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Anwendungsbereich und ordre public-Vorbehalt des Haager Zustellungsübereinkommens

von Anja Costas-Pörksen (Autor:in)
©2016 Dissertation 278 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin beantwortet die in der Praxis relevantesten und umstrittensten Fragestellungen bei der Anwendung des Haager Zustellungsübereinkommens. Sie definiert die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Übereinkommens und leistet eine grundlegende Analyse des ordre public-Vorbehaltes in Art. 13 Abs. 1 HZÜ. Die Ergebnisse wendet sie auf Praxisfälle an, vor allem im Rechtsverkehr mit den USA. Methodisch zeichnet sich die Untersuchung durch den verfassungs- und völkerrechtlichen Blick auf die Leistung internationaler Rechtshilfe sowie durch umfassende Vergleiche mit anderen nationalen Rechtsordnungen, Rechtshilfeübereinkommen im Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht und Regelungen des Internationalen Zivilverfahrensrechts aus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung
  • A. Einführung
  • I. Das Haager Zustellungsübereinkommen
  • 1. Kurzer Überblick über Struktur und Inhalte des HZÜ
  • 2. Rang und Bedeutung des HZÜ
  • II. Haager Übereinkommen über den Zivilprozess von 1905 und 1954
  • B. Anwendungsbereich des HZÜ
  • I. Begriff der Zustellung
  • II. Voraussetzung der Auslandszustellung
  • 1. Zwingender Charakter des Übereinkommens
  • a. Ausländische Rechtspraxis
  • aa. Volkswagen AG v. Schlunk – USA
  • aaa. Entscheidung der US-Gerichte
  • bbb. Amicus Curiae Briefe anderer HZÜ Vertragsstaaten
  • bb. Niederlande
  • cc. Schweiz
  • b. Ansicht des EuGH
  • c. Deutsche Rechtspraxis
  • d. Ergebnis
  • 2. Unstreitige Exklusivität des HZÜ
  • 3. Ergebnis
  • III. Gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke
  • 1. Gerichtliche Schriftstücke
  • 2. Außergerichtliche Schriftstücke
  • IV. Begriff der Zivil- und Handelssachen
  • 1. Auslegungsmethode
  • a. Recht des ersuchenden Staates
  • b. Recht des ersuchten Staates
  • c. Kumulative Qualifikation
  • d. Vergleich mit der Qualifikationsmethode im HBÜ
  • e. Staatsvertraglich-autonome Auslegung
  • f. Orientierung an der Auslegungsmethodik des EuGH
  • g. Ergebnis
  • 2. Definition der Zivil- und Handelssache nach staatsvertraglich-autonomer Qualifikation
  • a. Qualifikation anhand des Schwerpunktes der verfolgten Interessen
  • b. Subordinationstheorie
  • c. Kriterium der Verhältnismäßigkeit der Schadenszahlung
  • d. Ergebnis
  • 3. Fallgruppen
  • a. Zustellungen an Staaten
  • aa. Vertragsstaatenpraxis
  • bb. Acta iure imperii und acta iure gestionis
  • cc. Ergebnis
  • b. Zustellungen an ein Organ eines Staates
  • c. Zustellungen von antisuit injunctions
  • aa. Rechtsinstrument der antisuit injunction
  • bb. Einordnung als Zivil- und Handelssache
  • d. Zustellung von punitive damages-Klagen
  • aa. Grundsätzliche Einordnung von punitive damages als Zivil- und Handelssachen
  • bb. Split-recovery Statutes
  • cc. Stellungnahme
