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E. T. A. Hoffmanns Weg zur Oper

Von der Idee des Romantischen zur Genese der romantischen Oper

von Diau-Long Shen (Autor:in)
©2016 Dissertation 240 Seiten

Zusammenfassung

Erst nach der Publikation seiner musikalischen Erzählung Ritter Gluck (1809) eröffnete sich für E. T. A. Hoffmann die Perspektive, nicht als Komponist, sondern als Schriftsteller Berühmtheit zu erlangen. Der literarische Ruhm des Schriftstellers läßt jedoch leicht vergessen, daß der angehende Jurist zwischen 1799 und 1816 insgesamt acht Opern komponierte, von denen jedoch nur sechs erhalten sind. Der Autor geht der Frage nach, welchen Niederschlag Hoffmanns Idealvorstellungen von romantischer Oper und romantischer Instrumentalmusik in seinen Partituren fanden. Neben der berühmten Zauberoper Undine (1816) untersucht er auch die heute kaum mehr bekannten Opern Die Maske (1799), Die lustigen Musikanten (1805), Liebe und Eifersucht (1807), Der Trank der Unsterblichkeit (1808) und Aurora (1811–1812). Die Vielfalt der musikdramatischen Resultate unterstreicht die ästhetische Mannigfaltigkeit der deutschen Romantik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Einleitung
  • 1. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann – Komponist versus Dichter
  • 2. Hoffmann als Opernkomponist: Problemstellung, Methodik, Zielsetzung
  • II. Hoffmann und die deutschsprachige Oper seiner Zeit
  • 1. Vom Singspiel zur Oper: Hoffmanns Bestrebungen zur Poetisierung der deutschsprachigen Oper
  • 2. Das Romanhaft-Abenteuerliche und Zauberhafte als Bereiche der romantischen Oper
  • 3. Die Rezeption von Mozarts Opere buffe in der deutschen Romantik um 1800
  • III. Theoretische Grundlegung: Hoffmanns romantische Idee für die Oper
  • 1. Der »poetische Zustand« als Motivierung von Musik in der Oper
  • 2. Hoffmanns Idee der romantischen Oper
  • 2.1 Der Beitrag der Romantik zur deutschen Librettistik
  • 2.2 Von der Metaphysik der Instrumentalmusik zur »poetischen Wahrheit«
  • 2.3 Die »romantische Wirkung« der Mischung aus Komischem und Tragischem
  • 2.3.1 Ironie und »tiefere Bedeutung« als romantische Wirkung
  • 2.3.2 Ludwig Tiecks Begriff des Wunderbaren
  • 3. Mozarts Don Giovanni als romantische Oper par excellence
  • 3.1 Die »wunderbaren« Klänge und »das Ganze« in Don Giovanni
  • 3.2 Die Umsetzung der »tieferen Bedeutung« in Don Giovanni
  • IV. Vielfalt als Gestaltungsprinzip: Hoffmanns erstes Singspiel Die Maske
  • 1. Der Universalkünstler – Voraussetzung für Die Maske
  • 2. Die Vermischung der Handlungsmotive in Die Maske
  • 3. Die Gattungsmischung in Die Maske
  • 4. Hoffmanns Versifikation und deren Vertonung
  • 5. Die als »romantisch« bezeichneten Elemente im Libretto von Die Maske
  • 5.1 Die romantische Schwärmerei
  • 5.1.1 Die musikalische Darstellung von Manandanes Ohnmacht im ersten Finale
  • 5.2 Die romantische Ruinen-Landschaft
  • 6. Die rote Maske als Motiv des Wunderbaren in Die Maske
  • 6.1 Die Atmosphäre des Geheimnisvollen
  • 6.2 Das Duell im zweiten Finale
  • 6.3 Freie Formgestaltung
  • V. Hoffmanns Vertonung von Clemens Brentanos Poesie: Die lustigen Musikanten
  • 1. Hoffmann als Komponist in Posen, Płock und Warschau
  • 2. Clemens Brentanos Mischung von Komischem und Tragischem
  • 3. Durch Flötenspiel angeregtes synästhetisches Empfinden
  • 4. Hoffmanns Musik für Ramiros Arie »Die Liebe lehrt«
  • 4.1 Hoffmanns kompositorischer Umgang mit Clemens Brentanos »musikalischer Poesie«
