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Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip

Inhalt, Herleitung und der Umgang mit Neutralitätsverletzungen

von Cornelia Zirkl (Autor:in)
©2015 Dissertation XXII, 316 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht Inhalt, Rechtsgrundlagen und Bedeutung des «Grundsatzes der steuerlichen Neutralität». Kaum ein anderes Schlagwort findet in die umsatzsteuerliche Rechtsprechung des EuGH so häufig Eingang. Ausgehend von einer umfassenden Rechtsprechungsanalyse führt Cornelia Zirkl eine systematische Herleitung des Neutralitätsgrundsatzes aus dem Sekundärrecht sowie aus dem Primärrecht – insbesondere den Unionsgrundrechten – durch. Dabei nimmt sie auch die Bindungswirkung der EU-Grundrechtecharta im nationalen Umsatzsteuerrecht und den verbleibenden Einfluss nationaler Grundrechte in den Blick. Weitere Themen sind die Rechtsfolgen von Neutralitätsverletzungen durch den europäischen und nationalen Gesetzgeber sowie Rechtsschutzfragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Rechtfertigung des Themas
  • B. Gang der Darstellung
  • Kapitel 1: Allgemeine Grundlagen des europäischen Umsatzsteuerrechts
  • A. Die Entwicklung hin zu einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug
  • I. Die Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer in Deutschland bis 1967
  • II. Das Harmonisierungsziel der Wettbewerbsneutralität
  • 1. Konkrete Ziele
  • a. Verzerrungsfreier innergemeinschaftlicher Handel
  • b. Beseitigung der kumulativen Wirkung der Brutto-Umsatzsteuer
  • c. Fazit
  • 2. Konkrete Maßnahmen
  • a. Einführung des Netto-Allphasensystems
  • b. Harmonisierung der Bemessungsgrundlage
  • c. Harmonisierung zur Vollendung des Binnenmarktes
  • d. Ausblick
  • III. Das Harmonisierungsziel der gleichmäßigen Verbrauchsbelastung
  • IV. Fazit
  • B. Charakterisierung der Umsatzsteuer
  • I. Vorüberlegungen
  • 1. Rechtsprinzipien und inneres System
  • 2. Die vier wesentlichen Merkmale der Umsatzsteuer nach Rechtsprechung des EuGH
  • II. Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Fundamentalprinzip der Umsatzsteuer
  • 1. Das Leistungsfähigkeitsprinzip in der nationalen Steuerrechtsordnung
  • a. Herleitung und Inhalt
  • aa. Gleichheitssatz
  • bb. Sozialstaatsprinzip
  • cc. Freiheitsgrundrechte
  • dd. Fazit
  • b. Geltung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Umsatzsteuerrecht
  • 2. Das Leistungsfähigkeitsprinzip in der europäischen Steuerrechtsordnung
  • a. Herleitung aus dem Primärrecht
  • aa. Gleichheitssatz
  • bb. Weitere Wertentscheidungen der EU-Grundrechte
  • cc. Grundfreiheiten
  • dd. Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
  • ee. Fazit
  • b. Vorgaben für die Ausgestaltung des Umsatzsteuerrechts
  • III. Die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer
  • 1. Verbrauch- oder Verkehrsteuer?
  • a. Der Meinungsstreit in der nationalen Steuerrechtswissenschaft
  • aa. Verkehrsteuer
  • bb. Wertschöpfungsteuer
  • cc. Verbrauchsteuer
  • dd. Umsatzsteuerverständnis des nationalen Rechts und der nationalen Gerichte
  • b. Stellungnahme
  • aa. Die materiell-rechtliche Ausgestaltung der Umsatzsteuer als indirekte Steuer
  • bb. Umsatzsteuerverständnis der europäischen Richtlinien und des EuGH
  • cc. Schlussfolgerungen aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip
  • dd. Fazit
  • 2. Vorgaben für die Ausgestaltung und Auslegung des Umsatzsteuerrechts
  • IV. Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips im Umsatzsteuerrecht
  • 1. Schlussfolgerung aus dem Leistungsfähigkeits- und Verbrauchsteuerprinzip
  • 2. Das europäische Regelungssystem
  • V. Die Umsatzsteuer und ihre systemimmanente Neutralität
  • 1. Begriff der Neutralität
  • 2. Neutralität der Umsatzsteuer als Folge der Belastungskonzeption
  • Kapitel 2: Die Neutralität als europäisches Besteuerungsprinzip – Inhalt und Herleitung
  • A. Ausprägungen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität in der Rechtsprechung des EuGH
  • I. „Belastungsneutralität“ bei Eingangsumsätzen durch Entlastung von den Vorsteuern