  • e. Zustellung von treble damages-Klagen
  • aa. Grundsätzliche Einordnung von treble damages
  • bb. Parens patriae Klagen
  • f. Civil penalty
  • g. Einige Besonderheiten des US-amerikanischen Zivilverfahrensrechts, insbesondere class action, pre-trial discovery und American Rule of cost
  • h. Zustellung von Klagen aufgrund des Alien Tort Claims Act
  • 4. Alternative Zustellungen
  • V. Ergebnis
  • C. Zustellung als Hoheitsakt
  • I. Völkerrechtliche Definition eines Hoheitsaktes
  • II. Zustellung nach dem HZÜ
  • III. Kritik an der Definition der Zustellung als Hoheitsakt
  • IV. Rechtsvorgaben für die Anwendung des HZÜ in Deutschland
  • 1. Rechtslage für die Erledigung von Zustellungsersuchen nach dem HZÜ in Deutschland
  • 2. Ergebnis
  • D. Rechtsnatur des Vorbehaltes in Art. 13 I HZÜ
  • I. Art. 13 I HZÜ als ordre public-Vorbehalt
  • 1. Wortlaut des Art. 13 I HZÜ
  • a. Vergleich des englischen und französischen Vertragstextes mit der deutschen Übersetzung
  • aa. Hoheitsrechte
  • bb. Der Begriff der Gefährdung
  • cc. Erledigung des Zustellungsantrags
  • dd. Geeignet halten
  • ee. Rechtsfolge
  • ff. Ergebnis
  • b. Bedeutung der Begriffe Souveränität und Sicherheit
  • aa. Souveränität
  • aaa. Gebietshoheit
  • bbb. Justizhoheit
  • ccc. Personalhoheit
  • ddd. Politische Souveränität
  • bb. Begriff der Sicherheit
  • aaa. Sicherheit der Staaten
  • bbb. Sicherheit im deutschen Recht
  • ccc. Schutz von Individualrechten
  • ddd. Ergebnis zur Auslegung des Begriffs der Sicherheit
  • cc. Ergebnis zur Untersuchung der Begriffe Souveränität und Sicherheit
  • 2. Vergleich mit anderen Vorbehaltsklauseln
  • a. Vergleich mit Art. 12 HBÜ
  • aa. Auslegung des Art. 12 I lit. b HBÜ
  • aaa. Rechtspraxis in Deutschland
  • bbb. Rechtsprechung in anderen Staaten
  • ccc. Literatur
  • ddd. Ergebnis
  • bb. Wortlaut
  • cc. Entstehungsgeschichte
  • dd. Ergebnis
  • b. Vergleich mit Vorbehalten in anderen Haager Übereinkünften
  • c. Vergleich mit Vorbehalten des autonomen deutschen Rechts
  • aa. Rechtshilferechtliche Vorbehalte
  • bb. Andere Vorbehaltsklauseln im internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht
  • d. Inter-American Convention on Letters Rogatory
  • e. Bilaterale Übereinkommen
  • f. Vergleich mit Vorbehalten in Rechtshilfeverträgen in Straf- und Verwaltungssachen
  • aa. Übereinkommen des Europarates in Verwaltungssachen
  • bb. Deutsch-österreichisches Übereinkommen über Amts- und Rechtshilfe in Verwaltungssachen
  • cc. Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
  • dd. Abkommen der Europäischen Union und den USA über Rechtshilfe in Strafsachen
  • ee. Auswertung der Vergleiche
  • g. Ergebnis der Vergleiche mit anderen Übereinkommen
  • 3. Entstehungsgeschichte
  • a. Vorbehaltsklauseln in den Haager Rechtshilfeübereinkommen
  • aa. Beratungen in den Jahren 1893–1894
  • bb. Unterscheidung ordre public intern und ordre public international
  • cc. Beratungen zum Haager Übereinkommen über den Zivilprozess von 1905 und Ergänzungsvorschlag um „d’autres intérêts sociaux essentiels du pays“