  • 4.2 Ein Relikt aus Hoffmanns Mozart-Studien
  • VI. Hoffmanns Umsetzung seiner Rezeption der Opera buffa: Liebe und Eifersucht
  • 1. Neue berufliche Laufbahn, neues Singspiel
  • 2. Hoffmanns Textbearbeitung: Von August Wilhelm Schlegels Calderón-Übersetzung Die Schärpe und die Blume zum Libretto Liebe und Eifersucht
  • 2.1 Versstruktur
  • 2.2 Die Anreden »du« und »Ihr« als Mittel der Charakterisierung bei Hoffmann
  • 2.3 Die Namen der Personen
  • 2.4 Auftritte und Abgänge
  • 2.5 Streichung rhetorisch kunstvoller Passagen aus dem Dramentext
  • 2.6 Die veränderte Charakterisierung des Herzogs zum Tyrannen
  • 2.7 Neu verfaßte Sologesänge
  • 2.8 Hoffmanns Dramaturgie des Phantastischen in Liebe und Eifersucht
  • 2.9 Liebe und Eifersucht als Träger »tieferer Bedeutung«
  • 3. Hoffmanns Vertonung der Ironie
  • 3.1 Hoffmanns Vertonung des Sonetts als »Wagstück«
  • 3.2 Ironie mit Hilfe der Instrumentation
  • 4. Hoffmanns musikalische Darstellung der »tieferen Bedeutung« von Liebe und Eifersucht
  • 4.1 Eine Klangchiffre für die Liebe
  • 4.2 Der Moll-Akkord und der verminderte Akkord als Klangchiffren für die Eifersucht
  • VII. Der Trank der Unsterblichkeit – Hoffmanns erste »romantische Oper«?
  • 1. Die Entstehung von Hoffmanns und Julius von Sodens »romantischer Oper«
  • 2. Julius von Soden und sein Opernlibretto Der Trank der Unsterblichkeit
  • 2.1 Die Vorlagen von Der Trank der Unsterblichkeit
  • 2.2 Von Sodens Gesellschaftskritik im Libretto
  • 2.3 Das Romantische in von Sodens Libretto
  • 2.4 Die romantische Vertonung der »tieferen Bedeutung« in der Ouvertüre
  • 3. Hoffmanns Umarbeitung des Librettos
  • 3.1 Hoffmanns Ausbau der Makrostruktur in von Sodens Libretto
  • 3.2 Hoffmanns Vertonung eines Prosatexts im Sinne seiner Idee des Romantischen
  • VIII. Hoffmanns »große romantische Oper«: Aurora
  • 1. Bamberger Musikdirektor
  • 2. Hoffmanns und das Seria-Sujets
  • 2.1 Das Schicksalhafte
  • 2.2 Chromatik als klanglicher Ausdruck des Tragischen
  • 3. Hoffmanns Darstellung der Göttin Aurora
  • 3.1 Aurora und die Memnon-Säulen als romantische Topoi
  • 3.2 Hoffmanns Vertonung des ahnungvollen Naturbilds
  • 3.3 Die spirituelle Vereinigung von Aurora und Tithonus
  • 3.4 Das Überstrukturelle als das Übernatürliche
  • 4. Das Erwachen aus einem Traum: vom Singen zum Sprechen
  • IX. Die Umsetzung der romantischen Opernästhetik des Wunderbaren in Undine
  • 1. Die Zusammenarbeit zwischen Hoffmann und Friedrich de la Motte Fouqué
  • 2. Die Gestaltung des »musikalischen Gangs« im Libretto
  • 3. Die poetische Gestaltung der Geisterwelt
  • 3.1 Die Charakterisierung des Bedrohlichen in der Partie des Kühleborn
  • 3.2 Die Wirkung des Unheimlichen in Undine aus der Perspektive von Sigmund Freud
  • 3.3 Die Wirkung der Erscheinungen aus der Geisterwelt im »Alltäglichen«
  • 3.4 Hoffmanns romantisches Geisterreich im Schlußtableau von Undine
  • 4. Die musikalische Gestaltung der Geisterwelt
  • 4.1 Die klangliche Ahnung in der Romanze des Fischers
  • 4.2 Die musikalische Charakterisierung der Partie des Kühleborn
  • 4.3 Ein Beispiel für durchkomponierte Struktur in der Dialogoper: Die Verzahnung von irdischer und übernatürlicher Welt
  • 4.4 Klangchiffren für die Figur des Kühleborn
  • 4.5 Die Einführung »schauerlicher« Klänge
  • 4.6 Die musikalische Zeichnung von Kühleborn als »Willens-Vollstrecker« des Schicksals
  • Bibliographie
  • Reihenübersicht

