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Die Unanwendbarkeit nationaler Rechtsvorschriften wegen Unionsrechtswidrigkeit

von Jens Stenmans (Autor:in)
©2015 Dissertation 282 Seiten

Zusammenfassung

Jens Stenmans erörtert die Fragestellungen um die Unanwendbarkeit nationaler Normen. Beginnend mit der Vorfrage nach der Prüfungskompetenz nationaler Stellen reicht seine Darstellung über die Möglichkeit der unionsrechtskonformen Auslegung bzw. Rechtsfortbildung bis hin zu den Voraussetzungen und Folgen der Unanwendbarkeit. Der Autor zeigt die Zusammenhänge der einzelnen Stufen auf und zeichnet so ein geschlossenes Bild der Unanwendbarkeit nationaler Normen infolge ihrer Unionsrechtswidrigkeit mit ihren Konsequenzen für nationale Gerichte, Verwaltung und Gesetzgeber.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Kapitel: Prüfungspflicht: Schutz des Unionsrechts durch nationale Stellen
  • I. Herleitung und Adressat der Prüfungspflicht („legal review“)
  • 1) Unionsrechtliche Herleitung
  • a) Die unmittelbare Anwendbarkeit von Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV („Fidelity Principle“)
  • b) Prüfungspflicht für innerstaatliche Gerichte
  • c) Prüfungspflicht für innerstaatliche Verwaltungsstellen
  • 2) Deutsche Herleitung
  • II. Rechtsfolge der Prüfungspflicht: Unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfortbildung, Verwerfung
  • 2. Kapitel: Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung
  • A. Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts (Auslegung i.e.S.)
  • I. Herleitung der Pflicht
  • 1) Die Rechtsprechung des EuGH
  • 2) Andere Ansätze und Auswirkungen
  • 3) Verfassungsrechtliche Anerkennung
  • II. Vorfragen
  • 1) Adressat der Auslegungsverpflichtung
  • 2) Beginn der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung
  • 3) Unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung der unionsrechtskonformen Auslegung
  • a) Für Richtlinien
  • b) Für Empfehlungen und Stellungnahmen
  • 4) Auslegungsgegenstand
  • III. Auslegungsmethoden zur Ermittlung der unionsrechtlichen Vorgaben
  • IV. Grenzen der Auslegung (Abgrenzung zu Rechtsfortbildung)
  • V. Wirkungsweise der unionsrechtskonformen Auslegung
  • 1) Bei unmittelbar anwendbarem Unionsrecht
  • 2) Bei nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinien
  • 3) Wahl zwischen mehreren unionsrechtskonformen Auslegungsmöglichkeiten
  • VI. Zusammenfassung
  • B. Rechtsfortbildung zur Beseitigung einer unionsrechtswidrigen Lage
  • I. Lückenbegriff
  • 1) Allgemein
  • 2) Keine (planwidrige) Lücke
  • a) Abgrenzung zu: beredetem Schweigen
  • b) Abgrenzung zu: rechtspolitischer Verfehlung
  • aa) Kenntnis des Gesetzgebers von den unionsrechtlichen Vorgaben
  • (1) Umsetzungsgesetz und Umsetzung sonstiger unionsrechtlicher Vorgaben
  • (2) Unionsrechtskonformität als untergeordneter Grund
  • bb) Deutlicher Wille der Unionsrechtswidrigkeit
  • cc) Kein Gedanke an Unionsrechtskonformität trotz Möglichkeit der Kenntnisnahme
  • dd) Nachträgliches Hinzutreten von unionsrechtlichen Vorgaben
  • (1) Vorgaben werden durch Auslegung des (im Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Norm) bestehenden Unionsrechts vom EuGH nachträglich hervorgebracht
  • (2) Vorgaben stammen aus nachträglich geschaffener unionsrechtlicher Norm
  • II. Mittel der Rechtsfortbildung
  • 1) Fallgruppen
  • 2) Analogie
  • 3) Teleologische Extension
  • 4) Teleologische Reduktion
  • 5) (Weitere) teleologische Reduktion
  • 6) Darüberhinausgehende Rechtsfortbildung
  • III. Zwischenergebnis
  • IV. Grenzen
  • 1) Unionsrechtliche Grenzen
  • 2) Nationale (verfassungsrechtliche) Grenzen
  • a) Grenze: nationale Auslegungsmethoden
  • aa) Verstoß gegen Wortlaut und Zweck als methodische Grenze?
  • bb) Faktische Derogation
  • cc) Besondere Einschränkung bei gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung
  • dd) „Ausnahme“: Rechtsfortbildung contra legem
  • b) Grenze: nationale Zuständigkeit (Gewaltenteilung)
  • aa) Gerichte