  • 1. Vorsteuerabzug
  • a. Keine Kumulation der Vorsteuern als Ziel
  • b. Belastungsneutralität als Mittel
  • aa. Umfang: Vollständige Entlastung
  • (1) Vorsteuerabzug bei gemischt genutzten Gegenständen
  • (a) Lennartz, Seeling und Puffer
  • (b) Neue Rechtslage und Kritik
  • (2) Vorsteuerabzug bei Personenmehrheiten
  • bb. Zeitpunkt: Grundsatz des Sofortabzugs
  • (1) Vorsteuerüberschuss
  • (2) Vorbereitungshandlungen
  • (3) Relativierung und Kritik
  • cc. Voraussetzung: Zusammenhang mit steuerpflichtigem Ausgangsumsatz
  • (1) Grundsatz
  • (2) Eingangsumsatz vor Ausgangsumsatz
  • (3) Verwendung für besteuerte Ausgangsumsätze
  • (4) Pro-rata-Vorsteuerabzug bei teils steuerfreien, teils steuerpflichtigen Ausgangsumsätzen
  • (a) Bestimmung des Pro-rata-Satzes
  • (b) Pro-rata-Vorsteuerabzug bei allgemeinen Aufwendungen
  • (5) Nachweiserfordernisse für das Bestehen eines Zusammenhangs
  • (6) Relativierungen
  • (a) Vorwirkung der steuerpflichtigen Tätigkeit: Der erfolglose Unternehmer
  • (b) Nachwirkung der steuerpflichtigen Tätigkeit
  • dd. Einschränkungen
  • (1) Grundsatz: Uneinschränkbarkeit
  • (2) Relativierungen: Zulässigkeit von Einschränkungen
  • 2. Unentgeltliche Wertabgaben
  • a. Keine Vorsteuerentlastung bei privaten Aufwendungen als Ziel
  • b. Steuerpflicht der unentgeltlichen Wertabgabe als Mittel
  • 3. Gebot der äußeren Neutralität bei Eingangsumsätzen
  • 4. Grundsatz des Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug
  • II. „Wettbewerbsneutralität“ bei Ausgangsumsätzen durch gleiche Besteuerung
  • 1. Das Ziel der Wettbewerbsneutralität durch Gleichbehandlung
  • 2. Neutralität hinsichtlich des Leistungserbringers
  • a. Rechtsformneutralität
  • b. Strukturneutralität
  • c. Die Privilegierung der öffentlichen Hand
  • d. Die Regelung der Organschaft
  • 3. Wertneutralität
  • a. Absolut illegaler Bereich
  • b. Relativer illegaler Bereich
  • 4. Neutralität hinsichtlich gleichartiger Leistungen
  • a. Fallgruppen
  • aa. Anwendungsbereich
  • (1) Holdinggesellschaften
  • (2) Factoring
  • bb. Steuerbefreiungen
  • cc. Steuerermäßigungen
  • b. Definition der Gleichartigkeit durch den EuGH
  • aa. Befriedigung derselben Verbraucherbedürfnisse
  • bb. Charakter der Leistung als Maßstab
  • 5. Entgeltlichkeit, Bemessungsgrundlage und gleichmäßige Steuererhebung
  • a. Entgeltlichkeit als Tatbestandsmerkmal der Steuerbarkeit
  • b. Gebot der vollständigen und exakten Erfassung der Bemessungsgrundlage
  • aa. Untrennbare Nebenleistungen
  • bb. Änderung der Bemessungsgrundlage, insbesondere Herstellerrabatte
  • c. Gebot der gleichmäßigen Steuererhebung
  • aa. Verbot einer Steueramnestie
  • bb. Rundungsmethode und Anrechnung auf andere Abgaben
  • 6. Gebot der äußeren Neutralität bei Ausgangsumsätzen
  • 7. Grundsatz des Gutglaubensschutzes und Nachweispflichten bei innergemeinschaftlichen Lieferungen
  • a. Gutglaubensschutz
  • b. Substance-over-form-Prinzip
  • 8. Berichtigung und Erstattung von zu Unrecht gezahlter Umsatzsteuer
  • III. Fazit
  • B. Rechtsgrundlagen der Neutralität
  • I. Normierung der Neutralität in den Richtlinien
  • 1. Die Erste und Zweite MwStRL
  • 2. Die Sechste MwStRL
  • 3. Die MwStSystRL
  • 4. Die Neutralität als Auslegungsargument
  • a. Teleologisch-systematische Auslegung
  • b. Historische Auslegung
  • II. Die Neutralität als Konkretisierung des Gleichheitssatzes
  • 1. Vorab: Bindungswirkung der GRCh im Bereich des Umsatzsteuerrechts
  • a. Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab des Sekundärrechts
  • b. Unionsgrundrechte und/oder nationale Grundrechte als Prüfungsmaßstab mitgliedstaatlicher Umsetzungsakte?
  • aa. Die Ansicht des BVerfG, insbesondere die Schwarzwaldklinik-Entscheidungen
  • bb. Die Ansicht des EuGH, insbesondere die Åkerberg-Fransson-Entscheidung
  • cc. Stellungnahme und Schlussfolgerungen für die Überprüfung nationaler Umsatzsteuergesetze
  • 2. Einfluss des Art. 3 Abs. 1 GG auf die nationale Steuerrechtsordnung
  • a. Leistungsfähigkeitsprinzip
  • b. Folgerichtigkeit