  • dd. Haager Übereinkommen von 1954 und Beratungen zum Haager Zustellungsübereinkommen
  • b. Auswertung
  • c. Kritik an der Auslegung des Art. 13 I HZÜ als Vorbehalt des ordre public international anhand der Entstehungsgeschichte des Übereinkommens
  • aa. Interpretation der Entstehungsgeschichte mit dem Ergebnis eines internationalen ordre public-Vorbehaltes im völkerrechtlichen Sinne
  • bb. Stellungnahme
  • d. Ergebnis
  • 4. Systematik
  • a. Vergleich mit dem Verhältnis von § 328 I Nr. 1 ZPO zu § 328 I Nr. 4 ZPO
  • b. Verhältnis der Fallgruppen des Art. 13 II HZÜ zu Art. 13 I HZÜ
  • c. Genese des Art. 13 II HZÜ
  • d. Ergebnis
  • 5. Teleologische Auslegung
  • 6. Ergebnis
  • II. Prüfungsgegenstand im Rahmen des Art. 13 I HZÜ
  • 1. Das prognostische Element
  • a. Wortlaut des Art. 13 I HZÜ
  • b. Sinn und Zweck des Art. 13 I HZÜ
  • c. Vergleich mit Rechtshilfeentscheidungen in Strafsachen und Abschiebeentscheidungen
  • aa. Auslegung von § 73 IRG
  • bb. Vergleich mit verwaltungsrechtlichen Abschiebeentscheidungen
  • d. Ergebnis
  • 2. Abgrenzung zum anerkennungs- und vollstreckungsrechtlichen ordre public-Vorbehalt
  • 3. Ergebnis
  • III. Einschätzungsprärogative des ersuchten Staates oder vertragsautonome Auslegung
  • 1. Auslegung des Vorbehaltes nach dem Recht des ersuchten Staates
  • 2. Grenzen der Auslegungskompetenz des ersuchten Staates
  • 3. Einräumen eines Beurteilungs- und Ermessensspielraumes
  • 4. Auslegungskompetenz
  • 5. Ergebnis
  • IV. Ergebnis der Untersuchung der Rechtsnatur des Vorbehaltes in Art. 13 I HZÜ
  • E. Prüfungsmaßstab des Vorbehaltes in Art. 13 I HZÜ
  • I. Vorbehalt zum Schutz des internationalen ordre public oder des ordre public international
  • 1. Das Konzept des völkerrechtlichen internationalen ordre public
  • 2. Art. 13 I HZÜ als ordre public-Vorbehalt im Sinne des internationalen Privatrechts
  • a. Keine Folge aus der Anwendung des Art. 27 WVK
  • b. Historische Auslegung des Art. 13 I HZÜ
  • c. Grundrechtsbindung
  • d. Vorgaben der EMRK und des IntPbpR
  • 3. Ergebnis
  • II. Normen des Prüfungsmaßstabes
  • 1. Wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts
  • a. Anwendbarkeit der Grundrechte
  • aa. Völkergewohnheitsrechtliche Rechtfertigung der Anwendbarkeit der Grundrechte
  • bb. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Anwendbarkeit der Grundrechte
  • cc. Ergebnis
  • b. Unteilbarkeit des ordre public
  • aa. Differenzierung des Prüfungsinhaltes nach Verortung des ordre public-Vorbehaltes
  • bb. Inlandsbeziehung des Sachverhaltes
  • cc. Unterscheidung zwischen dem Prüfungsmaßstab des Art. 13 I HZÜ und dem des anerkennungsrechtlichen ordre public-Vorbehaltes
  • dd. Prüfungsmaßstab des Art. 13 I HZÜ im Vergleich zu Art. 6 EGBGB und Einfluss des Art. 40 III EGBGB
  • ee. Zwischenergebnis
  • c. Relativierung des Inlandsbezuges
  • 2. Internationale Menschenrechte
  • a. Europäische Menschenrechtskonvention
  • b. EU-Grundrechte
  • c. Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte
  • d. Zwischenergebnis
  • 3. Individualrechte
  • 4. Staatliche Interessen
  • a. Vergleich zu Art. 12 I lit. b HBÜ
  • b. Vergleich mit § 73 IRG
  • c. Vergleich mit Art. 2 lit. b des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
  • d. Stellungnahme
  • III. Ergebnis
  • F. Fallgruppen
  • I. Zustellung an einen Staat
  • 1. Verweigerungsgrund der Staatenimmunität
  • 2. Ergebnis
  • II. Zustellung an ein Organ des Staates
  • III. Staatsangehörigkeitsrecht
  • IV. Zustellung von antisuit injunctions
  • 1. Beachtung anderweitiger Rechtshängigkeit und Versagung der Anerkennung und Vollstreckung
  • 2. Rechtfertigung durch das Interesse am Funktionieren des Rechtshilfeverkehrs
  • 3. Justizgewähranspruch
  • 4. Kein Verstoß gegen die völkerrechtliche Souveränität
  • 5. Ergebnis
  • V. Zustellung eines First Request for Production of Documents
  • 1. Der First Request for Production of Documents im System der pre-trial discovery
  • 2. Anwendungsbereich des HZÜ oder des HBÜ
  • 3. Versagungsgründe nach Art. 13 I HZÜ
  • a. Pre-trial discovery
  • b. Unbeachtlichkeit des Widerspruchs nach Art. 23 HBÜ
  • 4. Ergebnis
  • VI. Zustellung einer US-amerikanischen Klage an in Deutschland ansässige Beklagte
  • 1. Klagen auf punitive damages
  • a. Anerkennung eines punitive damages Urteils in Deutschland
  • b. Vereinbarkeit mit dem ordre public-Vorbehalt nach Art. 13 I HZÜ
  • 2. Klage auf treble damages
  • 3. Class Action-Klagen
  • 4. Die American rule of costs
  • 5. Das Verfahren der pre-trial discovery
  • 6. Das System der Richterwahl
  • a. Anerkennungsrechtliche ordre public-Widrigkeit der Gerichtsverfahren vor gewählten Richtern
  • b. Beurteilungsmaßstab der ordre public-Prüfung
  • c. Stellungnahme
  • d. Ergebnis
  • 7. Јury Trial
  • 8. Ergebnis
  • VII. Zustellung einer rechtsmissbräuchlichen Klage
  • 1. Schutz vor unzulässiger Rechtsausübung kein Teil des ordre public
  • a. Zweifel an der Existenz eines allgemeinen verfassungsrechtlichen Rechtes „in Ruhe gelassen zu werden“ über Art. 13 GG hinaus
  • b. Behandlung einer rechtsmissbräuchlichen inländischen Klage in Deutschland
  • c. Verfassungsrechtlicher Schutz des Beklagten vor rechtsmissbräuchlichen ausländischen Klagen
  • aa. Justizgewähranspruch
  • bb. Der Grundsatz der Waffengleichheit
  • cc. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
  • d. Ergebnis
  • 2. Schlüssigkeitsprüfung
  • 3. Keine Prüfung der Rechtsmissbräuchlichkeit einer US-amerikanischen Klage
  • 4. Grundrechtsprüfung
  • a. Art. 14 I GG
  • b. Art. 12 I GG
  • aa. Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 I GG
  • bb. Schutzpflicht aus Art. 12 I GG
  • 5. Ergebnis
  • VIII. Zustellung einer Klage aufgrund des Alien Tort Claims Act
  • 1. Keine Völkerrechtswidrigkeit der Zuständigkeit der US-Gerichte nach dem ATCA
  • 2. Kein Verstoß gegen Justizgewähranspruch durch ATCA-Zuständigkeit
  • 3. Keine Zustellungsverweigerung nach Art. 13 I HZÜ
  • IX. Ergebnis
  • G. Fazit
  • H. Abkürzungsverzeichnis
  • I. Literaturverzeichnis