  • (1) Grundsätzliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung
  • (2) Ausweitung von Begünstigungen und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum
  • (3) Verhältnis zu den Auslegungsmethoden als Grenze
  • bb) Verwaltung
  • c) Übrige Grenzen, insb. Begrenzung von Urteilswirkung des nationalen Gerichts
  • 3) Rechtsfolgen unionsrechtlicher bzw. nationaler Grenzen
  • 4) Ergebnis
  • V. Abgrenzung / Verhältnis
  • 1) Rechtsfortbildung – Unanwendbarkeit / unmittelbare Anwendbarkeit
  • 2) Rechtsfortbildung – partielle Unanwendbarkeit
  • 3) Rechtsfortbildung – geltungserhaltende Reduktion
  • 4) Rechtsfortbildung – Umsetzung von Unionsrecht (idR Richtlinien)
  • 3. Kapitel: Die Unanwendbarkeit und Folgen
  • A. Allgemein zur „Verwerfungspflicht“
  • I. Verwerfungspflicht für Gerichte und Behörden
  • II. Eingeschränkte Verwerfungspflicht in Bezug auf Sekundärrecht
  • 1) Problem: Verwerfungspflicht in Bezug auf eine primärrechtskonforme nationale Norm aufgrund einer primärrechtswidrigen Sekundärrechtsnorm
  • 2) Aufteilung von Umsetzungsakten in nationalen und unionsrechtlichen Teil
  • B. Voraussetzungen der Unanwendbarkeit nationaler Normen
  • I. Allgemeine Anforderung an den EU- und den nationalen Rechtsakt
  • 1) Terminologie
  • 2) Geltung und Anwendbarkeit von nationaler und unionsrechtlicher Norm
  • II. Unmittelbarkeitserfordernis
  • 1) Terminologie
  • a) Unmittelbare Geltung
  • b) Unmittelbare Wirkung bzw unmittelbare Anwendbarkeit
  • 2) Unmittelbare Geltung
  • a) Geltungsgrund
  • b) Unmittelbare Geltung
  • 3) Unmittelbare Anwendbarkeit
  • a) Primärrecht
  • b) Verordnungen
  • c) Richtlinien
  • aa) Voraussetzungen
  • bb) Keine Verpflichtungen für Private
  • cc) Exkurs: Vorwirkung – Unanwendbarkeit als mögliche Rechtsfolgen
  • (1) Zielvereitelung durch eine Maßnahme nach Inkrafttreten der Richtlinie (Verstoß gegen die Unterlassenspflicht)
  • (2) Rechtsfolgen
  • (a) Aus Verstoß gegen Richtlinie
  • (b) Aus Verstoß gegen Unionstreue
  • (aa) Keine Unanwendbarkeit bei fehlender unmittelbarer Anwendbarkeit der Richtlinienvorschrift nach Ablauf der Umsetzungsfrist
  • (bb) Führen die verschiedenen Fälle der Zielvereitelung alle zur Unanwendbarkeit?
  • dd) Zusammenfassung
  • d) Andere Rechtsnormen
  • III. Kollision zwischen nationaler und unionsrechtlicher Norm
  • C. Grenzen des Unangewendetlassens von nationalen Normen
  • I. Grenzen aus Sicht des Unionsrechts
  • 1) Unionsrechtliche Vorgaben
  • a) Zeitliche Beschränkung der Unanwendbarkeit nationaler Normen auf Ex-nunc-Wirkung
  • aa) Ansicht des EuGH
  • (1) Rs. Defrenne
  • (2) Rs. Denkavit italiana
  • (3) Rs. Barra
  • (4) Rs. Blaizot
  • (5) Konkretisierende Entscheidungen des EuGH
  • (a) EuGH Rspr. zum (schutzwürdigen) guten Glauben
  • (b) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen
  • bb) Beschränkungen aufgrund nationaler Verfahrensvorschriften
  • cc) Würdigung der EuGH Rechtsprechung
  • (1) Voraussetzungen für die Begrenzung der Urteilswirkung
  • (2) EuGH allein berufen Rechtssicherheit zu gewährleisten
  • (3) Urteilswirkungen können nur im ersten Auslegungsurteil beschränkt werden
  • (4) Ausnahme des Beschwerdeführers von der Urteilsbegrenzung
  • b) Weiteranwendung der alten (unionsrechtswidrigen Rechtslage) als Übergangslösung
  • 2) Zusammenfassung
  • II. Grenzen aus Sicht des Grundgesetzes
  • 1) Grundgesetzliche Vorgaben zum Prüfungsmaßstab von unionsrechtlichen Vorgaben
  • a) Grundgesetzliche Grenzen des Unionsrechts
  • aa) Eigenschaft des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als Grenze des Vorranges?
  • bb) Erforderliche Intensität eines Verstoßes um Unionsrecht zu begrenzen
  • (1) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG
  • (2) Art. 79 Abs. 3 GG
  • cc) Eigenständige Bedeutung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG neben Art. 79 Abs. 3 GG als Grenzen der Integration
  • b) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
  • aa) Frühe Rechtsprechung
  • bb) Solange I
  • cc) Vielleicht und Eurocontrol I