  • c. Wettbewerbsneutralität
  • aa. Die Wettbewerbsneutralität in der Rechtsprechung des BVerfG
  • bb. Die Wettbewerbsneutralität als Verfassungsprinzip?
  • 3. Der Einfluss des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes auf die europäische Umsatzsteuer: Grundsatz der Neutralität
  • a. Die Neutralität bei Ausgangsumsätzen
  • aa. Verhältnis des Gleichheitssatzes zur Neutralität aus Sicht des EuGH
  • bb. Würdigung der Sicht des EuGH unter Einbeziehung umsatzsteuerlicher Prinzipien
  • (1) Wechselbeziehung zwischen Neutralität und Verbrauchsteuerprinzip
  • (2) Wechselbeziehung zwischen Neutralität und Leistungsfähigkeitsprinzip
  • (3) Beispiel
  • b. Die Neutralität bei Eingangsumsätzen
  • aa. Verhältnis des Gleichheitssatzes zur Neutralität aus Sicht des EuGH
  • bb. Würdigung der Sicht des EuGH unter Einbeziehung umsatzsteuerlicher Prinzipien
  • (1) Wechselbeziehung zwischen Neutralität und Verbrauchsteuerprinzip
  • (2) Wechselbeziehung zwischen Neutralität und Leistungsfähigkeitsprinzip
  • (3) Beispiele
  • c. Fazit
  • III. Die Neutralität als Ausprägung der Freiheitsgrundrechte des Unternehmers
  • 1. Schutz des Unternehmers durch das Grundgesetz
  • a. Art. 12 Abs. 1 GG
  • b. Art. 14 Abs. 1 GG
  • c. Art. 9 Abs. 1 GG
  • 2. Der Schutz des Unternehmers durch die GRCh, insbesondere durch Art. 16 GRCh
  • a. Schutzbereich
  • b. Eingriff durch Durchbrechung der Neutralität
  • IV. Vorgaben des AEUV als primärrechtliche Kodifizierung der äußeren Neutralität
  • 1. Das Diskriminierungsverbot aus Art. 110 AEUV
  • a. Anwendungsbereich und Gewährleistungsgehalt
  • b. Diskriminierung durch Durchbrechung der äußeren Neutralität
  • 2. Die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV
  • a. Anwendungsbereich und Gewährleistungsgehalt
  • b. Eingriff durch Durchbrechung der äußeren Neutralität
  • 3. Das Beihilfeverbot aus Art. 107 AEUV
  • V. Fazit
  • Kapitel 3: Der Umgang mit Neutralitätsverletzungen
  • A. Die Rechtsprechung des EuGH
  • I. Qualifizierung des Neutralitätsgrundsatzes durch den EuGH
  • 1. Rang von rechtlichen Grundsätzen allgemein
  • a. Allgemeine Rechtsgrundsätze
  • b. Sonstige Grundsätze
  • 2. Die Einordnung des Grundsatzes der Neutralität
  • a. Prüfung von Sekundärrecht am Neutralitätsgrundsatz
  • aa. Die Neutralität bei Ausgangsumsätzen
  • bb. Die Neutralität bei Eingangsumsätzen
  • b. Prüfung nationaler Umsetzungsakte am Neutralitätsgrundsatz
  • II. Dogmatisch gebotener Umgang mit Neutralitätsverletzungen
  • 1. Die Neutralität als Ausprägung des Gleichheitssatzes
  • 2. Die Neutralität als Ausprägung der Freiheitsgrundrechte
  • 3. Die äußere Neutralität
  • 4. Prüfungsschema
  • B. Die Rechtsprechung der deutschen Finanzgerichte
  • I. Der Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Umsatzsteuerrecht
  • 1. Unionsrechtskonforme Auslegung
  • 2. Unmittelbare Wirkung und Anwendbarkeit
  • 3. Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (Art. 267 AEUV)
  • II. Die Neutralität in der Rechtsprechung der nationalen Finanzgerichte, insbesondere des BFH
  • 1. Neutralität bei Eingangsumsätzen
  • a. Der erfolglose Unternehmer
  • b. Der Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug
  • c. Verzinsung von Umsatzsteuernachforderungen
  • 2. Neutralität in Bezug auf Ausgangsumsätze
  • a. Steuerbefreiungen und -ermäßigungen
  • b. Der Umgang des BFH mit Neutralitätsverletzungen durch nationale Vorschriften
  • III. Dogmatisch gebotener Umgang mit Neutralitätsverletzungen
  • 1. Prüfung von Richtlinienbestimmungen am Neutralitätsgrundsatz
  • 2. Prüfung von Vorschriften des UStG am Neutralitätsgrundsatz
  • a. Vorlage an den EuGH
  • b. Die Rolle des BVerfG
  • aa. Nationale Vorschrift beruht auf zwingenden Richtlinienvorgaben.
  • bb. Nationale Vorschrift füllt Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers.
  • (1) Gestaltungsspielraum?
  • (2) Verhältnis der Vorlage an das BVerfG zur Vorabentscheidung des EuGH?
  • (3) Prüfung von Neutralitätsverletzungen am Maßstab der nationalen Grundrechte
  • Kapitel 4: Schlussthesen
  • Literaturverzeichnis

