweifelt, das Umgehen von Schreibproben und die Flucht in Ablenkungen, die zu möglichen Inspirationsquellen stilisiert werden und deren Beschreibung weitaus mehr Platz einnimmt als die Beschreibung des Romanprojektes selbst, sowie die Bezüge zu 1001e Nacht und der Geschichte Scheherazades. Die Darlegung der schriftstellerischen Vokation scheint also zunächst das Ziel bzw. der Zielpunkt der Narration zu sein, tritt jedoch im Schreiben bzw. Geschriebenwerden selbst zurück; am Ende des Romans gelangt der Protagonist schließlich zu jenen Einsichten, die ihn befähigen, das Werk zu realisieren, und er beschließt, es zu schreiben – obgleich es für den Leser bereits geschrieben wurde. Fast unwillkürlich drängt sich dabei, diesmal nicht das Ende, sondern der Anfang des Romans Se una notte d’inverno un viaggiatore auf, der mit den Worten „Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino“2 beginnt, obwohl man in diesem Fall meint, mit dem Lesen bereits begonnen zu haben. Während bei Calvino jedoch von Beginn an immer wieder Diskrepanzen zwischen dem Text und der Leserrolle figurieren, die einer auf Identifikation mit dem innergeschichtlichen Leser ausgelegten Leseweise zumindest einen schalen Nebengeschmack beimengen, entfaltet der Proust’sche Romanzyklus seine besondere Qualität darin, das Identifikationsangebot bis zum letzten Moment hin aufrechtzuerhalten und die literarischen Ambitionen des Protagonisten, den von ihm verfassten Roman, im Schreibprozess selbst gewissermaßen verschwinden zu lassen.

Die Subtilität, mit der das Romanwerk sein eigenes Entstehen reflektiert, beschränkt sich jedoch nicht nur auf die literarische Form, sondern führt zugleich an mediale Reflexionen heran, die mehr oder weniger dezent, aber nichtsdestotrotz äußerst tiefgreifend in Szene gesetzt werden. So finden sich im Romanzyklus immer wieder Stellen, die von einer stetigen Wechselwirkung zwischen der (zunehmend medialisierten) Umwelt des Menschen und dem Menschen selbst künden, ohne in jedem Falle ostentativ auf sich aufmerksam zu machen. Ebenso latent wie sich das eigentliche Schreiben des Romans durch den Roman zieht, bleiben auch die Ausprägungen der Medialisierung in ihrer alles erfassenden Wirkung eher hintergründig, als Rauschen, das den Wahrnehmungsprozess des Protagonisten begleitet, als leiser und beständiger ‚Mottenfraß‘ am Papier, ← 12 | 13 → der neben Irritationen, wie wir an späterer Stelle sehen werden, auch kreative Prozesse beim Protagonisten zu erwecken vermag.

Um nun auf die Spur jener subtilen Medialisierung zu gelangen, greift die Arbeit, in Anlehnung an Thesen Michel Foucaults und Umberto Ecos sowie des Protagonisten des Proust’schen Romanwerkes selbst, dem Roman eigene Strukturen und Verfahrensweisen auf und macht diese methodisch für die Analyse des Werkes fruchtbar. Sowohl Foucault als auch Eco – wenn auch in unterschiedlicher Form – sensibilisieren in ihren theoretischen Ausarbeitungen die Wahrnehmung insofern, als sie den Fokus auf die strukturellen Aspekte eines Werkes bzw., mit Foucault, eines Diskurses lenken. So dient auch Eco die Sichtbarmachung der Struktur eines untersuchten Werkes als Schnittbild zur Aufdeckung der Charakteristika des Werkes, als „modello teorico“3 – weniger, um eine wie auch immer geartete tatsächliche Struktur des Werkes offenzulegen –4, so dass der Begriff der Struktur, wie Eco ihn in seiner semiotischen Theorie, La struttura assente, darlegt, eher einem operationalen Betrachtungszusammenhang entspringt. Während Ecos Untersuchung darauf abzielt, zunächst Korrespondenzen zwischen verschiedenen Werken bzw. kulturellen Erzeugnissen in einem viel allgemeineren Sinne zu etablieren, aus denen sich dann später „le connessioni più profonde e articolate che sottostanno alle similarità rilevate in un primo tempo“5 herausdestillieren lassen, sucht die vorliegende Arbeit ihren Ausgangspunkt zwar auch in Ähnlichkeiten, nimmt jedoch davon ausgehend stärker die sich darin offenbarenden Differenzen in den Blick, um damit die Individualität, die Besonderheit des untersuchten Werkes hervortreten zu lassen.