  • dd) Solange II
  • ee) Kloppenburg
  • ff) Maastricht
  • gg) Lissabon
  • hh) Mangold/Honeywell
  • (1) Sachverhalt
  • (2) Entscheidung des BVerfG
  • (a) Vorherige Anrufung des EuGH erforderlich
  • (b) Beschränkung der Ultra-vires-Kontrolle auf ersichtliche/spezifische/hinreichend qualifizierte, d.h. offensichtliche und erheblich, gewichtige Kompetenzverstöße
  • c) Zusammenfassende Stellungnahme
  • 2) Schlussfolgerungen
  • a) Kompetenz zur Nichtanwendung
  • aa) Gerichte
  • bb) Verwaltung
  • b) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz
  • c) Gewaltenteilung
  • d) Ergebnis
  • D. Beseitigung von verbleibenden unionsrechtswidrigen Rechtslagen und Schließung von entstandenen Lücken aus nationalen Motiven
  • I. Unangewendetlassen von dem Unionsrecht entgegenstehenden nationalen Normen (Vorrang des Unionsrechts)
  • 1) Begründung des Vorranges
  • 2) Ausgestaltung der Rechtsfolge: Anwendungs-/Geltungsvorrang
  • 3) Wahlrecht („Rosinentheorie“)
  • 4) Reichweite
  • II. Beseitigung einer verbleibenden unionsrechtswidrigen Rechtslage und Lückenschließung aus nationalen Motiven
  • 1) Auslegung
  • 2) Rechtsfortbildung
  • a) Methoden der Rechtsfortbildung
  • aa) Problem: Analogieverbot
  • bb) Anwendungsfall
  • b) Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten der Lückenfüllung und ggf. weitere Kriterien zur Rechtsfindung
  • aa) Absicht des nationalen Gesetzgebers
  • (1) Ausnahmecharakter
  • (2) Einnahmenausfall
  • (3) Gesetzgeberische Regelung für die Zukunft
  • bb) Verfassungsrechtliche Gründe: Gleichheitsgrundsatz
  • cc) Bewertung
  • 3) Aussetzung des Verfahrens
  • III. Beseitigung der unionsrechtswidrigen Rechtslage durch die Verwaltung
  • 1) Beseitigung durch Verwaltungspraxis und Verwaltungsvorschrift
  • 2) Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen
  • aa) Gegen Urteile des EuGH
  • bb) Gegen Umsetzungsurteile des BFH und solche bei unterlassener Vorlage
  • IV. Bereinigung der Rechtslage durch den Gesetzgeber
  • 1) „Abtretung“ der Beseitigung an die Rechtsprechung
  • 2) Gesetzliche Neuregelung
  • a) Erscheinungsformen und Grundeigenschaften
  • b) Beseitigungsmöglichkeiten und Beschränkungen dieser aus Gründen des nationalen Rechts, insb. dem Rückwirkungsverbot
  • aa) Grundgesetzliches Konzept der Rückwirkung
  • bb) Mögliche Konstellationen
  • (1) Schließung einer Gesetzeslücke durch den Gesetzgeber
  • (2) Erstreckung der nachteiligen Rechtsfolgen auf Inlandssachverhalt
  • (a) Zulässigkeit echter Rückwirkung aufgrund mangelnden schutzwürdigen Vertrauens in die bisherige Rechtslage
  • (b) Zulässigkeit echter Rückwirkung aufgrund überragender Gemeinwohlbelange
  • (c) Gestaltungsspielraum bei unechter Rückwirkung
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Die deutsche Rechtsordnung ist in den vergangenen Jahrzehnten erheblich durch das Unionsrecht geprägt worden, welches in dieser Zeit selbst einigen vertraglichen Anpassungen bzw. Erweiterungen unterworfen war. Nicht nur haben die Mitgliedstaaten nach und nach mehr Kompetenzen an die Union übertragen, vielmehr ist der gestiegene Einfluss auch auf die Rechtsprechung des EuGH zurückzuführen, der den Kompetenzbereich der Union stärkte und insbesondere durch seine weite Auslegung der Grundfreiheiten prägte. Mit der Ausweitung des Unionsrechts ging eine gestiegene Zahl von Reibungspunkten mit den nationalen Rechtsordnungen einher. Die daraus resultierende erhöhte Zahl von Vorlagen an den EuGH gab diesem weitere Gelegenheiten, die Stellung des Unionsrechts zu unterstreichen. Stets hing dabei die Durchsetzung des Unionsrechts letztlich von nationalen Gerichten und nationalen Stellen der Verwaltung ab, die im Anschluss an Vorlageentscheidungen des EuGH in Einzelfallentscheidungen dem Unionsrecht zur Geltung verhalfen. Zu Beginn sollen daher kurz die Befugnisse und Pflichten nationaler Gerichte und nationaler Stellen der Verwaltung bei der Anwendung von Unionsrecht, sowohl aus Sicht des Unionsrechts als auch des Grundgesetzes, untersucht werden.

