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Literaturlinguistik – philologische Brückenschläge

von Jochen A. Bär (Band-Herausgeber:in) Jana-Katharina Mende (Band-Herausgeber:in) Pamela Steen (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 401 Seiten
Reihe: LITTERA, Band 6

Zusammenfassung

Der Sammelband verbindet die seit Jahrzehnten konzeptionell und teilweise auch institutionell getrennten Bereiche des Fachs Germanistik: Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft. In 17 Beiträgen werden unterschiedliche thematische Bereiche, Fragestellungen und methodische Ansätze beleuchtet. Textlinguistik, Gesprächsanalyse, Dialektologie, Diskurssemantik und Bildlinguistik werden mit literarischer Hermeneutik, Erzähltheorie, Motivanalyse und Vergleichender Literaturwissenschaft in Beziehung gesetzt. Daraus ergibt sich das Plädoyer für eine neue Philologie, in der die Erkenntnisse beider Teildisziplinen des Fachs Germanistik wechselseitig zur Kenntnis genommen und füreinander fruchtbar gemacht werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Literaturlinguistik – eine Einführung
  • Linguistik und Literaturwissenschaft im Dialog: Probleme und Perspektiven
  • Braucht die Germanistik eine germanistische Wende?
  • Philologie! Zwei Ergänzungen
  • Text und Erkenntnis
  • Faktizität als Schein. Peter Szondis Hermeneutik und die Korpuslinguistik
  • Fiktive Sprachen. Wie der Dialekt in die Literatur kommt – ein dialektologisch-literaturwissenschaftliches Lehr- und Forschungsprojekt
  • Pop, Klassik und das Allgemeingültige − Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Anwendung der Markiertheitstheorie
  • Literarische Wortverbundanalyse. Ein literaturlinguistischer Interpretationsansatz am Beispiel des Gewitter-Motivs in Thomas Manns „Tod in Venedig“
  • Die Pariser Vorlesungen Adam Mickiewiczs als Literatur oder Voraussetzungen für eine literaturlinguistische Diskurssemantik am Beispiel der Cours de langue et littérature slaves Svend F. Sager
  • Bildlinguistik und Comic Brückenschläge zwischen Linguistik, Literatur- und Bildwissenschaft
  • „Männliche (Maul-)Helden“ Archetypische Identitätskonstruktion in Alltagserzählungen
  • Temporale Perspektivierung und Vermittlung von fiktionalem und faktualem Sprechen
  • Emotionen in literarischen Texten: Eine sprachwissenschaftliche Analyse
  • Pragmatische Profile. Zur dialogischen Faktur des Fastnachtspiels von Salomon und Markolf des Hans Folz
  • Gespräche über den Tod. Reformatorische Sterbebüchlein als literaturlinguistischer Forschungsgegenstand
  • Semantische und narratologische Implikationen von ADEL und ADLIGKEIT in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart
  • Die Kinder- und Volks(?)märchen der Brüder Grimm. Märchen und nationale Identität in deutschsprachigen Diskursen des 19.�Jahrhunderts
  • Linguistische Kompetenz als Voraussetzung strukturaler Textanalyse zur Entschlüsselung komplexer literarischer Werke am Beispiel Herta Müller
  • Autorinnen und Autoren des Bandes
  • Register

Jochen A. Bär / Jana-Katharina Mende / Pamela Steen

Literaturlinguistik – eine Einführung

Die Einheit des Fachs Germanistik wurde de facto aufgegeben. Inhaltlich finden sich so wenig Berührungspunkte, dass Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft heute an vielen deutschen Universitäten bereits getrennte Institute darstellen. Historisch hängt dies zweifellos zusammen mit der Entwicklung herrschender Forschungsparadigmen. Immer wieder hört und liest man in diesem Zusammenhang, dass es der Linguistik insbesondere um das ‚Material‘ und die Strukturen der Sprache im Ganzen gehe, der Literaturwissenschaft um die Interpretation einzelner Texte, die als ‚Werke‘ verstanden werden und denen Unizität zugeschrieben wird. Mit Sprach- und Literaturwissenschaft stehen sich also zwei unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen gegenüber: eine, die auf „Gesetze, Formen und Strukturen“ (Busse/Teubert 1994, 12) ausgerichtet ist, und eine, die sich als „Analyse von konkreten Texten und ihren Bestandteilen“ versteht und der es „auch (wenngleich nicht nur) auf Inhalte ankommen kann“ (ebd.).