Die im Zuge dieser Arbeit angestrebte Herausarbeitung der Besonderheiten des Untersuchten in ihren Ähnlichkeiten und Differenzen figuriert auch in den Überlegungen Foucaults, für den der in L’archéologie du savoir geäußerte Gedanke zentral ist, von vorgeschalteten Kategorisierungen bei der Betrachtung eines Werkes abzurücken und das Werk in den Beziehungen seiner einzelnen Komponenten, die die Besonderheiten seiner Struktur aufgreifen und umreißen,6 in den Mittelpunkt zu rücken. So hält Foucault entsprechend fest: ← 13 | 14 →

Il faut remettre en question ces synthèses toutes faites, ces groupements que d’ordinaire on admet avant tout examen, ces liens dont la validité est reconnue d’entrée de jeu […].7

Das Ziel der Infragestellung jener ‚synthèses toutes faites‘ ist jedoch nicht, den betrachteten Gegenstand auseinanderzunehmen und in disparaten, kausal nicht zusammenhängenden Teilen stehen zu lassen, sondern sich immer ihrer Wirkungsabsicht und ihres zu einem bestimmten Zweck konstruierten Charakters gewahr zu sein, jene Beziehungen neu zu denken, ohne sich vorherig durch gängige Betrachtungsweisen und Annahmen einnehmen zu lassen.8 Durch die solcherart erfolgte Reflexion der bisherigen Prämissen eines Werkes kann das Werk in seiner jeweiligen Besonderheit erfasst werden, ohne es reflexartig in einen starren Geschichtsverlauf einzubetten, der nur seine direkten Vorgänger oder Nachfolger in den Blick nimmt9 – ein Ansatzpunkt, den Foucault auch für seine eigenen Betrachtungen10 wählt, die er am Beispiel der Psychopathologie bzw. der „discours sur la folie“11 führt, um der Frage nachzugehen, wie man Diskurse und die ihnen zugrunde liegenden Einheiten individualisieren kann. Die im Zuge seiner Überlegungen skizzierte Archäologie, die er vor dem Hintergrund der Definition des Archivs fasst – innerhalb dessen „[l]’archéologie décrit les discours comme des pratiques spécifiées“12 –, beruht also vor allem darauf, die Kontexte, in die ein System von Aussagen, oder in unserem Fall spezieller: ein Werk, eingebettet ist, nicht unbefragt zu übernehmen, sondern offen für andere „région[s] d’interpositivité13 zu sein.