Vorwort

Meine erste Begegnung mit E. T. A. Hoffmanns Œuvre erfolgte im Rahmen meiner Magisterarbeit über Hector Berlioz an der National Taiwan Normal University. Erst nachdem ich im Jahr 2008 nach Deutschland kam und begann, mögliche Themen für eine Doktorarbeit aus dem Bereich der Opernforschung zu recherchieren, wurde mir bewußt, daß dieser berühmte Schriftsteller und Musikkritiker sich selbst in mindestens gleichem Maße als Komponist sah und in den Jahren vor seiner Karriere als Schriftsteller mindestens acht Opern komponierte. Daher entschied ich mich, meine Dissertation an der Freien Universität Berlin über die Opern E. T. A. Hoffmanns zu verfassen. Meinen akademischen Lehrern, vor allem Frau Prof. Dr. Kii-Ming Lo (National Taiwan Normal University, Taipei), und meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jürgen Maehder (damals Berlin, heute Taipei / Salzburg / Lugano), gilt mein besonderer Dank für ihre kontinuierliche Betreuung meiner akademischen Arbeiten. In den Jahren der Forschungsarbeit und der Abfassung meiner Dissertation sowie während der Jahre der Erstellung der vorliegenden Druckfassung standen sie mir mit mannigfachen Anregungen und beständiger Ermutigung zur Seite.

Danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Jürgen Maehder außerdem in seiner Eigenschaft als Herausgeber der Reihe »Perspektiven der Opernforschung« sowie dem Mitherausgeber, Herrn Prof. Dr. Thomas Betzwieser (Frankfurt am Main), für die Aufnahme meiner Dissertation in ihre Publikationsreihe. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses geht mein Dank an die E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft und ihren Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Bernhard Schemmel (Bamberg).

Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, die mannigfaltigen Wege zu beschreiben, auf denen E. T. A. Hoffmann versuchte, seine Idee eines musikalischen Theaters aus dem Geiste der literarischen Romantik für sein Opernschaffen fruchtbar zu machen. Die besondere Herausforderung dieses Themas bestand für mich darin, die Ästhetik der romantischen Literatur um 1800 mit dem aktuellen musikwissenschaftlichen Forschungsstand über die deutschsprachige Oper dieser Epoche in Beziehung zu setzen. Dafür, daß ich an den Standorten der Quellen konzentriert diese von der Musikwissenschaft bislang wenig beleuchteten Aspekte erforschen konnte, möchte ich dem Deutschen Akademischen Austauschdient (DAAD) sehr danken, der mich von 2010 bis 2013 finanziell unterstützte.

Die vorliegende Studie über Hoffmanns Opern wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung der folgenden Institutionen und Personen, denen ich ebenfalls zu Dank verpflichtet bin: Die Staatsbibliotheken in Berlin und in Bamberg sowie die Bibliothèque Nationale de France machten mir die musikalischen Manuskripte sowie die Handzeichnungen Hoffmanns zugänglich. Herr Dr. Arne Langer, Chefdramaturg des Opernhauses Erfurt, und Herr Prof. Dr. Peter P. Pachl stellten mir großzügigerweise das Autograph des Librettos und die Partitur von Hoffmanns Der Trank der Unsterblichkeit zur Verfügung. Frau Prof. Christine Siegert (Universität der Künste Berlin) danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie für nützliche Hinweise. Ein herzlicher Dank gilt außerdem allen meinen Kommilitonen und Freunden, die mir während meiner Promotion in unterschiedlicher Hinsicht geholfen haben. Mit den Herren Matthias Nikolaidis, M.A. und Maurice Chales de Beaulieu, M.A. ergab sich ein kontinuierlicher Gedankenaustausch zu den verschiedensten Themen der Musikwissenschaft. Mit großer Geduld brachte mir Herr Carlos María Solare, M.A. die spanische Versmetrik bei. Last but not least danke ich Herrn ← 9 | 10 → Nikolaus Petersen für ununterbrochene sprachliche und moralische Unterstützung. Ohne ihn wäre die Arbeit während meiner Promotion und während der Entstehung dieses Buchs nicht so glatt verlaufen.

