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Von der Conquista zur Responsibility while Protecting

Die Debatte der humanitär gerechtfertigten Kriegsführung aus lateinamerikanischer Perspektive

von Stefan Knauß (Autor:in)
©2016 Dissertation 276 Seiten
Reihe: Treffpunkt Philosophie, Band 14

Zusammenfassung

Können Kriege aus humanitären Gründen gerecht sein? Der Autor verfolgt die lateinamerikanischen Antworten auf diese Frage von der Eroberung des Kontinents bis in die Gegenwart. Er zeigt, wie sich Philosophen, Völkerrechtler und Diplomaten angesichts des iberischen Kolonialismus für eine gezügelte humanitäre Interventionspolitik einsetzen können. Die behutsame Rekonstruktion einer lateinamerikanischen Perspektive liefert eine umfassende und detaillierte, nicht-eurozentrische Sicht auf die Geschichte der Menschenrechte. Dieser alternative Zugang zu Debatten des Völkerrechts, der Theorie des gerechten Krieges und der Ethik der internationalen Beziehungen trägt zu einem interkulturellen Verständnis der Menschenrechte und ihrer Durchsetzung bei.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Die Debatte zwischen Las Casas und Sepúlveda
  • Beweisziele
  • 1. Las Casas und der Universalismus der Underdogs
  • 1.1 Las Casas – die Person
  • 1.2 Vom Saulus zum Paulus? – die Predigt Montesinos’ als Wendepunkt
  • 1.3 Spirituelle Sanktionen und politische Initiativen
  • 2. Eine Frage der Gerechtigkeit – Die Junta de Valladolid
  • 2.1 Der Kampf um Gerechtigkeit
  • 2.1.1 Das Spektrum der Barbarei – Strategien der (De)-Humanisierung
  • 2.1.2 Das Encomienda-System
  • 2.1.3 Der Kontext und die Bedeutung der Gesetze von Burgos
  • 3. Lesarten des Las Casas
  • 3.1 Las Casas als Gleichheitstheoretiker und Befürworter der Schutzverantwortung
  • 3.2 Las Casas als Differenztheoretiker und Kritiker der R2P
  • 3.3 Die Frage nach der Form der Conquista
  • 3.4 Die missionsstrategische Lesart
  • 3.5 Las Casas und die Menschenrechte
  • 4. Der systematische Zugang: Anerkennung zwischen Würde und Differenz
  • 4.1 Zwiespältigkeit des Anerkennungsbegriffs
  • 4.2 Konvergenz: Die Zusammenführung der beiden Zugänge
  • 4.3 „Sprechen für den Anderen” oder „Sprechen als Anderer”
  • 4.4 Der konkrete Andere oder der kontrafaktische Andere?
  • Kapitel 2: Der gespaltene Westen – Sepúlveda vs. Las Casas?
  • Beweisziele
  • 1. Definition und Bedeutung humanitärer Interventionen
  • 1.1 Perspektiven und Quellen der Rechtfertigung
  • 1.2 Legalität und Legitimität
  • 1.3 Unilateralismus vs. Multilateralismus
  • 1.4 Problem der Selektivität
  • 1.5 Intentionen und Motive
  • 1.6 Rechte und Pflichten
  • 1.7 Vollständige und Unvollständige Pflichten
  • 2. Die Schutzverantwortung (R2P)
  • 2.1 Begründung und Abgrenzung der Schutzverantwortung
  • 2.2 Konzeptionelle Probleme der Schutzverantwortung
  • 3. Tesóns Modell einer liberalen Intervention
  • 3.1 Der subjektive Anspruch auf Rechtssicherung
  • 3.1.1 Der relativistische Einwand
  • 3.1.2 Die moralische Relevanz der Staatsgrenzen: kommunale Integrität
  • 3.1.3 Eine vertragstheoretische Rechtfertigung
  • 3.2 Schwellenwert der gerechten Ursache
  • 3.3 Unterscheidung von Intention und Motiv
  • 4. Krieg gegen den Terror als humanitäre Intervention?
  • 4.1 Die Bush-Doktrin und der Terrorismus
  • 4.2 Paradigmenwechsel im Völkerrecht?