Die Wahl solcher sogenannter ‚Interpositivitätsfelder‘ rechtfertigt sich Foucault zufolge oftmals erst im Zuge der Analyse selbst, in der sich ihre Fruchtbarkeit oder ihr „effet […] multiplicateur“14 erweisen wird, und muss somit nicht zwangsläufig einer klassischen Systematisierung erwachsen.15 Ähnliches gilt in diesem Sinne auch für die im Rahmen dieser Arbeit gewählten Kontrastpunkte Andrea de Carlo und Germaine Dulac, die in Bezug auf das Proust’sche Werk nicht unbedingt gleich naheliegen und auch nur einen begrenzten Ausschnitt aus der Zahl der möglichen Betrachtungspunkte bilden – jedoch keineswegs Objekte ← 14 | 15 → einer willkürlichen, spontanen Zufallsauswahl darstellen (in diesem Sinne rückt die vorliegende Arbeit auch von einer Analyse klassischer Verortungspunkte des Proust’schen Werkes wie dem Werk Honoré de Balzacs oder dem Werk Alain Robbe-Grillets ab, die oftmals als jeweilige Pole – Balzac durch seinen auktorialen, panoramatischen Stil, Robbe-Grillet durch die Modernität seiner Schreibweise – in Kontrast zum Proust’schen Werk gesetzt werden). Sie sind ‚ausgewählte‘ Kontrapunkte, die dem Umstand geschuldet sind, dass die Forschungsinteressen der Verfasserin dieser Arbeit auf dem Gebiet der Wahrnehmung liegen und dadurch speziell Werke in den Fokus rücken, in denen eine Auseinandersetzung mit selbiger erfolgt. Die Beschäftigung mit De Carlo und Dulac erlaubt dabei eine tiefergehende Darstellung der subtilen medialen Durchdringung der Recherche, die ihr unbestreitbar innewohnt, und vermag dabei Formen medialer Markierung aufzuzeigen, die bisher weniger im Vordergrund der Analysen des Proust’schen Werkes standen, aber neue Synergien ergeben. Die Idee des Kontrastes speist sich zusätzlich aus Überlegungen Marshall McLuhans, in denen er angesichts des technisch-medialen Wandels, der „Electric circuitry“16, die in den 60er Jahren neue Technologien und Verknüpfungen sprießen lässt, ein Wiederaufleben der „allatonceness“17 diagnostiziert, die uns in unserer Frühzeit akustisch und visuell in Simultaneität, in eine „world of simultaneous relationships“18 eingebettet hat. Mit den veränderten Kommunikationsbedingungen gehen zugleich tiefgreifende Umwälzungen im gesamten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben einher, die McLuhan zufolge eine Anpassung unseres Denkens beim Herangehen an die täglichen Herausforderungen des Lebens erforderlich machen. So stellt er deutlich heraus, dass „[w]e can no longer build serially, block-by-block, step-by-step, because instant communication insures that all factors of the environment and of experience coexist in a state of active interplay.“19 Das Abrücken von den „older, traditional ideas of private, isolated thoughts and actions“20 sowie die Fokussierung der neu entstehenden Verbindungen und Anschlüsse privilegiert somit auch Verknüpfungen im Denken, die ← 15 | 16 → auf ein fruchtbares In-Kontakt-Bringen heterogener Konzepte abzielt, auf die wechselseitige Beteiligung am jeweils Differenten, auf „involvement“21:

Our time is a time for crossing barriers, for erasing old categories – for probing around. When two seemingly disparate elements are imaginatively poised, put in apposition in new and unique ways, startling discoveries often result.22

Gleichwohl hebt Foucault in seiner Untersuchung hervor, dass „[p]our certaines formations discursives, l’ordre archéologique n’est peut-être pas très différent de l’ordre systématique, comme dans d’autres cas il suit peut-être le fil des successions chronologiques.“23 Dies macht deutlich, dass die Figur der Diskontinuität bzw. die „insistance sur les discontinuités“24 sowie die Betonung der Brüche und Zwischenräume nicht als Doktrin der Analyse figurieren, sondern ein notwendiges Element jener darstellen, das nicht einfach außen vor gelassen werden kann – weswegen jene Aspekte auch entsprechend von Foucault betont werden:

L’archéologie n’entreprend pas de traiter comme simultané ce qui se donne comme successif ; elle n’essaie pas de figer le temps et de substituer à son flux d’événements des corrélations qui dessinent une figure immobile. Ce qu’elle met en suspens, c’est le thème que la succession est un absolu : un enchaînement premier et indissociable auquel le discours serait soumis par la loi de sa finitude ; c’est aussi le thème qu’il n’y a dans le discours qu’une seule forme et qu’un seul niveau de succession. […] Au lieu de suivre le fil d’un calendrier originaire […], on essaie de montrer comment il peut y avoir succession, et à quels niveaux différents on trouve des successions distinctes.25

Foucault geht es in diesem Sinne nicht um die Ausschließlichkeit einer Betrachtung, die Divergenzen – das Abweichende – fokussiert, sondern um eine Differenzierung augenscheinlich homogener Phänomene, was auch vor dem Hintergrund dieser Arbeit in Bezug auf die Frage, was mit der Betrachtung De Carlos und Dulacs in Bezug auf Proust bezweckt werden soll, von großer Relevanz ist. So soll keine etwaige epistemologische Linie zwischen jenen gezogen werden, um sie in ähnlichen Gefilden zu verorten, sondern die vorrangige Perspektive soll sein, im Kontrast nicht die Gemeinsamkeiten zwischen den Autoren bzw. Künstlern, sondern die Besonderheiten des Proust’schen Werkes hervortreten zu lassen: an den Stellen, an denen sich die kontrastierten Werke nicht ähnlich sind bzw. an denen sich in den Ähnlichkeiten Differenzen manifestieren. ← 16 | 17 → Um es mit den Worten von Knut Hickethier zu formulieren, „zählt nicht die klare geometrische Konstruktion, sondern die Vielfalt der ineinander verwachsenen Formen.“26