| 19 →

Einleitung

Riezler meint, dass das internationale Zustellungswesen, obwohl von größter praktischer Bedeutung für eine wissenschaftliche Betrachtung, wenig ergiebig sei.1

Das wissenschaftliche Interesse an einer Definition des Anwendungsbereichs und einer inhaltlichen Bestimmung des Vorbehaltes in Art. 13 I des Übereinkommens über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen vom 15. November 19652 wurde gerade durch die große praktische Bedeutung des Übereinkommens geweckt. Insbesondere seit dem vielbeachteten Verfahren gegen die Bertelsmann AG, in dem das Unternehmen aufgrund seiner Beteiligung an der Internettauschbörse Napster auf 17 Milliarden US-Dollar Schadensersatz vor US-amerikanischen Gerichten verklagt wurde, entstand eine große Neugier in Bezug auf die rechtlichen Grundlagen der internationalen Rechtshilfe. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine einstweilige Anordnung gegen die Zustellung an die Bertelsmann AG nach dem HZÜ erlassen und diese alle sechs Monate verlängert, bis das Unternehmen selbst die Klage zurückgezogen hat. Das Verfahren in den USA endete mit Vergleichen bzw. der Klagerücknahme durch die Universal Music Group.3

Konfliktfälle hinsichtlich der Eröffnung des Anwendungsbereichs des HZÜ sowie der Auslegung des Vorbehaltes des Art. 13 I HZÜ treten regelmäßig in der deutschen Gerichtspraxis auf. Wann gemäß Art. 1 I HZÜ auf eine Zivil- oder Handelssache, in der ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück zum Zweck der Zustellung in das Ausland zu übermitteln ist, das Übereinkommen Anwendung findet und wann gemäß Art. 13 I HZÜ die Erledigung eines Zustellungsantrags abgelehnt werden kann, wenn der ersuchte Staat sie für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden, ist fraglich. Für die Lösung dieser Fälle fehlt es an einer umfassenden Analyse und klaren Definition als allgemeine Grundlage für die Anwendung des HZÜ. In der Literatur wird in Bezug auf Art. 13 I HZÜ bemerkt, dass bisher niemand bestimmen konnte und kann, wann die Durchführung eines ausländischen Zustellungsersuchens die Hoheitsrechte und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.4

Hinsichtlich der Zustellungshilfe besteht zum Teil auch in Deutschland folgender Eindruck: „Die Rechtshilfe erscheint zuweilen als ein trojanisches Pferd, mit dem Unzulänglichkeiten ausländischer Rechtssysteme in die Schweiz importiert werden. ← 19 | 20 → Das schweizerische Verfahren wird im Resultat dann von diesen Unzulänglichkeiten kontaminiert.“5

Diesen Bildern liegt im Zusammenhang mit der internationalen Zustellungshilfe die Befürchtung zu Grunde, dass durch die Erledigung des Zustellungsersuchens inländische Personen Beklagte eines ausländischen Rechtsstreits werden, in dem Rechtsansprüche durchgesetzt werden, die der inländischen Rechtsordnung fremd und mit ihr unvereinbar sind. Zudem wird schon der Ablauf des ausländischen Zivilverfahrens mit seinen andersartigen Prozessrechtselementen als „unzulänglich“ empfunden. Die Unzulänglichkeit der materiell- und prozessrechtlichen Besonderheiten der ausländischen Rechtsysteme soll sich aus dem Vergleich mit dem inländischen Recht und insbesondere seinen rechtsstaatlichen Grundsätzen ergeben. Durch die Erledigung des Zustellungsersuchens entfalten diese ausländischen „Unzulänglichkeiten“ Wirkung im Inland. Jedoch ist bei aller Angst vor „Kontaminierung“ zu berücksichtigen, dass eine Auslandszustellung grundsätzlich aus dem Grund erfolgt, das Recht auf rechtliches Gehör des im Ausland ansässigen Beklagten zu wahren.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist – um mit den benutzten Bildern zu sprechen – die genaue Untersuchung des trojanischen Pferdes in Form des Zustellungsersuchens nach dem HZÜ und die Bestimmung des Grades der Kontaminierung, die zu einer Verweigerung der Erledigung des Ersuchens nach Art. 13 I HZÜ führt. Im Rahmen der Untersuchung wird die Frage beantwortet, ob eine solche „Kontaminierung“ im Sinne der Unvereinbarkeit mit der inländischen Rechtsordnung anhand der praxisrelevanten Fallgruppen, die zu den beschriebenen Befürchtungen geführt haben, überhaupt erfolgt.

Jenseits der erwähnten Bilder sprechend ist es das Ziel der Arbeit, unabhängig von konkreten Anwendungsbeispielen zum einen die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des HZÜ zu definieren und zum anderen eine umfassende Untersuchung des Vorbehaltes in Art. 13 I HZÜ zu erstellen. Auf der erarbeiteten abstrakten Grundlage erfolgt die Anwendung auf in der Praxis relevante Fälle. Diese spielen sich zumeist im Rechtsverkehr mit den USA ab.