  • 4.3 Krieg gegen den Terror als gerechter Krieg?
  • 4.3.1 Gerechter Grund
  • 4.3.2 Gerechte Absicht
  • 4.3.3 Gerechte Autorität
  • 4.3.4 Aussicht auf Erfolg
  • 5. Interventionsimperialismus
  • 5.1 Body Bag Syndrome
  • 5.2 Schwacher und starker Imperialismus
  • 5.3 Die Korrelationsthese
  • 5.4 Humanitärer Absolutismus
  • 6. Tesóns Rechtfertigung des Irak-Krieges
  • 6.1 Die Legitimität präventiver Regimewechsel
  • 6.2 Was ist vom moralischen Fundamentalismus zu halten?
  • 6.3 Humanitärer Imperialismus
  • 6.4 Schmaler Imperialismus als negative Befreiung?
  • 6.5 Human Rights as Agency
  • 7. Fazit: Obama und das Ende des Krieges gegen den Terror?
  • Kapitel 3: Enrique Dussel auf den Spuren von Bartolomé de Las Casas?
  • Beweisziele
  • 1. Dekolonialismus als lateinamerikanische Souveränitätstheorie?
  • 1.1 Dussel als Synthese von Fanon und Lévinas?
  • 1.2 Die drei Subjekttypen: ego cogito, ego conquiro und ego clamo
  • 1.3 Ego conquiro und ego cogito – die Einheit von Denken und Erobern?
  • 1.4 Dussels Junta de Valladolid
  • 1.4.1 Die Reise der Kategorien als Geopolitik des Wissens?
  • 1.4.2 Ethnozentrischer Fehlschluss und performativer Widerspruch?
  • 1.4.3 Barbarei und Eigentum
  • 1.4.4 Logik der Nachträglichkeit?
  • 1.4.5 Opferperspektive
  • 1.5 Das ego clamo des Bartolomé de Las Casas
  • 1.5.1 Ethnozentrismus und dessen Überwindung
  • 1.5.2 Das ego clamo als Interpellation
  • 1.5.3 Handlungskomponente, Proximität und Exteriorität
  • 2. Dussels Gegenentwurf einer Ethik der Befreiung
  • 2.1 Freiheit als Proximität
  • 2.2 Holismus, Lebenswelt und Exteriorität
  • 2.3 Die Globalisierung der Befreiungsethik
  • 2.3.1 Materiale Ethik des Lebens
  • 2.3.2 Genese und Geltung
  • 2.3.3 Faktischer Konsens als Ausdruck eines positiven Freiheitsverständnisses?
  • 2.4 Transmoderne
  • 3. Fazit: Gegenwartskritik und Dependenztheorie
  • Kapitel 4: Der lateinamerikanische Blick auf humanitäre Interventionen
  • Beweisziele
  • 1. Interventionsskeptizismus und das Verhältnis zu den USA
  • 1.1 „Unser Amerika“ und die Angst vor dem großen Bruder
  • 1.2 Panamerikanismus – die gemeinsame Angst vor Europa
  • 2. Souveränität vs. Menschenrechte im Kontext
  • 2.1 Roosevelts Lehre der „protective intervention”
  • 2.2 Die Montevideo-Konvention – absolute Souveränität
  • 2.2.1 Der Einfluss auf die UN-Charta
  • 2.2.2 Charta der OAS
  • 2.2.3 Drei Formen der Souveränität
  • 2.3 Institutionelle Initiativen zum Menschenrechtsschutz
  • 2.4 Lateinamerika und die Menschenrechte? Uniting for Peace
  • 3. Lateinamerika auf dem Weg zur Schutzverantwortung
  • 3.1 Die Entwicklung nach der Jahrtausendwende
  • 3.2 Die Responsibility while Protecting
  • 3.2.1 R2P und RwP im Vergleich
  • 3.2.2 Kontext der brasilianischen Initiative einer RwP
  • 3.2.3 Weitere Stimmen zur RwP
  • 4. Fazit: Grundlegung des Völkerrechts aus lateinamerikanischer Sicht?
  • Zusammenfassung
  • 1. Warum eine lateinamerikanische Perspektive?
  • 1.1 Kolonialismus – ein Argument aus der Ideengeschichte
  • 1.2 Kolonialität – ein Argument aus der Gegenwart
  • 1.3 Was heißt lateinamerikanische Perspektive?
  • 2. Theorie und Empirie der Interventionskritik
  • 2.1 Dekoloniale Kritik in der Wissenschaft
  • 2.2 Dekoloniales Handeln in der Politik?
  • 3. Fazit
  • Literatur