Jene Verwachsungen sind es auch, die den Protagonisten des Proust’schen Werkes faszinieren: So lassen die Namen der Herzöge, die er während einer Soiree im Hause der Guermantes hört, vor den Augen des Erzählers das wiedererstehen, was er mit den Namen mystifizierend verbindet, Ahnen sowie ganze Gemäldeszenerien von Memling oder auch Carpaccio.27 Die Namen, die er aufnimmt, bilden dabei nach und nach ein Netz, das er in Bezug zur Kunst setzt, ähnlich den Knoten bei Foucault28:

Ainsi les espaces de ma mémoire se couvraient peu à peu de noms qui, en s’ordonnant, en se composant les uns relativement aux autres, en nouant entre eux des rapports de plus en plus nombreux, imitaient ces œuvres d’art achevées où il n’y a pas une seule touche qui soit isolée, où chaque partie tour à tour reçoit des autres sa raison d’être comme elle leur impose la sienne. (II, 826)

Jener Prozess spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, auf die der Protagonist sein eigenes Werk im Roman erstehen lässt: nämlich aus Flicken und Mosaiken, mit Papierschnitzen beklebte Seiten, die eher als Collage, denn als literarisches Werk, daherkommen. Die langjährige und treue Hausangestellte Françoise, die den Protagonisten beim ‚Zusammenhalten‘ jener Collage unterstützt und verschlissene Seiten fixiert, hat ihre liebe Mühe, die vom Mottenfraß bedrohten Seiten zu retten – wobei der Motte, die hier am Papier nagt und die schriftstellerischen Versuche des Erzählers unterläuft, eine fast metaphorische Qualität innewohnt, wirkt sie doch wie ein Sinnbild der Störungen, die sich immer wieder in den Schreibprozess einnisten, jedoch zugleich die spezifische Form des Werkes untermauern:

À force de coller les uns aux autres ces papiers que Françoise appelait mes paperoles, ils se déchiraient çà et là. Au besoin Françoise ne pourrait-elle pas m’aider à les consolider, de la même façon qu’elle mettait des pièces aux parties usées de ses robes, ou qu’à la ← 17 | 18 → fenêtre de la cuisine, en attendant le vitrier comme moi l’imprimeur, elle collait un morceau de journal à la place d’un carreau cassé ? […]
Françoise me dirait, en me montrant mes cahiers rongés comme le bois où l’insecte s’est mis : « C’est tout mité, regardez, c’est malheureux, voilà un bout de page qui n’est plus qu’une dentelle » et l’examinant comme un tailleur : « Je ne crois pas que je pourrai la refaire, c’est perdu. C’est dommage, c’est peut-être vos plus belles idées. Comme on dit à Combray, il n’y a pas de fourreurs qui s’y connaissent aussi bien comme les mites. Ils se mettent toujours dans les meilleures étoffes. » (IV, 611)

Der Umstand, dass sich beim Anfertigen einer Collage zwischen den einzelnen Schnitzen Brüche ergeben, die nicht nur auf die Materialität des Mediums selbst verweisen, sondern auch die Bezüge zwischen den einzelnen Elementen neu erscheinen lassen, koinzidiert mit dem Gedanken, dass Impulse zur Eruierung eines Werkes auch aus anderen Gebieten, Gegenständen und Ansätzen als den zeitgenössischen gewonnen werden können. Dies reflektiert auf bemerkenswerte Weise bereits das Romanwerk Prousts bzw. der Protagonist des Romans selbst, indem er seine Erkenntnisse oftmals nicht vermittels des eigentlichen Objektes der Erkenntnis oder des Nachdenkens über jenes Objekt erhält, sondern – ganz im Sinne der ‚mémoires involontaires‘ – aufgrund einer meist zeitversetzten Vermittlung über Objekte, die nicht zwangsläufig mit diesem assoziiert wurden oder schlicht im Gefolge der ursprünglichen Gedanken auftraten.29 Der Anschluss an Vergangenes, die Entschlüsselung brachliegender Erinnerungen oder Einsichten, erfolgt somit oftmals über assoziative Ketten, die nicht unmittelbar in den Bildbereich zu passen (und damit auf den ersten Blick ungewöhnlich bzw. different) scheinen.