Die aufgeworfenen Fragen werden in sechs Kapiteln beantwortet. Nach der Einführung in das HZÜ und sein Vorgängerübereinkommen (A.) wird der Anwendungsbereich des Übereinkommens bestimmt (B.). Dabei bildet die Definition der Zivil- und Handelssache einen besonderen Schwerpunkt. Danach wird Stellung genommen zur Einordnung der Zustellung als Hoheitsakt (C.). Herzstück der Arbeit bildet Teil D, in dem untersucht wird, ob es sich bei Art. 13 I HZÜ um einen ordre public-Vorbehalt handelt. Ebenso wird bestimmt, was genau Gegenstand der Prüfung des Vorbehaltes ist und ob bei dieser Prüfung dem ersuchten Staat eine Einschätzungsprärogative zusteht. Unter E. wird untersucht, welcher Prüfungsmaßstab bei der Prüfung des Art. 13 I HZÜ anzulegen ist und welche Normen Gegenstand des Maßstabes sind. Schließlich erfolgt die Anwendung des Vorbehaltes in Art. 13 I HZÜ auf verschiedene praxisrelevante Fallbeispiele (F.). ← 20 | 21 →

Dieser umfassende Gang der Untersuchung und die vielfältigen Fragestellungen, die sich für die Definition des Anwendungsbereich und Art. 13 I HZÜ ergeben, zeigen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zustellungshilfe durchaus ergiebig ist. Dabei wird deutlich werden, dass das internationale Zivilverfahrensrecht in zweierlei Hinsicht nicht als isolierte Rechtsmaterie zu betrachten ist. Zum einen ist der verfassungsrechtliche sowie völkerrechtliche Blick auf die Leistung internationaler Rechtshilfe maßgebend für die rechtlichen Parameter des Möglichen und Nötigen. Dieser spezielle Blickwinkel fehlt oft oder bleibt zu oberflächlich in Untersuchungen zur internationalen Rechtshilfe. Aufgrund der zum Teil identischen verfassungs- und völkerrechtlichen Grundlagen bietet sich ein punktueller Vergleich mit der internationalen Rechtshilfe in Straf- und Verwaltungssachen an. Zum anderen ist zwar Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit die Anwendung des HZÜ im internationalen Rechtshilfeverkehr aus der Sicht Deutschlands, aber aufgrund der Rechtsnatur als multilaterales Übereinkommen sowie der Internationalität der Rechtsmaterie ist eine rechtsvergleichende Betrachtung zwingend.

Zum Teil wird die praktische Relevanz des HZÜ bestritten, da es auf eine ordnungsgemäße Zustellung nach dem HZÜ in Deutschland für das ausländische Erkenntnisverfahren nicht ankäme.6 Eine Zustellung an den in Deutschland ansässigen Beklagten könne im Ausland im Wege der fiktiven Inlandszustellung bewirkt werden, die auch im Rahmen der Beurteilung der Anerkennung und Vollstreckung eines späteren Urteils im Rahmen des § 328 I Nr. 2 ZPO standhalten würde.7 Zum Beispiel begründete die Bertelsmann AG die Rücknahme ihrer Verfassungsbeschwerde damit, dass auch eine Verweigerung der Zustellung im Hauptsacheverfahren keinen Einfluss auf das Verfahren in den USA haben würde.8 Die Zustellung war bereits an ein Vorstandsmitglied des beklagten Unternehmens persönlich bewirkt worden, und zwar während dessen Aufenthaltes in den USA.9

Dagegen wird zu Recht (etwas pathetisch) eingewandt, dass ebenso wenig wie sich ein Gehilfe im Strafrecht darauf berufen kann, dass die inkriminierte Tat im Ergebnis auch ohne seinen Beitrag ausgeführt worden wäre, dem an die Verfassung gebundenen Staat die Berufung darauf gestattet sein kann, dass eine Verletzung der berechtigten Belange des Bürgers im Ergebnis auch ohne staatliche Beteiligung nicht zu vermeiden gewesen wäre.10 Wenn es dem Staat schon nicht ← 21 | 22 → möglich ist, seine Bürger im Ausland vor Angriffen zu bewahren, die allen überkommenen Maßstäben angemessener Verfahrensgestaltung widersprechen, dann darf der Bürger wenigstens erfahren, dass sein eigener Staat hierzu nicht auch noch die Hand reicht.11 Ob – wie oft behauptet – tatsächlich derart rechtsstaatswidrige Verfahrensvoraussetzungen im US-amerikanischen Zivilprozess vorliegen, bleibt zu untersuchen (F.).