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt eine geringfügig veränderte Fassung der Dissertation dar, die ich unter dem Titel „Von der Conquista zur Responsibility while Protecting – Die Debatte der humanitär gerechtfertigten Kriegsführung aus lateinamerikanischer Perspektive“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingereicht und verteidigt habe. Zunächst werde ich die Leitfrage, die Struktur und die Hauptthese der Arbeit vorstellen. Diese Einleitung gliedert sich daher in zwei Abschnitte. Im ersten Teil werde ich grundlegende Begrifflichkeiten der Arbeit einführen und definieren, sodann die Leitfrage erläutern, meine Hauptthese vorstellen und einen Überblick über die Struktur der Argumentation geben. Im zweiten Teil werde ich einige der Argumente herausgreifen und detaillierter darstellen.

Leitfrage, Struktur und Hauptthese des Buches

Da die vorliegende Arbeit eine lateinamerikanische Perspektive auf die humanitäre Rechtfertigung kriegerischer Handlungen entwickelt, ist es zunächst sinnvoll anzugeben, was ich unter einer humanitären Intervention verstehe. Als humanitäre Intervention wird die Rechtfertigung kriegerischer Handlungen durch den Vorsatz verstanden, schwerwiegende Menschenrechtsverbrechen auf dem Gebiet anderer Staaten zu verhindern, notfalls auch gegen deren Willen. (vgl. Holzgrefe, Keohane 2003) Die Brisanz des Argumentes besteht in seiner Zwiespältigkeit, da es einerseits eine Rechtfertigung für notwendige Schutzmaßnahmen darstellt, andererseits aber in Verruf steht, das Prinzip der Nicht-Intervention außer Kraft zu setzen und unlautere Kriegsvorhaben zu stützen. Besondere Dringlichkeit erlangt diese Problematik aus der Perspektive eines Kontinents, der vielfach Schauplatz von Interventionen geworden ist und der im Grunde seit 1492 mit deren Verarbeitung beschäftigt ist.

Mit der Diskussion einer lateinamerikanischen Perspektive auf den kriegerischen Humanismus leistet meine Arbeit einen Beitrag zur Debatte der globalen Gerechtigkeit bzw. der Ethik der internationalen Beziehungen. Sie nimmt sich der Problematik des Verständnisses, der Etablierung und Durchsetzung der Menschenrechte in Lateinamerika an und trägt somit eine regionale bzw. interkulturelle Perspektive zur Diskussion humanitärer Interventionen bei. Zu diesem Zweck erfolgt ein interdisziplinärer Zugriff auf kultur- und sozialwissenschaftliche Argumente unter dem Stichwort Deskolonialität. ← 17 | 18 →

Unter Deskolonialität verstehe ich eine wissenschaftliche und politische Initiative lateinamerikanischer Denker, die versuchen, den Zusammenhang von Moderne und Kolonialität nachzuvollziehen und deren negative Auswirkungen in der Gegenwart zu beseitigen. „Deskolonialität“ kann als lateinamerikanische Spielart des „Postkolonialismus“ verstanden werden, die nach Ansicht ihrer Vertreter aber davon zu unterscheiden ist. (vgl. Quintero & Garbe 2012) Aus welchem Grund habe ich mich nun entschieden, eine deskoloniale Perspektive zu integrieren? Der interkulturelle und interdisziplinäre Zugang der deskolonialen Perspektive ist nötig, um die Perspektive der philosophischen Diskussion humanitärer Interventionen zu erweitern und mit den kritischen Fragen angrenzender akademischer Fachdebatten zu konfrontieren.