Anerkannt ist inzwischen, dass vor dem Ausspruch der Unanwendbarkeit einer nationalen Norm zuvor der Versuch einer unionsrechtskonformen Auslegung zu erfolgen hat. Die Voraussetzungen dieser werden jedoch unterschiedlich beurteilt und sollen in der Arbeit kurz umrissen werden. Beachtung soll dabei auch die Frage finden, inwieweit Empfehlungen und Stellungnahmen in die Auslegung einfließen. Auch sind in Bezug auf die Wirkungsweise der unionsrechtskonformen Auslegung mehrere Möglichkeiten denkbar. Die Frage ist hierbei letztlich, ob der unionsrechtliche Hintergrund einer Norm ein Argument im Rahmen einer Abwägung für eine bestimmte Auslegung der Norm ist oder das allein entscheidende. Zur Unterbreitung eines Lösungsvorschlags sollen die unionsrechtlichen Vorgaben betrachtet und mit den nationalen Möglichkeiten verglichen werden.

Vor allem in neuerer Zeit blieb es oftmals nicht bei der bloßen Auslegung i.e.S., um nationales Recht mit den Anforderungen des Unionsrechts in Einklang zu bringen. Vielmehr wurde vermehrt das Mittel der Rechtsfortbildung herangezogen. Der BFH bediente sich hierbei mehrfach des Begriffs der geltungserhaltenden Reduktion des nationalen Rechts. Ob man bei einigen der BFH-Entscheidungen tatsächlich von geltungserhaltender Reduktion sprechen ← 17 | 18 → kann und welche anderen Formen der Rechtsfortbildung den Gerichten und anderen nationalen Stellen zur Verfügung stehen, soll untersucht werden. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Frage, ob und wenn ja wie bzw. wo sich die für die Rechtsfortbildung erforderliche Lücke feststellen lässt. Weiter ist auch zu thematisieren, wo die Grenzen einer solchen Rechtsfortbildung verlaufen, d.h. wie weit die Befugnisse insbesondere der Rechtsprechung reichen, um zu einer unionsrechtskonformen Lösung zu gelangen. Die Grenzziehung soll dabei sowohl aus unionsrechtlicher als auch aus nationaler Sicht betrachtet werden.