Für das abschließende Lektorat bedanke ich mich besonders bei den Herren Dr. Eckhard Weber, Nikolaus Petersen, Matthias Nikolaidis, M.A. sowie bei Frau Eva Glaesner, die mit großer Geduld und Sorgfalt bei der sprachlichen Korrektur geholfen haben.

Ich widme dieses Buch meiner Familie.

Taipei, 8. Februar 2016

Diau-Long Shen ← 10 | 11 →

I. Einleitung

1. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann – Komponist versus Dichter

Ich mag mich nicht nennen, indem mein Nahme nicht anders als durch eine gelungene musikalische Composition der Welt bekannt werden soll.1

Während E. T. A. Hoffmann die Publikation seiner Fantasiestücke in Callot’s Manier vorbereitet, schreibt er am 20. Juli 1813 an seinen Verleger Carl Friedrich Kunz die oben zitierten Worte, die tatsächlich sein zentrales Lebensziel zum Ausdruck bringen: Er möchte sich als Komponist, vor allem als Opernkomponist, Ansehen erwerben. Folglich vergißt Hoffmann auch nicht, in demselben Brief, dessen vorrangiges Thema der Druck seiner Fantasiestücke war, seinem Verleger von seinem aktuellen Opernplan zu berichten: »So wird z. B. die Undine auch in kurzer Zeit beendigt seyn und Härtel wird mit Rezensionen überschüttet«2.

Dieses Streben Hoffmanns nach Anerkennung als Opernkomponist wurde nur bedingt erfüllt. Nur zwei seiner acht vollendeten Opern 3 wurden zu seinen Lebzeiten auf die Bühne gebracht:4 Die lustigen Musikanten im Jahr 1805 und Undine im Jahr 1816. Die Aufführung des Singspiels Die lustigen Musikanten 1805 in Warschau war ein Mißerfolg. Darüber berichtete die Zeitung für die elegante Welt und der Rezensent beschrieb Hoffmann als einen »unbekannten Dilettanten (den man in der Person eines in aller Kunst erfahrnen Mannes, des Regierungsraths H…., entdeckt hat)«5. Hoffmanns letzte Oper Undine wurde von 1816 bis 1817 in Berlin mit Erfolg 22-mal aufgeführt und positiv rezensiert, kam jedoch nach 1817 wegen des Brandes im alten Berliner Schauspielhaus, bei dem die gesamte Ausstattung vernichtet wurde, nicht mehr auf die Bühne. Der Wirkungsgeschichte von Hoffmanns erfolgreichster Oper wurde somit durch diese Feuerkatastrophe ein frühes Ende bereitet6.

Während Hoffmanns Wirkung als Komponist demnach eine sehr geringe war, verbreitete sich sein Ruf als Musikschriftsteller schon zu seinen Lebzeiten im gesamten deutschen Sprachraum. 1809 veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk, die Erzählung Ritter Gluck, in der Allgemeinen musikalischen Zeitung und rezensierte seitdem in derselben Zeitschrift Symphonien, Ouvertüren, Opern, Klaviertrios, Klaviersonaten, religiöse Musik, Lieder und auch Opernlibretti. Als Hoffmann sich in der Allgemeinen musikalischen Zeitung mit seinen Rezensionen durchsetzen konnte, veröffentlichte er dort auch viele seiner literarischen Texte über Musik. Die Beliebtheit dieser Beiträge zeigt sich darin, daß Hoffmann diese Texte 1814 im Sammelband Fantasiestücke in Callot’s Manier publizierte. Schon zu dieser Zeit war er als ← 11 | 12 → Schriftsteller erfolgreicher denn als Komponist. Seine postume Wirkung sollte allerdings noch seinen Erfolg zu Lebzeiten weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus übertreffen. »Seine Kunst der Fantasie gehört zur Weltliteratur«7, heißt es in einer Monografie jüngeren Datums. Die Tatsache, daß »weniger der hochbegabte Musiker Hoffmann die Welt weiterbewegte« als vielmehr »der ungleich genialere Dichter« 8, rücke allerdings Hoffmanns »Kompositionstätigkeit in die Sphäre des Dilettantismus, der Liebhaberei, der Nebenbeschäftigung« 9, so die weitverbreitete Meinung.