Wie bereits der Titel verrät, erörtert die Arbeit den Weg Lateinamerikas von der Conquista bis hin zu Responsibility while Protecting. Beide Begrifflichkeiten, Conquista und Responsibility while Protecting möchte ich vorstellen. Als Conquista wird bekanntlich die Eroberung Lateinamerikas nach der ‚Entdeckung‘ 1492 durch Christopher Kolumbus bezeichnet. In unserem Zusammenhang interessiert dabei besonders die Frage nach der Rechtfertigung bzw. der gerechtigkeitstheoretischen Kritik der kriegerischen europäischen Expansion. Bei dem Versuch, die Conquista zu rechtfertigen – so eine These der Arbeit – werden Argumente für und gegen humanitäre Interventionen entwickelt, die sich bis in die Gegenwart der Responsibility while Protecting verfolgen lassen. Als Responsibility while Protecting ist ein kritisches Dokument zur Gestaltung der humanitären Intervention bekannt geworden, das Brasilien als Reaktion auf das, seiner Meinung nach vorschnelle, militärische Eingreifen der Vereinten Nationen in Libyen im Jahre 2011 verfasst hatte. In der Absetzung und Tötung des Machthabers Gaddafi durch die USA hatten die Brasilianer eine unzulässige Ausweitung der entsprechenden UN-Resolution gesehen. Der Titel des Konzeptpapiers Responsibility while Protecting lehnt sich an die Responsibility to Protect an, die gegenwärtige Doktrin der humanitären Intervention, die von der UN favorisiert wird.

Ich fasse diese ersten Schritte zusammen. Die Arbeit zeichnet den Weg von der mutmaßlich gerechtfertigten Eroberung des Kontinents durch die Spanier und Portugiesen bis hin zur konzeptionellen Mitgestaltung der militärisch durchgesetzten Menschenrechtspolitik durch die lateinamerikanischen Staaten in der Gegenwart. Damit bietet die Arbeit eine alternative, nicht-eurozentrische Thematisierung der Theorie des gerechten Krieges und der Ethik der internationalen Beziehungen.

Immer wieder beziehe ich mich dabei auf humanitäre Argumente, daher soll nun definiert werden, was ich darunter verstehe. Als humanitäre Argumente verstehe ich solche, die vom rechtlich-moralischen Status menschlicher Individuen ← 18 | 19 → Rechtfertigungen für Strategien der Politik oder des Krieges ableiten. In der Responsibility while Protecting (2011) geschieht diese Rechtfertigung durch die Menschenrechte. Zur Zeit der Conquista lässt sich meiner Ansicht nach noch nicht von Menschenrechten sprechen. Mit einiger Vorsicht möchte ich aber die dabei in Anschlag gebrachten Konstruktionen subjektiven Rechts als Vorläufer der Menschenrechte bezeichnen.1

Der besondere Zugang zu dieser Geschichte bzw. Vorgeschichte der Menschenrechte und ihrer Rolle bei der Rechtfertigung von Kriegen besteht nun darin, dass ich sie aus dem Blickwinkel Lateinamerikas verfolge. Die Arbeit entwickelt zu diesem Zweck eine heuristische lateinamerikanische Perspektive auf humanitäre Argumente. Man könnte nun einwenden, eine lateinamerikanische Perspektive auf die Menschenrechte sei gar nicht nötig, da die Entstehung der Menschenrechte einerseits bereits hinreichend dokumentiert und erforscht ist, andererseits seien die Menschenrechte gerade durch ihren universalen Geltungsanspruch gar nicht auf die Perspektive eines besonderen Kontinents festgelegt. Die folgenden Gründe scheinen mir dennoch für eine lateinamerikanische Perspektive zu sprechen.