Die strukturalistische, auf systemorientierter Sprachbetrachtung basierende Linguistik der 1960er Jahre wollte – im Sinne von Ferdinand de Saussures Plädoyer für das Sprachsystem, die langue, und gegen die einzelne sprachliche Äußerung, die parole, als legitimen Forschungsgegenstand – eben dies: sich von einer als unzulänglich empfundenen philologischen Einzelfallbetrachtung abgrenzen. Es war die gezielte Abwendung von einer Philologie alten Stils, die seinerzeit vielen der damals jungen Wilden nicht nur wissenschaftlich überholt, sondern zudem, angesichts der Geschichte des Fachs Germanistik während des Nationalsozialismus, auch noch moralisch kompromittiert schien.

Im Zuge der linguistischen Emanzipation war die Abwendung von bisherigen Forschungsschwerpunkten, die teilweise förmliche Ächtung der einzeltextbezogenen Philologie (‚Parole-Philologie‘) durch die systembezogene Linguistik (‚Langue-Linguistik‘), vermutlich unerlässlich, die Separation daher vorprogrammiert. Wer als Sprachwissenschaftler oder Sprachwissenschaftlerin auf sich hielt, befasste sich, je nach gerade herrschender Mode, mit Strukturalismus, generativer Grammatik, Sozio- und Varietätenlinguistik. Als in den 1980er Jahren die neue Teildisziplin der Textlinguistik aufkam, war die Auseinanderentwicklung bereits so weit fortgeschritten, dass eine Wiederannäherung kaum möglich (und anscheinend auch kaum wünschenswert) schien. Obwohl es inhaltlich durchaus die Möglichkeit gegeben hätte, textlinguistische Beschreibungsmodelle auf lite ← 7 | 8 → rarische Texte anzuwenden und an ihnen zu exemplifizieren, hat die Linguistik literarische Texte als Gegenstände der Untersuchung doch insgesamt gemieden.

Auch die germanistische Literaturwissenschaft wandte sich im Rahmen ihrer „Innovation und Modernisierung“ (Bogdal/Müller 2005) von vorwiegend literaturhistorischen und werk- und autorzentrierten Fragestellungen ab, hin zu theoretisch neuen Problemstellungen. Durch die Bezugnahme auf soziologische Theoretiker wie Bourdieu oder Adorno entwickelte sich eine Sozialgeschichte der Literatur, die Rezeptionsästhetik fokussierte die Rolle der Leserschaft und die Medientheorie veränderte den Literaturbegriff nachhaltig. Strukturalistische Theorien wie Genettes Narratologie, Greimas’ Isotopien oder Kristevas Intertextualitätsverständnis brachten auf dieser Ebene literaturwissenschaftliche Konzepte mit linguistischen Denkansätzen zusammen – schließlich wurden diese Theorien vom Russischen Formalismus inspiriert, in dem Linguisten und Literaturwissenschaftler zusammenarbeiteten. Auch die Dekonstruktion Derridas ist ohne de Saussure nicht zu verstehen; sie prägte das Verständnis postmoderner Literatur. Allerdings erreichten diese (strukturalistischen) Theorien die Germanistik verspätet und wurden teilweise mit großer Skepsis behandelt (vgl. Lepper 2010, 360 f.).