Zudem wird für (vermeintlich) rechtsmissbräuchliche Klagen, deren Ziel die Erzwingung eines Vergleiches ist, bemerkt, dass die Verweigerung der Zustellung nach dem HZÜ häufig de facto als die letzte Chance angesehen werden kann, den deutschen Beklagten vor genau diesem erpresserischen Mechanismus zu bewahren.12

Es gibt auch Beispiele, in denen sich die Verweigerung der Zustellung der ersuchten deutschen Behörden auf das US-amerikanische Verfahren nachhaltig ausgewirkt hat. Im Fall Bauman v. Daimler Chrysler verneinte das angerufene kalifornische Gericht seine Zuständigkeit aufgrund der Souveränitätsbedenken, die Deutschland im Rahmen des Art. 13 HZÜ bei einer Zustellung an Daimler Chrysler in Deutschland äußern könnte.13

Auch der Fall Morrison v. National Australia Bank Ltd.14, in dem es um die extraterritoriale Rechtsanwendung von US-amerikanischen Gesetzen geht, zeigt, dass der Berücksichtigung ausländischer Rechtsinteressen zunehmend mehr Bedeutung in den USA beigemessen wird.15 Als Argument für die Beschränkung der Anwendung US-amerikanischen Rechts auf extraterritoriale Sachverhalte weist die Mehrheitsmeinung des Supreme Court auf den Effekt einer solchen Anwendung im Ausland hin. Die Wahrscheinlichkeit für die Unvereinbarkeit mit dem anzuwendenden Recht anderer Länder sei so eindeutig, dass der Kongress, wenn er die extraterritoriale Anwendung beabsichtigt hätte, die Konflikte mit ausländischen Rechtsordnungen und Verfahren benannt hätte.16

Aufgrund der völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen, die der Erledigung von Rechtshilfeersuchen Schranken aufweisen, sowie der Tatsache, dass zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass die US-amerikanischen Gerichte Rücksicht auf die deutschen Rechtsansichten nehmen, ist die Untersuchung der Eröffnung des Anwendungsbereichs des HZÜ sowie der Auslegung von Art. 13 I HZÜ von praktischer Relevanz für den Rechtshilfeverkehr.


1 Vollkommer, ZZP 80 (1967), 248 (263); Riezler, S. 683.

2 Amtliche Übersetzung des englischen Originaltitels „Hague Convention on the Service Abroad of Judicial and Extrajudicial Documents in Civil and Commercial Matters“ aus BGBl. II 1977, S. 1453; im Folgenden: HZÜ.

3 von Hein, RIW 2007, 249 (250); UMG Recordings, Inc. v. Bertelsmann AG, 222 F.R.D. 408 (N.D. Cal. 2004).

4 Geimer, IZPR, Rn 254b.

5 Peter, in: Aktuelle Fragen der internationalen Amts- und Rechtshilfe, S. 189 (207).

6 Juenger/Reimann, NJW 1994, 3274; Stadler, JZ 1995, 718; Zekoll, NJW 2003, 2885 (2887).

7 Juenger/Reimann, NJW 1994, 3274; Stadler, JZ 1995, 718; Zekoll, NJW 2003, 2885 (2887); siehe zu Zustellungsmöglichkeiten nach US-Recht Hopt/Kulms/von Hein, S. 101–122; Bezüglich der Wirksamkeit einer fiktiven Inlandszustellung kommt es darauf an, ob es sich nach dem Recht des Forumstaats oder nach dem HZÜ richtet, ob eine Auslandszustellung zu erfolgen hat oder nicht. Diese Frage wird unter B.II. geklärt.

8 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.2005, Nr. 264, S. 14.