Zunächst erfüllt die Übernahme einer heuristischen lateinamerikanischen Perspektive auf die Menschenrechte und deren Durchsetzung ein Desiderat der deskolonialen Theoriebildung, die ich bereits angesprochen habe. (Dussel 2002) Auch die interkulturelle Philosophie (Wimmer 2004) formuliert den Wunsch und sogar den Imperativ, die Kolonialgeschichte kritisch aufzuarbeiten und in der Gegenwart alle Kulturen zu berücksichtigen und ‚auf Augenhöhe‘ einzubeziehen. Mit der Einbeziehung einer lateinamerikanischen Perspektive reagiert die Arbeit damit weiter auf die drängende systematische Forderung, die geltungstheoretischen Grundlagen der Menschenrechtspolitik auf ein wahrhaftig universales Fundament zu stellen. (Wallerstein 2010) Dieser allgemeine Wunsch nach einer Perspektivenvielfalt auf die Menschenrechte kulminiert in dem Vorsatz, einen interkulturellen Konsens für die Responsibility to Protect2 herzustellen. (Mani & Weiss 2011) ← 19 | 20 →

Dementsprechend ist meine Arbeit der Beantwortung der folgenden Leitfrage gewidmet: Wie wird die normative Rechtfertigung humanitärer Interventionen vor dem kolonialen Erfahrungshintergrund Lateinamerikas bewertet? Die dabei vertretene These lautet, dass die Integration einer lateinamerikanischen Perspektive auf die humanitär gerechtfertigte Kriegsführung inhaltlich kaum ‚neue‘ Argumente zur Debatte hinzufügt. Performativ betrachtet ist die faktische Einbeziehung der südamerikanischen Perspektive aber notwendig, um den Vorwurf einer eurozentrischen Ausrichtung der Menschenrechte abzuwenden und die interkulturelle Akzeptanz der Menschenrechte zu stärken. Allgemein betrachtet ist die Anerkennung der lateinamerikanischen Sichtweise unabdingbar, um den Eindruck einer persistierenden kolonialen Diskurskonstellation abzuweisen, bei der implizit und zum Teil subtil eine Inferiorität der Länder des Südens angenommen wird. Im Besonderen ist die faktische Integration einer lateinamerikanischen Perspektive nötig, um auf konsensualem Wege und unter Einbeziehung der ehemaligen Kolonien die interkulturelle Akzeptanz für die normativen Leitlinien humanitärer Interventionen zu fördern.

Wie ist es nun im Rahmen einer philosophischen Doktorarbeit möglich, eine lateinamerikanische Perspektive auf die Menschenrechte und deren militärische Sicherung zu entwickeln? Ich habe mich hier für eine Perspektivenvielfalt entschieden, um ein möglichst ausgewogenes, historisch ausgedehntes und politisch-ideologisch differenziertes Bild Lateinamerikas zu zeichnen. Die Arbeit liefert daher die dreifache Rekonstruktion einer heuristischen lateinamerikanischen Perspektive. Zunächst erfolgt die Einnahme der lateinamerikanischen Perspektive durch die Analyse der Rechtfertigung der Conquista in der Auseinandersetzung zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda. Darauf aufbauend setze ich mich ausführlich mit der philosophischen Position Enrique Dussels auseinander, der ausgehend von einer optimistischen Las Casas-Interpretation seine Ethik der Befreiung entwirft. Enrique Dussel liefert in weiten Teilen eine kritische Alternative zum philosophischen Liberalismus, der seinerseits als eine Standardbegründung für humanitäre Interventionen gilt. Um Dussels hyperkritische Position zu überprüfen und gewissermaßen empirisch zu relativieren, konzentriere ich mich schließlich auf die Responsibility while Protecting und ordne Dussels abstrakter Kolonialismuskritik konkrete völkerrechtliche Initiativen und Stellungnahmen der lateinamerikanischen Staaten zu.