Lässt sich über die unionsrechtskonforme Auslegung bzw. Rechtsfortbildung kein unionsrechtskonformer Zustand herstellen, so stellt sich für die nationalen Gerichte, aber auch für die Verwaltung, die Frage, wozu diese aus unionsrechtlicher und grundgesetzlicher Sicht befugt bzw. verpflichtet sind. Auch wenn die Voraussetzungen der Unanwendbarkeit im Wesentlichen unstreitig sind, ergeben sich einige terminologische Schwierigkeiten und Einzelprobleme, die der näheren Betrachtung bedürfen. Einzugehen ist beispielsweise auf die Frage der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien und ob auch die Vorwirkung von Richtlinien die Unanwendbarkeit nach sich ziehen kann.

Ausführlicher sollen die Grenzen der Unanwendbarkeit sowohl aus unionsrechtlicher als auch grundgesetzlicher Perspektive betrachtet werden. Von größter praktischer Relevanz sind hierbei natürlich die Ansichten von EuGH und BVerfG. Nachgegangen werden soll dabei zum einen der Frage, wer zu Beschränkungen an der Unanwendbarkeit befugt ist, aber auch unter welchen Voraussetzungen dies erfolgen darf bzw. sollte. Während die EuGH-Rechtsprechung die diesbezüglich zentrale Quelle für eine unionsrechtliche Betrachtung darstellt, sollen im Rahmen der grundgesetzlichen Vorgaben zunächst Art. 23 GG und Art. 79 Abs. 3 GG behandelt werden, bevor auf die ultra-vires und Identitätskontrolle des BVerfG eingegangen wird. Bereits an dieser frühen Stelle sei angemerkt, dass wahrscheinlich kein unionsrechtliches Thema existiert, bei dem die Frage des Geltungsgrundes des Unionsrechts relevanter ist als bei der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Frage der Begrenzungsmöglichkeit des Unionsrechts durch mitgliedstaatliches Recht.

Liegen die Voraussetzungen der Unanwendbarkeit vor und wird diese auch nicht begrenzt, so stellt sich die Frage nach der konkreten Rechtsfolge, d.h. insbesondere der Reichweite der Unanwendbarkeit. Denkbar ist die Unanwendbarkeit einzelner Normteile (ggf. sind nur einzelne Tatbestandsmerkmale betroffen) bis hin zu mehreren eine Einheit bildende Normen. Bei den späteren Ausführungen hierzu sollte stets bedacht werden, dass sich der Gesetzgeber bei der Gestaltung der Norm oftmals keine Gedanken darüber gemacht hat, inwiefern diese durch Streichungen geändert werden könnte. Werden Streichungen an einer Norm ← 18 | 19 → vorgenommen, lässt sich folglich eine eigenständige Rechtsgestaltung nicht leugnen, die vom Gesetzgeber so nicht beabsichtigt war. Hierauf wird einzugehen sein.

Durch die Unanwendbarkeit kann es unter Umständen zu Lücken im nationalen Recht kommen. Der Umgang mit diesen Lücken soll unter anderem im letzten Kapitel untersucht werden. Die Rechtsprechung kann sich hierbei auch mit Situationen konfrontiert sehen, in denen mehrere Lösungen gleich geeignet zur Lösung des Falls erscheinen. Nach welchen Kriterien die Rechtsprechung hier eine Lösung wählen kann und ob bzw. wann ihr dieses Wahlrecht zusteht, wird zu erläutern sein.

Ein speziell steuerrechtliches Thema in diesem Zusammenhang stellt die Zulässigkeit von sogenannten Nichtanwendungserlassen als Reaktion der Finanzverwaltung auf unliebsame Entscheidungen des EuGH dar. Bereits in Bezug auf Urteile des BFH ist die Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen heftig umstritten. Neben einer kurzen Betrachtung dieses Streitstandes wird untersucht, ob und inwiefern sich vor einem unionsrechtlichen Hintergrund Unterschiede in Bezug auf die Zulässigkeit von Nichtanwendungserlassen ergeben.

Letztendlich ist auch der Gesetzgeber aufgerufen, tätig zu werden. Von hoher Relevanz ist für ihn die Antwort auf die Frage, inwieweit er nachträglich einen Sachverhalt besteuern darf, bei dem die Besteuerungsgrundlage unanwendbar geworden ist. Auch stellt sich für ihn die Frage, ob er eine unionsrechtswidrige Gesetzeslage, bei der ein grenzüberschreitender Sachverhalt ungleich schlechter behandelt wird als ein reiner Inlandssachverhalt, nicht auch durch die Schlechterbehandlung des Inlandssachverhalts beseitigen kann. Auf die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Rückwirkungsverbot wird in diesem Zusammenhang einzugehen sein.