Zwischen diesen beiden Identitäten Hoffmanns, dem Komponisten und dem Dichter, besteht zweifellos ein Spannungsverhältnis, das zu geringem Interesse an Hoffmanns Opernschaffen geführt hat. Die vorliegende Arbeit will deutlich machen, daß für Hoffmann zwischen seiner literarischen und seiner kompositorischen Tätigkeit eine enge Wechselwirkung für sein Opernschaffen bestand, die sich vorrangig an der Ästhetik der damals aufkommenden romantischen Strömungen in der Literatur orientierte. Problematik, Methodik und Zielsetzung dieser These werden in den nächsten Kapiteln näher dargestellt.

2. Hoffmann als Opernkomponist: Problemstellung, Methodik, Zielsetzung

Vor allem unter einem Aspekt wird E. T. A. Hoffmann als für die Musikgeschichte wichtiger Opernkomponist betrachtet: im Zusammenhang mit der deutschen romantischen Oper. In der Musikgeschichtsschreibung besitzt Hoffmanns Undine eine besondere Stellung als Schlüsselwerk innerhalb der Entwicklung der deutschen romantischen Oper. Wenn also sein Opernschaffen in diesem Kontext besprochen werden soll, muß dieser zuerst geklärt werden.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitete die italienische Oper ihre Wirkung unangefochten in ganz Europa. Bis zum frühen 19. Jahrhundert beeinflusste die erfolgreiche französische Opéra comique ebenfalls die europäische Bühne. Um die Wende zum 19. Jahrhundert begannen im deutschen Sprachraum Bemühungen, eine eigene deutschsprachige Operntradition zu begründen10. Dieser Wunsch verband sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit sich gleichzeitig abzeichnenden romantischen Strömungen in Literatur, Musik und bildender Kunst und in den nationalen Emanzipationsbewegungen11. In diesem Kontext wird der Erfolg von Carl Maria von Webers Der Freischütz (1821) in der Musikgeschichtsschreibung allgemein als der Anfang der deutschen romantischen Oper angesehen12 und mit dem späteren ← 12 | 13 → Schaffen Richard Wagners in Beziehung gesetzt, wie dies Hermann Kretzschmar in seiner Geschichte der Oper darstellt: »Mit dem Freischütz tut Deutschland den entscheidenden Schritt in der Geschichte der Oper; es beginnt eine Bewegung, die mit Richard Wagner und mit der Vorherrschaft deutschen Geistes im internationalen Musikdrama endet.«13 Solch ein nationalistischer Ton bei der Betrachtung des Gegenstands ist auch deutlich im Titel von Siegfried Goslichs Dissertation Beiträge zur Geschichte der deutschen romantischen Oper von Spohrs Faust zu Wagners Lohengrin14 aus dem Jahr 1937 zu erkennen und wiederholt sich in seinem Buch Die deutsche romantische Oper von 1975 15, worin der Verfasser behauptet: »Der romantische Stoff der Operndichtung ist in Deutschland zu Hause und dringt von hier aus ins Ausland vor.« 16 Eine derartige Geschichtsschreibung über die deutsche romantische Oper wurde offenbar von der NS-Propaganda beeinflußt, erweist sich als ideologisch verengt und auf diese Weise verfälschend. Carl Dahlhaus hat dagegen in seinem Aufsatz Die romantische Oper als Idee und als Gattung gezeigt, daß die Stoffwahl der romantischen Oper sowie der Geltungsbereich der Gattung, vom Singspiel zur großen Oper, national übergreifend waren17. Die vormals der deutschen romantischen Oper als spezifisches Merkmal zugeschriebene Erinnerungsmotivik kommt ursprünglich aus der französischen Opéra comique18. Aus diesem Grunde sollte die romantische Oper nicht als spezifisch deutsche Entwicklung angesehen werden. Darüber hinaus war sie zum anderen laut Dahlhaus auch keine eigenständige Gattung der Oper, denn er kommt zur Einsicht: »Was immer die romantische Oper sein mag – eine Gattung ist sie, wie es scheint, jedenfalls nicht.«19