Während die Betrachtung von Las Casas und dessen Weiterentwicklung in der Position von Enrique Dussel im klassischen Sinne philosophisch ist, erscheint die Betrachtung des lateinamerikanischen Völkerrechts möglicherweise wie ein Bruch innerhalb der Arbeit. Diese auf den ersten Blick nicht-philosophische Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Initiativen der lateinamerikanischen Staaten ← 20 | 21 → ist aus zweierlei Gründen für meine Untersuchung systematisch notwendig: Einerseits wird gegenwärtig die Theorie des gerechten Krieges als Kerntheorem der Debatte im Wesentlichen außerhalb der philosophischen Institute durch Völkerrechtler, Diplomaten und Politiker fortgeschrieben, wie u.a. Michael Walzer nachgewiesen hat. Andererseits gelingt durch die Analyse des lateinamerikanischen Völkerrechts eine Relativierung und Konkretisierung von Dussels pauschaler Modernekritik, die sich schlicht nicht auf differenzierte Fragen der Rechtfertigung humanitärer Interventionen einlässt. Dussels Verdienst ist es dennoch, mit seiner Philosophie der Befreiung einen intellektuellen Horizont zu eröffnen, vor dem diese Fragen alternativ diskutiert werden können. Mit der dreifachen Rekonstruktion der lateinamerikanischen Perspektive ist die Voraussetzung dafür geschaffen, den Blick auf eine neuralgische Krisensituation des humanitären Interventionismus zu lenken. Ich konfrontiere die Auffassung der lateinamerikanischen Denker mit der Diskussion der humanitären Intervention nach der Jahrtausendwende. Nach den Attentaten auf die Zwillingstürme am 11. September 2001 wird der Krieg gegen den Terror ausgerufen und die von den Vereinten Nationen geschaffene Schutzverantwortung Responsibility to Protect droht mit der präventiven Kriegsführung der Vereinigten Staaten zu verschwimmen. Namentlich die Bush Doktrin schwingt sich zu der provokanten Behauptung auf, Kriege, die die USA gegen ihre Feinde führten, seien per se auch humanitäre Interventionen.

Die Vorstellung, die Anti-Terror-Kriegsführung sei automatisch als humanitäre Intervention gerechtfertigt, auch wenn man von den mühsam etablierten Gerechtigkeitsstandards der Vereinten Nationen abweiche, wurde seinerzeit zu Recht als imperiale Überdehnung der humanitären Intervention betrachtet. Die Arbeit zeigt deutlich, dass es in der Debatte zwischen überwiegend westlichen Intellektuellen gelingt, gerechtfertigte humanitäre Interventionen vom humanitären Imperialismus zu unterscheiden.

Die Konfrontation der heuristischen lateinamerikanischen Perspektive mit der Zurückweisung des humanitären Imperialismus belegt schließlich die Hauptthese der Arbeit: Auf der inhaltlichen Ebene fügt das kritische Konzept der Responsibility while Protecting dem innerwestlichen Diskurs kaum Argumente hinzu. Auf der performativen Ebene markiert die lateinamerikanische Initiative einer Responsibility while Protecting allerdings ein bemerkenswertes Novum. Bei ihrer defensiven Lesart der Schutzverantwortung profilieren sich die Brasilianer als Norm Entrepreneur. Sie gestalten aktiv die moralisch-rechtlichen Leitlinien humanitärer Interventionspolitik mit und drängen auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. (Benner 2013, Stuenkel 2013: 59)

Bevor ich nun einige Argumente inhaltlich vertiefen kann, möchte ich den ersten Teil zusammenfassen: Die Grobstruktur der Arbeit liefert eine dreifache ← 21 | 22 → Rekonstruktion einer heuristischen lateinamerikanischen Perspektive und konfrontiert deren Argumente mit der Diskussion der humanitären Intervention um die Jahrtausendwende. Im Ergebnis finden auch die kritischen Lateinamerikaner keine anderen Argumente, begründen aber selbst in Wort und Tat ihren Versuch, als Autoren der Menschenrechtspolitik aufzutreten. Im Folgenden möchte ich nun inhaltlich weiter ausführen, was meine Argumente im Einzelnen sind.

Inhaltliche Zusammenfassung der Hauptargumente

Details

Seiten
276
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653058666
ISBN (ePUB)
9783653963366
ISBN (MOBI)
9783653963359
ISBN (Hardcover)
9783631665336
DOI
10.3726/978-3-653-05866-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
humanitäre Interventionen (Post)-Kolonialismus Krieg gegen den Terror Interkulturelle Philosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 276 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Stefan Knauß (Autor:in)

Stefan Knauß studierte Politikwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft und Philosophie in Halle, Catania und Parma. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie, insbesondere in der Philosophie der Menschenrechte, der internationalen Gerechtigkeit, der Theorie des gerechten Krieges sowie der interkulturellen und lateinamerikanischen Philosophie.

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