9 Hess, AG 2006, 809 (815); Schack, AG 2006, 823 (824).

10 Braun, ZIP 2003, 2225 (2229).

11 Braun, ZIP 2003, 2225 (2229).

12 Stadler, JZ 2007, 1047 (1049).

13 Bauman v. Daimler Chrysler AG, 2005 WL 3157472 (N.D. Cal. 2005); ausführlich hierzu Hess, AG 2006, 809 (816).

14 130 S. Ct. 2869 (2010); siehe Besprechung Lehmann, RIW 2010, 841 ff.

15 Siehe auch die Ausführungen des Supreme Court im Fall Daimler AG v. Bauman, 134 S. Ct. 746 (2014) zu Risiken für die international comity durch weitreichende Zuständigkeiten der US-amerikanischen Gerichte.

16 Morrison v. National Australia Bank Ltd., 130 S. Ct. 2869 (2885) (2010).

| 23 →

A. Einführung

Die 1893 ins Leben gerufene Hague Conference on private international law17 ist eine intergouvernementale Organisation, die mehr als 60 Mitgliedsstaaten umfasst. Seitdem hat sie mehr als 40 Übereinkommen in den Bereichen des internationalen Zivilverfahrens-, Wirtschafts- und Familienrechts ausgearbeitet. Die Organisation versteht sich als Schmelztiegel der verschiedenen Rechtstraditionen, dessen höchstes Ziel die Schaffung einer Welt ist, in der trotz der Unterschiede zwischen den Rechtssystemen natürliche und juristische Personen einen hohen Grad an Rechtssicherheit genießen können.18

I. Das Haager Zustellungsübereinkommen

Das HZÜ wurde am 15. November 1965 verabschiedet. Heute regelt das Übereinkommen den Rechtsverkehr zwischen 52 Staaten.19 Die Konvention regelt den Übermittlungsweg gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke, die im Ausland zugestellt werden sollen. In der Präambel des Übereinkommens heißt es, dass die Unterzeichnerstaaten dieses Übereinkommens –

in dem Wunsch, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern rechtzeitig zur Kenntnis gelangen,

in der Absicht, dafür die gegenseitige Rechtshilfe zu verbessern, indem das Verfahren vereinfacht und beschleunigt wird –

beschlossen haben, zu diesem Zweck ein Übereinkommen zu schließen.

1. Kurzer Überblick über Struktur und Inhalte des HZÜ

Grob vereinfacht dargestellt, regelt das HZÜ, dass jeder Vertragsstaat eine Zentrale Behörde bestimmt, die Anträge auf Zustellung von Schriftstücken aus einem anderen Vertragsstaat entgegennimmt.20 Bundesstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland steht es nach Art. 18 III HZÜ frei, mehrere Zentrale Behörden zu ernennen. In Deutschland sind gemäß § 1 Ausführungsgesetz21 sowie § 9 IV Rechtshilfeordnung ← 23 | 24 → in Zivilsachen22 die Landesjustizverwaltungen die Zentralen Behörden. Der Antrag auf Zustellung muss nach einem bestimmten Muster, das dem Übereinkommen als Anlage anhängt, erfolgen und dem Antrag wird das zuzustellende Schriftstück oder eine Abschrift davon beigefügt. Die Zustellung wird von der Zentralen Behörde des ersuchten Staates nach dem Recht des ersuchten Staates oder in einer von der ersuchenden Stelle gewünschten Form bewirkt oder veranlasst, wenn diese mit dem Recht des ersuchten Staates vereinbar ist. Die Behörden des ersuchten Staates stellen ein Zustellungszeugnis entsprechend einem dem Übereinkommen als Anlage beigefügten Muster aus.

Details

Seiten
278
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653059885
ISBN (ePUB)
9783653950892
ISBN (MOBI)
9783653950885
ISBN (Hardcover)
9783631666418
DOI
10.3726/978-3-653-05988-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Völkerrecht rechtsmissbräuchliche Klagen Rechtshilfe
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 278 S.

Biographische Angaben

Anja Costas-Pörksen (Autor:in)

Anja Costas-Pörksen studierte Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin, wo sie anschließend am Institut für Internationales Privat-, Zivilverfahrensrecht und Rechtsvergleichung tätig war. Sie arbeitet als Syndika in Berlin.

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Titel: Anwendungsbereich und ordre public-Vorbehalt des Haager Zustellungsübereinkommens
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