Interessanter erscheint die sich als nächstes ergebende Frage: Wenn die romantische Oper keine Gattung, sondern eine Idee war, worin besteht dann das Romantische der romantischen Oper? Im Bemühen um eine Antwort auf diese Frage weist Dahlhaus darauf hin, daß, da »der Terminus Romantik aus der Literatur und der Literaturtheorie stammt, […] die Versuchung, eine Charakteristik der romantischen Oper aus der Librettogeschichte zu entwickeln, nahezu unausweichlich« sei20. Er unternimmt einen Bestimmungsversuch, die romantischen Elemente in den Libretti zu differenzieren und glaubt zunächst feststellen zu können,

daß [François-René de] Chateaubriands literaturtheoretisch fundamentale Unterscheidung zwischen dem bloß »Romanesken«, das durch stofflich-vulgäre Reize besticht, und dem wahrhaft »Romantischen«, das einer erhabenen Einbildungskraft entspringt, in der Librettogeschichte ins Leere geht. Denn die Mehrzahl der Texte, die romantischen Opern zugrundeliegen und ohne die deren Geschichte schlechterdings nicht vorstellbar ist – vom Freischütz über Robert le diable bis zu Hans Heiling –, gehört zweifellos dem von Chateaubriand der ästhetischen Verachtung preisgegebenen Genre des »Romanesken« an – man kann auch sagen: der »Trivialromantik«.21 ← 13 | 14 →

Indem Hoffmann in seinem zur Darlegung seiner Idee der romantischen Oper verfaßten Aufsatz Der Dichter und der Komponist aus dem Jahr 1813 diejenigen Opern, »in denen läppische, geistlose Geister erscheinen, und ohne Ursache und Wirkung Wunder auf Wunder gehäuft werden, nur um das Auge des müßigen Pöbels zu ergötzen«22 von der »wahrhaften romantischen Oper«23 abgrenzt, gehört seine Opernästhetik nicht zu jener von Dahlhaus genannten Trivialromantik. Eindeutig orientiert Hoffmann seine Idee der romantischen Literatur an den deutschen literarischen Frühromantikern. Er war mit Jean Paul befreundet, las nachweislich die Werke der Gebrüder Schlegel sowie Ludwig Tiecks Schriften und vertonte Clemens Brentanos Libretto Die lustigen Musikanten. Ausdrücklich beschreibt er Tieck als »echt romantische[n] Dichter«24. Hoffmanns literarische Orientierung an diesen Frühromantikern spiegelt sich nicht nur in seinen eigenen Schriften wider25, sondern auch in seiner Konzeption einer romantischen Oper.

Dahlhaus zeigt eine Entwicklungslinie der deutschen romantischen Oper aus der Idee der Frühromantiker auf: Demnach hätten Wackenroder und Tieck die romantische Musikästhetik begründet und zwar als »primär eine Metaphysik der Instrumentalmusik«, die von Hoffmann »in eine publizistisch wirksame Form gebracht« worden sei:26 »In dem Epitheton ›romantisch‹ war latent die Idee der absoluten Musik, also eine der Oper entgegengesetzte Idee, enthalten.«27 Daher gebe es in Hoffmanns Idee der romantischen Oper einen inhärenten Gegensatz zwischen dem Romantischen und der Oper, den »erst Wagner dadurch auflöste, daß er das Musikdrama als symphonische Oper konzipierte«28.

Bezogen auf Hoffmann basiert diese Beschreibung der Entwicklung der deutschen romantischen Oper offenkundig auf zwei Anhaltspunkten: Erstens identifiziert Hoffmann 1810 aufgrund seiner Rezeption von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 die Instrumentalmusik als die »romantischste aller Künste«29 und deren thematisch-motivische Struktur als das »technische Korrelat zum romantischen Wesen«30. Zweitens beschreibt Hoffmann das »romantische Sein« in der Oper als einen Bereich, »wo selbst Handlung und Situation in mächtigen Tönen und Klängen« erfolgen sollte31. Zu Recht weist Thomas Betzwieser aber darauf hin, daß die Idee der absoluten Musik geradezu »inkommensurabel« zu der Vorstellung einer Oper mit gesprochenem Dialog erscheine: »Die Durchdringung der frühromantischen Ästhetik mit der absoluten Musik legt die Annahme nahe, daß ein romantisches Bühnenwerk nur in einer durchgehend musikalisierten Form bestehen könne.«32 Auch wenn in Hoffmanns Opernschaffen eine Tendenz vorliegt, wie Gerhard Allroggen beobachtet, »große dramatische Zusammenhänge in weit ausgreifenden Nummern ← 14 | 15 → zusammenhängend zu vertonen«, schuf er jedoch keine einzige durchkomponierte »symphonische Oper«33.