| XIX →

Abkürzungsverzeichnis

| 1 →

Einleitung

A. Rechtfertigung des Themas

Die Umsatzsteuer ist längst nicht mehr eine rein national geregelte Steuer. Zwar entspringt das für die deutsche Umsatzbesteuerung maßgebliche Umsatzsteuergesetz (UStG) auf den ersten Blick der Feder des nationalen Gesetzgebers. Auf den zweiten Blick ist es jedoch unverkennbar, dass das UStG weitgehend auf Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL)1 beruht. Dadurch wird das Umsatzsteuerrecht zu einem äußerst spannenden Rechtsgebiet: Tatsächlich sind bei kaum einer anderen Steuer nationales und europäisches Recht so eng miteinander verzahnt wie bei der Umsatzsteuer.

Dabei ist die Umsatzsteuer mit 148 315 Mio. Euro Aufkommen (Wert aus 20132) knapp nach der Lohnsteuer die Steuerart mit der zweitgrößten wirtschaftlichen Bedeutung für die nationalen Haushalte. Egal ob Hartz-IV-Empfänger oder Millionär: Die Umsatzsteuer wirkt sich als Preisbestandteil jedweden Umsatzes unmittelbar auf das Portemonnaie eines jeden aus, der in Deutschland seine alltäglichen Besorgungen macht. Zwar bleibt ein Unternehmer in der Regel von einer Belastung verschont: Die gezahlte Umsatzsteuer erhält er als Vorsteuer zurück; und für die von ihm in Rechnung gestellte Steuer sieht das Gesetz eine Abwälzung auf den Verbraucher vor. Misslingt dem Unternehmer aber eine solche Abwälzung im Preis seiner angebotenen Güter, droht auch ihm eine Belastung mit Umsatzsteuer. Das Thema der Umsatzsteuer berührt also die Interessen des Staates, des Verbrauchers sowie des Unternehmers.