Die Arbeit unternimmt es somit, die Fragestellungen um die Unanwendbarkeit nationaler Normen zusammenhängend zu erörtern. Beginnend mit der Vorfrage nach der Prüfungskompetenz nationaler Stellen reicht die Darstellung über die Möglichkeit der unionsrechtskonformen Auslegung bzw. Rechtsfortbildung bis hin zu den Voraussetzungen und Folgen der Unanwendbarkeit. Hierdurch sollen insbesondere die Zusammenhänge der einzelnen Stufen aufgezeigt werden und so ein geschlossenes Bild der Unanwendbarkeit nationaler Normen infolge seiner Unionsrechtswidrigkeit mit ihren Konsequenzen für nationale Gerichte, Verwaltung und Gesetzgeber gezeichnet werden.

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1. Kapitel: Prüfungspflicht: Schutz des Unionsrechts durch nationale Stellen

Wie an jedem Gericht sind auch die Kapazitäten des EuGH begrenzt. Er allein kann nicht über die Einhaltung des Unionsrechts in allen 27 Vertragsstaaten wachen und bedarf der Unterstützung durch eine Kooperation mit nationalen Stellen.1 Diese Unterstützung ließe sich auf mehrere Arten verwirklichen und doch ist stets Voraussetzung, dass man den nationalen Stellen erlaubt, den Sachverhalt auf Verstöße gegen Unionsrecht hin zu untersuchen. Es ist daher zunächst zu klären, woher eine solche Befugnis kommt und welche Konsequenzen sich aus einem festgestellten Verstoß ergeben. In Bezug auf die Konsequenzen sind mehrere Optionen denkbar. Sie reichen von einer bloßen Vorlage an den EuGH bis hin zu einer eigenen Verwerfungsbefugnis2 der nationalen Stelle.

Weiter bedarf der Klärung, ob es sich bei dieser Form der Unterstützung um eine freiwillige Form der Kooperation handelt oder nicht. Denn auch wenn der EuGH von einer Prüfungspflicht der nationalen Stellen spricht, so muss dies – unter Zugrundelegung eines anderen Geltungsgrundes des Unionsrechts – nicht zwingend sein. Hiervon ist letztlich abhängig, ob man eher von einer Prüfungspflicht als von einer Prüfungsbefugnis, eher von einer Verwerfungspflicht als von einer Verwerfungsbefugnis sprechen kann.3 Die Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Prüfungsbefugnis bzw. der Prüfungspflicht hängt von dem zugrundegelegten Geltungsgrund ab. ← 21 | 22 →

I. Herleitung und Adressat der Prüfungspflicht („legal review“)

In den Rs. van  Gend   &   Loos4 und Costa/ENEL5 kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass sich ein Bürger auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht vor nationalen Gerichten berufen kann und der nationale Richter es entsprechend zu berücksichtigen habe. Durch die Entscheidung in der Rs. Simmenthal II6 wurde deutlich, dass die Wirkungen von unmittelbar anwendbarem Recht auch die Gerichte direkt betreffen und sie daher zum Schutze des Unionsrechts nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet sind. Die Ausweitung dieser Pflicht auf die Verwaltung fand mit der Entscheidung in der Rs. Costanzo7 statt. Wenn Gerichte die Handlungen der Verwaltung auf ihre Unionsrechtskonformität hin überprüfen und ggf. abändern, so müsse man der Verwaltung an erster Stelle auch die Pflicht zu einem solchen Handeln auferlegen. Es erscheint nachvollziehbar, wenn der EuGH es als widersprüchlich ansieht, wollte man dem Bürger vor Gericht die Möglichkeit geben, das Verhalten der Verwaltung zu beanstanden, auf der anderen Seite der Verwaltung jedoch nicht die Pflicht zur Befolgung des Rechts der Europäischen Union auferlegt, obwohl auch sie an unmittelbar anwendbares Unionsrecht gebunden ist.