Nach dem Wesen der Romantik in der romantischen Oper fragt auch Joachim Reiber in seinem Aufsatz Wie romantisch ist die romantische Oper? Literaturgeschichtliche Überlegung zu einem Problem der deutschen Operngeschichte. Dazu verweist er auf zwei methodische Vorgehensweisen, die aber, wie Reiber selbst bemerkt, beide ihre Schwierigkeiten haben: »Auf dem induktiven Weg hätte man zunächst ohne Wenn und Aber all das zusammenzutragen, was unter dem Etikett ›romantisch‹ auf den Bühnen des Musiktheaters gespielt worden ist. […] Aus diesem Fundus wäre dann das allgemein Gültige, verbindlich Verbindende abzuleiten – ein uferloses, ja hoffnungsloses Unterfangen bei so disparaten Werken wie dem Lohengrin und dem Donauweibchen, der Elfenkönigin, einem ›romantischen Singspiel‹ aus dem Jahr 1793, Hans Pfitzners Rose vom Liebesgarten oder Wenzel Müllers Geist vom Hafnerberg.«34 Demgegenüber müsse bei einem deduktiven Vorgehen »zunächst einmal grundsätzlich geklärt werden, was denn überhaupt ›romantisch‹ zu nennen sei, bevor die Definition dann auf einzelne Kunstwerke angewandt wird.«35 An Siegfried Goslichs bereits erwähntem Buch Die deutsche romantische Oper kritisiert Reiber: »Seine Wesensbestimmung der Romantik würfelt freilich Ideen und Stoffe, dichterische Motive und musikalische Erscheinungen bunt durcheinander und zeigt damit vor allem eines: daß auch der deduktive Weg ohne klare Bestimmung seines Ausgangspunkts in einen willkürlichen Zickzackkurs abdriften muß.«36

Reiber selbst verortet diesen Ausgangspunkt mit dem um 1800 entstandenen literarischen Programm von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel und von Hoffmann und weist auf »Progression« und »Transzendenz« als Leitbegriffe einer »die Schranken des Rationalismus« sprengenden und zu »neuen, unbekannten Ufern« aufbrechenden Idee hin37. So bewertet er das Libretto des Freischütz wie folgt:

Um das Ergebnis der Librettointerpretation gleich vorwegzunehmen: Der Freischütz ist tatsächlich kein romantischer Text im Sinn der einleitend dargelegten Welt- und Kunstanschauung. Mit Progression und Transzendenz, Entgrenzung und Erschließung eines romantischen Seins hat dieser Text nichts zu tun – ganz im Gegenteil: Es geht um Begrenzung, Bescheidung und die Bestätigung einer prästabilierten, hierarchischen Weltordnung. »[…] ich wünsche«, schreibt Friedrich Kind selbst in einem Kommentar zu seinem Textbuch, »daß Hörer und Schauer die Lehre mit sich nähmen […], Bewahre treu die Reinheit deines Herzens, so wird der Allmächtige dich bewahren!«38

Der Freischütz werde damit, so Reiber, als Lehrstück definiert, der Schlußchor verkünde die Moral. Mit dem Lehrstück hätten sich Kind und Weber von der ← 15 | 16 → »fatalistischen Tendenz« ihrer Vorlage abgesetzt39. Für Reiber erweist sich der Freischütz mit der exemplarischen Bekräftigung einer wiedergefundenen Ordnung als repräsentatives Stück der Restaurationszeit40.

Als Gegenbeispiel beschreibt Reiber mit den künstlerischen Kriterien »Progression« und »Transzendenz« Wagners Der Fliegende Holländer, an dessen Ende »eine stumme, ratlose Gesellschaft« stehe und kein Schlußchor »eine allgemeingültige Moral« verkünde, als »ein Werk der Durchbrechung und des Durchbruchs auch im Sinn der romantischen Welt- und Kunstanschauung«41. Als ein weiteres Beispiel führt Reiber Hoffmanns Oper Undine an, an deren Ende der Liebestod der Figur Huldbrand in der Geisterwelt im Vordergrund stehe; hier begegne der Zuschauer tatsächlich einer Vorahnung des »romantischen Seins«, wovon Hoffmann als Wesensmerkmal der romantischen Oper gesprochen habe42.