Kaum ein anderes Schlagwort findet in die umsatzsteuerliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) so häufig Eingang wie der „Grundsatz der steuerlichen Neutralität“.3 Dieser gehört damit zweifelsfrei zu den wichtigsten „Grundprinzipien“4 des europäischen Umsatzsteuerrechts. Der EuGH entwickelte den Grundsatz der Neutralität in zwei Ausprägungen: Zum einen als Gebot, den Unternehmer vollständig von der ihm in Rechnung gestellten Vorsteuer zu entlasten (vgl. Art. 168 MwStSystRL bzw. § 15 Abs. 1 UStG); die Umsatzsteuer soll also für ← 1 | 2 → dessen Belastung neutral bleiben. Zum anderen als Gebot, gleichartige Umsätze in gleichem Maße mit Umsatzsteuer zu belasten; demnach soll sich die Steuer auf die Wettbewerbschancen des Unternehmers neutral auswirken. Daraus lässt sich bereits die Komplexität der rechtlichen Grundlagen der Neutralität erahnen: Die erste Ausprägung wird man unvermeidlich mit dem in der MwStSystRL verankerten Vorsteuerabzugsrecht in Verbindung bringen. Dagegen erweckt die zweite Ausprägung Assoziationen mit dem Gleichheitssatz; tatsächlich sieht auch der EuGH diese als „Ausdruck“ des Gleichbehandlungsgrundsatzes.5

Indes taucht der Begriff der Neutralität im Kontext der Umsatzsteuer schon weit vor dessen Etablierung als Besteuerungsprinzip durch den EuGH auf: So war maßgebliches Motiv für den Systemwechsel hin zu einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug die Gewährleistung von „Wettbewerbsneutralität“, nachdem sich das System einer Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer dafür als ungeeignet erwiesen hatte.6 Der Neutralitätsgedanke prägt also auch die Geschichte des europäischen Umsatzsteuerrechts.

Die große Bedeutung des Neutralitätsgrundsatzes rechtfertigt es, sich mit diesem detailliert auseinanderzusetzen. Einen umfassenden Zugang zu Inhalt und Reichweite des Grundsatzes vermag dabei nur eine ausführliche Rechtsprechungsanalyse zu eröffnen. Diese kann als Ausgangspunkt dienen, eine systematische Herleitung der Neutralität zum einen aus dem Sekundärrecht, zum anderen aber auch aus dem Primärrecht – insbesondere den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta7 – zu versuchen. Der EuGH hält sich in dieser Frage entweder bedeckt oder reduziert seinen Blick auf die Grundrechte des Unternehmers.8 Dadurch drohen die schützenswerten Belange des Verbrauchers aus den Augen verloren zu werden, obwohl dieser gerade zum Tragen der Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer bestimmt ist. Letztlich ist es auch für einen überzeugenden Umgang mit Verletzungen des Neutralitätsgrundsatzes unabdingbar zu klären, aus welchen und aus wessen Rechten sich dieser Grundsatz tatsächlich ableitet. Der EuGH lässt bei seinen Schlussfolgerungen diesbezüglich dogmatische Stringenz vermissen: Die Neutralität sei zwar Ausprägung des Gleichheitssatzes, aber „keine Regel des Primärrechts“9 und deshalb nicht in der Lage, die Wirksamkeit von Bestimmungen der MwStSystRL in Frage zu stellen. Warum die grundsätzlich allseits verlässliche Regel „Der Ober sticht den Unter“ hier nicht gelten soll, wird aus den Ausführungen des EuGH jedenfalls nicht unmittelbar ersichtlich.

Die Darstellung soll dabei stets nicht nur die europäische, sondern auch die nationale Dimension des Umsatzsteuerrechts in den Blick nehmen. Die steigende Zahl der Vorlagen des Bundesfinanzhofs (BFH) an den EuGH und die umgekehrt ← 2 | 3 → immer selteneren Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Bereich der Umsatzsteuer lassen mögliche Einflüsse der nationalen Grundrechte schnell in den Hintergrund geraten. Tatsächlich ist die Frage des Geltungsbereichs der nationalen Grundrechte einerseits und des der Europäischen Grundrechtecharta andererseits seit deren Inkrafttreten ein heiß diskutiertes Problem nicht nur in der Literatur, sondern insbesondere auch in der Rechtsprechung des EuGH und des BVerfG. Zuletzt wurde diese Diskussion durch die Åkerberg-Fransson-Entscheidung des EuGH belebt.10 Nach der Klärung dieser Vorfrage soll deshalb die Geltung der Neutralität als Besteuerungsprinzip auch auf die nationale Ebene projiziert werden. Dies wiederum bietet Anlass, auch die Rechtsprechung der nationalen Finanzgerichte und des BVerfG in diesem Bereich kritisch zu hinterfragen.