Jene „Kunst, die Dinge von Akzidentien zu befreien und Objekte aus dem Kontext zu isolieren“30, von der Gerhard Wild in Bezug auf die Malerei spricht, schreibt sich somit gleichermaßen in die poetologische Ebene des vom Protagonisten angestrebten Romanwerkes ein, welches in diesem Sinne seinen vollen Gehalt erst entfaltet, wenn es auch aus anderen Perspektiven gelesen, in einem anderen Rahmen als dem ursprünglichen Entstehungskontext rezipiert wird, da ← 18 | 19 → erst hierin die Kreationsmechanismen des Textes sichtbar werden. So hält der Protagonist angesichts der zeitgenössischen Kunstrezeption treffenderweise fest:

Mais en tout genre, notre temps a la manie de vouloir ne montrer les choses qu’avec ce qui les entoure dans la réalité, et par là de supprimer l’essentiel, l’acte de l’esprit qui les isola d’elle. On « présente » un tableau au milieu de meubles, de bibelots, de tentures de la même époque, fade décor qu’excelle à composer dans les hôtels d’aujourd’hui la maîtresse de maison la plus ignorante la veille, passant maintenant ses journées dans les archives et les bibliothèques et au milieu duquel le chef-d’œuvre qu’on regarde tout en dînant ne nous donne pas la même enivrante joie qu’on ne doit lui demander que dans une salle de musée, laquelle symbolise bien mieux, par sa nudité et son dépouillement de toutes particularités, les espaces intérieurs où l’artiste s’est abstrait pour créer. (II, 5–6)

Erst wenn – in einem beinahe schon Foucault’schen Gestus – das Werk aus seinen präexistierenden Bezügen herausgelöst wird und frei von präjudizierenden Kategorisierungen in seiner „nudité“ (II, 6), im Spiel seiner Besonderheiten betrachtet wird, kann jener Raum, können jene „espaces“ (ebd.) nachvollzogen werden, innerhalb derer das Werk entstanden ist – kann jener zunächst noch unbestimmte Raum, in dem sich die Kreation des Werkes und im übertragenen Sinne auch des Schreibens entfaltet, näher bestimmt werden: ein strukturaler Impetus, der nicht von ungefähr Positionen des Protagonisten, Ecos und Foucaults aneinanderzubinden vermag.

Doch auch in einer zweiten Hinsicht gewinnen Prozesse, die sich innerhalb der erzählten Welt des Romanwerkes abspielen, auf poetologischer Ebene Relevanz und liefern damit Inspiration für die eigene Herangehensweise an die Untersuchung des Proust’schen Romanwerkes. So sind für die Recherche Wahrnehmungsvorgänge zentral, die beim Protagonisten sowie Charles Swann, einem Kunstsammler und Freund der Familie des Protagonisten, einen Annäherungs- bzw. Filterungsprozess auslösen, der sich in beständigen Versuchen, das Wahrgenommene zu entzerren, ein störungsfreies Substrat aus dem vormaligen Rauschen herauszuarbeiten und das Wahrgenommene schrittweise zu transformieren, manifestiert. Dies offenbart sich besonders in akustischen Phänomenen, die sich vom Ticken einer Uhr bis hin zu komplexen Musikstücken erstrecken, wobei als eines der präsentesten Beispiele jene sensorischen Erfahrungen angeführt werden können, die den Protagonisten sowie Charles Swann beim Wahrnehmen der ‚petite phrase‘ aus der Sonate von Vinteuil ergreifen. Als von zentraler Bedeutung erweist sich hier der Umstand, dass die Wahrnehmung des ausdifferenzierten, abgeschlossenen Werkes gegenüber dem Prozess der schrittweisen Präzisierung, Ausarbeitung und Annäherung oftmals in den Hintergrund rückt. Auch werden die akustischen Isolierungsprozesse sehr häufig an visuelle Filterungserlebnisse angeschlossen und umgekehrt, wie ← 19 | 20 → sich unter anderem bereits im ersten Band des Romanwerkes, Du côté de chez Swann, andeutet, als der Protagonist versucht, sich der spezifischen Schreibweise des werkimmanenten Schriftstellers Bergotte anzunähern. Das geschriebene Werk, das ihm zunächst optisch zuteil wird, stellt sich ihm dabei wie ein diffuses Musikstück dar, dessen genaue Melodiefolge sich ihm noch nicht präsentiert und erst in einer beständigen Re-Lektüre an Kontur gewinnt:

Les premiers jours, comme un air de musique dont on raffolera, mais qu’on ne distingue pas encore, ce que je devais tant aimer dans son style ne m’apparut pas. Je ne pouvais pas quitter le roman que je lisais de lui […]. Puis je remarquai les expressions rares, presque archaïques qu’il aimait employer à certains moments où un flot caché d’harmonie, un prélude intérieur, soulevait son style ; et c’était aussi à ces moments-là […] qu’il exprimait toute une philosophie nouvelle pour moi par de merveilleuses images dont on aurait dit que c’était elles qui avaient éveillé ce chant de harpes qui s’élevait alors et à l’accompagnement duquel elles donnaient quelque chose de sublime. Un de ces passages de Bergotte, le troisième ou le quatrième que j’eusse isolé du reste, me donna une joie incomparable à celle que j’avais trouvée au premier, une joie que je me sentis éprouver en une région plus profonde de moi-même, plus unie, plus vaste, d’où les obstacles et les séparations semblaient avoir été enlevés. C’est que, reconnaissant alors ce même goût pour les expressions rares, cette même effusion musicale, cette même philosophie idéaliste qui avait déjà été les autres fois, sans que je m’en rendisse compte, la cause de mon plaisir, je n’eus plus l’impression d’être en présence d’un morceau particulier d’un certain livre de Bergotte, traçant à la surface de ma pensée une figure purement linéaire, mais plutôt du « morceau idéal » de Bergotte, commun à tous ses livres et auquel tous les passages analogues qui venaient se confondre avec lui auraient donné une sorte d’épaisseur, de volume, dont mon esprit semblait agrandi. (I, 92–93)

Vor diesem Hintergrund schickt sich die vorliegende Arbeit nun an, die Spur der „structure propre à une œuvre, à un livre, à un texte“31 aufzunehmen, wobei die Arbeit nicht allein präexistenten Kategorisierungen oder einer chronologischen Geschichte der Medien folgen will, sondern disparat erscheinende Ereignisse und Kategorien einerseits sowie die Annäherungsprozesse, die das Werk durchziehen, andererseits zusammenführen möchte. Auf diese Weise können Ketten von Ereignissen und Objekten freigelegt werden, die man auf den ersten Blick im Kontext medialer Betrachtungen nicht unmittelbar miteinander verbinden würde, die jedoch plötzlich konkrete Linien im Sinne unserer ‚petite phrase‘ aufschließen. Die Arbeit versucht in diesem Sinne, verschiedene thematische Felder aufzugreifen, diese an späterer Stelle gewissermaßen parallelzuführen und in ihren grundlegenden Operationen freizulegen. Dies trägt gleichzeitig dem Umstand Rechnung, dass Impulse aus einem Werk selbst wiederum Ausgangsbasis ← 20 | 21 → für Betrachtungen sein können, die einem anderen historischen Kontext oder Objektbereich entstammen. Um mit den Worten Ecos zu sprechen, der sich in seinen Untersuchungen von einem „certo strutturalismo ortodosso“32 abgrenzt, geht es also nicht darum, „di poter analizzare e descrivere l’opera d’arte come un ‘cristallo’, pura struttura significante, al di qua della storia delle sue interpretazioni“33, sondern es für andere Kontexte frei werden zu lassen. So können uns im Proust’schen Werk konvexe Linsen, Aquarien, Nebel und akustische Ereignisse in Doncières plötzlich zu medialen Filterungsprozessen im nächtlichen Paris geleiten und dabei weitere Linien aufschließen, die das mediale Rauschen, das sich in der Recherche latent manifestiert, ein wenig lichten und dessen Produktivität für das Romanwerk und das künstlerische Werk schlechthin herausstellen.

1.2  Vom Körper zur Linie

Details

Seiten
270
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783631710470
ISBN (PDF)
9783653051940
ISBN (MOBI)
9783631710487
ISBN (Hardcover)
9783631658772
DOI
10.3726/b12614
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Marcel Proust Medientheorie Wahrnehmungsästhetik Störung Zwischenraum
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 270 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Kristin Mlynek-Theil (Autor:in)

Kristin Mlynek-Theil ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für französische, frankophone und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Leipzig.

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Titel: Von der Linie zum Körper
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