In den genannten Libretti der deutschsprachigen Musiktheaterwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die allgemein als romantische Opern gelten, untersucht Reiber die Ideen aus der deutschen Romantik. Aber in welchem Verhältnis stehen diese romantischen Ideen mit der Gestaltung der Oper hinsichtlich der Musik? Eine Antwort gibt die Untersuchung Sprechen und Singen: Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper von Thomas Betzwieser, der darin feststellt:

Aufgrund der spezifischen strukturellen Disposition der Dialogoper stellt die Funktionalität von Musik eine zentrale ästhetische und dramaturgische Kategorie der Gattung dar. Nicht nur die Frage, wann Musik statthat, sondern auch weshalb, wird für die Dialogoper relevant. Mit anderen Worten: dem Drama respektive dessen gesprochenen Teil muß eine Motivation für die musikalische Komponente des Werks innewohnen.43

Die Art und Weise, wie in der Dialogoper die Musik legitim motiviert werden soll, ist also hier das entscheidende Moment beim Erstellen eines Librettos. Während diese Motivation zur Musik im deutschen Singspiel des 18. Jahrhunderts vorwiegend von der Kategorie der verständlichen »Wahrscheinlichkeit« abhängt, ist diese gewissermaßen realitätsbezogene Veranlassung zur Musik in der Dialogoper für die nach der Poesie des Wunderbaren verlangenden Romantiker nicht mehr relevant44. An der romantischen Opernästhetik als einer Kategorie des Wunderbaren beobachtet Betzwieser eine Aporie im »Gestaltwerden einer solchen poetischen Idee im Werk selbst […]. Dieses Paradoxon konnte im konkreten Werk nur durch die Stoffwahl respektive die Kategorie des Wunderbaren (partiell) aufgelöst werden«45.

Eine differenzierte Darstellung der Kategorie des Wunderbaren für die Oper im Sinne des Romantischen bietet Hoffmanns Aufsatz Der Dichter und der Komponist aus dem Jahr 1813. Darin liefert Hoffmann das Konzept für eine »wahrhaft romantische Oper«, in der »die wunderbaren Erscheinungen des Geisterreichs ins Leben« geführt werden sollten46. Hoffmanns Idee der romantischen Oper spiegelt unverkennbar das zunehmende Interesse an übernatürlichen Elementen für die Oper am Anfang des 19. Jahrhunderts wider. Im genannten Aufsatz gibt es jedoch noch ← 16 | 17 → weitere Perspektiven, die mit Hoffmanns Gedanken des Romantischen und der Oper zusammenhängen. Dahlhaus sieht den »Begriff des Romantischen« als »das Zentrum der Hoffmannschen Ästhetik« an. Dieser Begriff sei

Dahlhaus’ Beobachtung von Hoffmanns Begriff des Romantischen erklärt letztlich die vielfaltige Natur der Romantik um 1800. Diese Vielfalt ist genau der Aspekt, unter dem die deutschsprachigen Opern vor dem Freischütz betrachtet werden können. Norbert Miller bemerkt:

Der breite Enthusiasmus, wie er durch den Erfolg des Freischütz beim Publikum wie bei der Kritik, bei der deutschen wie bei der europäischen Avantgarde, hervorgerufen wurde, hat bis heute die Musikgeschichte darüber hinweggetäuscht, daß durch die vaterländische Identifikation von Deutschtum und Romantik in der Musik mit dem Freischütz der freien Weiterentwicklung der romantischen Oper alle Möglichkeiten beschnitten wurden.48

Details

Seiten
240
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653059199
ISBN (ePUB)
9783653965582
ISBN (MOBI)
9783653965575
ISBN (Hardcover)
9783631663974
DOI
10.3726/978-3-653-05919-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 240 S., 50 s/w Abb.

Biographische Angaben

Diau-Long Shen (Autor:in)

Diau-Long Shen studierte Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Taipei National University of the Arts und erwarb seinen Magister in Musikwissenschaft an der National Taiwan Normal University in Taipei. Er war Stipendiat des DAAD und wurde 2014 an der Freien Universität Berlin in Musikwissenschaft promoviert. Seit 2015 lehrt er Musikwissenschaft als Assistant Professor am Music Department der National Taichung University of Education in Taichung/Taiwan.

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Titel: E. T. A. Hoffmanns Weg zur Oper
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