Das Prinzip der Neutralität hält also noch viele offene Fragen bereit: Welche inhaltliche Reichweite schreibt der EuGH dem Grundsatz zu? Wo nimmt die Neutralität bei systematischer Betrachtung ihren Ursprung? Welcher ist der dogmatisch überzeugende Maßstab für den Umgang mit Neutralitätsverletzungen und welchem Gericht – EuGH oder BVerfG – gebührt es, darüber zu entscheiden? Daher ist eine rechtliche Untersuchung des Grundsatzes der Neutralität der Umsatzsteuer sowohl für den Rechtsanwender als auch für die europäische Umsatzsteuerrechtslehre unter verschiedenen Gesichtspunkten von Bedeutung.

B. Gang der Darstellung

Die Dissertation verfolgt das Ziel, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Umsatzsteuerrecht einer eingehenden rechtlichen Untersuchung zu unterziehen.

Die Arbeit beginnt mit einer Darstellung der allgemeinen Grundlagen des europäischen Umsatzsteuerrechts. Nach einem kurzen Aufriss der Entwicklung des Systems hin zu einer wettbewerbsneutralen Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug (Kapitel 1 A) wird die Umsatzsteuer anhand ihrer Prinzipien charakterisiert (Kapitel 1 B). Dies soll den Ausgangspunkt für das Verständnis des Neutralitätsprinzips, seiner Reichweite und seiner Stellung im Umsatzsteuersystem schaffen. Sodann werden die vom EuGH entwickelten Gebote des Neutralitätsgrundsatzes mittels einer detaillierten Rechtsprechungsanalyse dargestellt (Kapitel 2 A) und anschließend systematisch ihren Rechtsgrundlagen zugeordnet (Kapitel 2 B). Gleichsam als Schlussfolgerung kann dann der gebotene Umgang mit Neutralitätsverletzungen aufgezeigt werden (Kapitel 3 A). Schließlich analysiert die Arbeit das Ist und das Soll der Rolle nationaler Gerichte im Umgang mit neutralitätswidrigen Vorschriften (Kapitel 3 B).

Die Darstellung schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen (Kapitel 4).

1 Richtlinie des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (2006/112/EG), ABl. 2006 L 347, S. 1. Diese löste die Sechste Richtlinie des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG), ABl. 1977 L 145, S. 1 ab.

2 Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, Fachserie 14, Reihe 4, Finanzen und Steuern, Steuerhaushalt 2013, S. 10.

3 So erzielte eine Recherche in der BeckRS-Datenbank am 26.1.2015 unter dem Schlagwort „Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Mehrwertsteuer“ 258 Treffer in der Rechtsprechung des EuGH.

4 So etwa die Bezeichnung in EuGH v. 24.10.1996, Rs. C-317/94 (Elida Gibbs), Rn. 20; v. 19.9.2000, Rs. C-454/98 (Schmeink & Cofreth u. Strobel), Rn. 59.

5 Vgl. hier nur EuGH v. 10.4.2008, Rs. C-309/06 (Marks & Spencer), Rn. 49.

Details

Seiten
XXII, 316
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059236
ISBN (ePUB)
9783653958195
ISBN (MOBI)
9783653958188
ISBN (Hardcover)
9783631667996
DOI
10.3726/978-3-653-05923-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Umsatzsteuerrecht Europäisches Mehrwertsteuerrecht Wettbewerbsneutralität Leistungsfähigkeitsprinzip in der Umsatzsteuer
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XXII, 316 S., 316 Graf.

Biographische Angaben

Cornelia Zirkl (Autor:in)

Cornelia Zirkl studierte Rechtswissenschaft an der Universität Passau. Dort promovierte sie während ihrer Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Steuerrecht. Derzeit ist sie Rechtsreferendarin im Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg.

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