Die Frage, welcher Bestimmung man diese Prüfungspflicht entnimmt, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. In den angeführten Entscheidungen schweigt der EuGH dazu. Die Literatur sieht im Unionsrecht für die Verankerung dieser Pflicht im Wesentlichen nur den Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV). Sofern ein Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht Gegenstand der Prüfung ist, kann als Grundlage für die Prüfungspflicht auch der Anwendungsvorrang iVm Art. 4 Abs. 3 EUV herangezogen werden.8

Aus nationaler Sicht bietet sich – wie auszuführen sein wird – ein Abstellen auf Art. 20 Abs. 3 GG an. ← 22 | 23 →

1) Unionsrechtliche Herleitung

In seinem Kern besteht Art. 4 Abs. 3 EUV schon seit über 50 Jahren. Der EuGH leitete zentral9 aus diesem Artikel (bzw. aus den Vorgängervorschriften) nach und nach den Grundsatz loyaler Zusammenarbeit ab.10 Dieser Grundsatz wurde durch den Vertrag von Lissabon zum 1.12.2009 ausdrücklich aufgenommen (Art. 4 Abs. 3 Satz 1 EUV). Nach dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 EUV haben sich Union und Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit gegenseitig zu achten und zu unterstützen bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Während Satz 1 eine Neuerung zu ex-Art. 10 EGV darstellt, geben Satz 2 und 3 lediglich den ex-Art. 10 EGV wieder. Satz 2 verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen für die Umsetzung von Primär- und Sekundärrecht zu treffen und Satz 3 fordert die Unterstützung durch die Mitgliedstaaten für die Union ein zur Erfüllung deren Aufgaben. Die Sätze 2 und 3 sind also von keiner größeren Relevanz, da sich ihr Inhalt bereits aus Satz 1 ergibt bzw. herleiten ließe. Aus ex-Art. 10 EGV wurde der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit abgeleitet. Dieser geht über die Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2, 3 EUV hinaus.11

Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit hat in der Rechtsprechung des EuGH zahlreiche Konkretisierungen gefunden.12 Für den Gesetzgeber wurde hier die Pflicht hergeleitet, sein innerstaatliches Recht auf Unionsrechtkonformität hin zu überprüfen und wenn nötig Verstöße, mögen sie auch „nur“ die volle praktische Wirksamkeit hemmen, zu beseitigen.13 Kahl14 sprach in diesem Zusammenhang von einer Pflicht zum „Monitoring“, die den Gesetzgeber stetig trifft. Für die innerstaatlichen Gerichte wurde die Pflicht geschaffen, wirksamen ← 23 | 24 → Rechtsschutz für alle Unionsbürger bei der Verletzung von Unionsrechten zu schaffen.15 Dies impliziert die Überprüfung auf Unionsrechtswidrigkeiten und bürdet der Rechtsprechung eine Prüfungspflicht auf.16 Letztlich trifft im Ergebnis die Verwaltung dieselbe Pflicht.17

a) Die unmittelbare Anwendbarkeit von Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV („Fidelity Principle“)

Diese konkreten Pflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV erscheinen aufgrund der weiten Formulierung der Norm nicht unproblematisch. Die Tatsache, dass nur von den Mitgliedstaaten gesprochen wird und nicht von konkreten Institutionen in den Mitgliedstaaten, trägt zur Unsicherheit in Bezug auf die konkreten Folgen, die sich aus der Norm ergeben, bei. Grundsätzlich erscheint es aber trotz der Verwendung des Begriffs „Mitgliedstaaten“ unproblematisch, Pflichten für die Verwaltung oder die Rechtsprechung aus Art. 4 Abs. 3 EUV herzuleiten. Die gleiche Technik wurde in Art. 288 Abs. 3 AEUV verwendet. Auch dort können sich Pflichten für Gerichte und Verwaltungen ergeben.

Details

Seiten
282
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653058918
ISBN (ePUB)
9783653965681
ISBN (MOBI)
9783653965674
ISBN (Paperback)
9783631663899
DOI
10.3726/978-3-653-05891-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Europarecht unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung Folgen der Unanwendbarkeit unionsrechtskonforme Auslegung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 282 S.

Biographische Angaben

Jens Stenmans (Autor:in)

Jens Stenmans studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster Rechtswissenschaften und war dort im Anschluss als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuerrecht tätig. Sein Referendariat absolvierte er am OLG Düsseldorf mit einer Station in New York. Derzeit arbeitet er als Rechtsanwalt in Düsseldorf.

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