Bis heute neigen germanistische Literaturwissenschaft und germanistische Linguistik dazu, die Fragestellungen und Beschreibungsansätze der jeweils anderen Seite zu ignorieren. Obwohl sie im Laufe der Jahrzehnte vielfach ähnliche Fragestellungen und auch ähnliche Methoden entwickelt haben, wissen sie wenig voneinander und zeigen wenig Interesse, daran etwas zu ändern. Für Peter Auer (2013, 16) sind „weder […] Literaturwissenschaftler daran interessiert (oder in der Lage), etwas über das Wesen von Sprache allgemein herauszufinden oder Einzelsprachen in ihrer Systematik zu beschreiben, noch können oder wollen Linguisten die spezifische Differenz literarischer Texte, das was sie zu Literatur macht, erfassen.“ Auf einer Tagung mit dem Titel „Linguistics and Literary Studies: Interfaces, Encounters, Transfers“, die 2009 von Peter Auer, Monika Fludernik und Werner Frick in Freiburg veranstaltet wurde, fand eine Diskussion statt zu der „Frage, ob sich Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts (noch) etwas zu sagen hätten“ (Jacob 2014, 3 f.). Diese Frage „wurde in der Mehrzahl der Fälle mit großer Skepsis beantwortet; ein Statement war, die Berührungen zwischen beiden Disziplinen seien primär institutioneller Natur“ (ebd., 4).

Dennoch hat es immer wieder einmal Vermittlungsversuche gegeben. In benachbarten Fächern wie der Romanistik (etwa bei Wilhelm Pötters) oder der Anglistik (etwa bei Walter A. Koch) gab es auf verschiedenen Ebenen Ansätze, linguistische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen zu verbinden. Im ← 8 | 9 → englischsprachigen Raum wurde mit der Poetics and Linguistics Association (PALA) eine Institution geschaffen, die sich mit „Literary linguistics“ befasst und daher ein ähnliches Anliegen verfolgt. In der Germanistik ist insbesondere die Gründung der Zeitschrift für Literatur und Linguistik (LiLi) 1970 zu nennen – in der ein echter Brückenschlag allerdings, wenn man Fix (2013) folgt, nicht geglückt ist. Immerhin: Sprachwissenschaftlicherseits haben einzelne Vertreterinnen und Vertreter der seit den 1980er Jahren etablierten Textlinguistik – beispielsweise Ulla Fix und Anne Betten – und der seit den 1990er Jahren sich ausprägenden linguistischen Hermeneutik – beispielsweise Fritz Hermanns – Offenheit für literaturwissenschaftliche Anliegen erkennen lassen. Auf literaturwissenschaftlicher Seite findet sich die Wahrnehmung der „Gegenseite“ beispielsweise bei Michael Andermatt (1996), der für Motivanalysen bei Achim von Arnim die textlinguistischen Arbeiten Teun van Dijks heranzieht, oder in den Arbeiten Ulrich Breuers zum Textbegriff. Einen Überblick über Berührungen von Sprach- und Literaturwissenschaft gibt Fludernik (2014).

Verschiedentlich wurde ein echter Austausch angeregt bzw. angemahnt (z. B. von Hoffmann/Keßler 2003; Hausendorf 2008; Fix 2013; Meibauer 2013; Fludernik/Jacob 2014). Dasselbe Anliegen hatte auch das vom 25. bis 27. Oktober 2013 von den Herausgeberinnen und dem Herausgeber des vorliegenden Bandes an der Universität Vechta veranstaltete Symposium „Literaturlinguistik – philologische Brückenschläge“. Primär ging es darum, Kolleginnen und Kollegen zusammenzubringen, die die Selbstgenügsamkeit der beiden Teilbereiche des Fachs als einengend und blickverstellend wahrnehmen und/oder die sich in die Trennung nicht fügen wollen, da sie ihren eigenen Forschungsinteressen entgegensteht. Das Empfinden trifft sich mit dem, das bei Jacob (2014, 4) formuliert wird:

„Auch die Herausgeber dieses Buchs wollen noch nicht wahrhaben, dass die institutio­nelle Verbindung, in der die meisten Sprach- und Literaturwissenschaftler bis heute arbeiten (während des Studiums, in der täglichen kollegialen Zusammenarbeit an einem philologischen Seminar, in Fachverbänden etc.), vor allem aber der wissenschaftliche Dialog, von dem dies immer begleitet ist, nicht mehr sein sollten als das Residuum eines überkommenen Konzepts wissenschaftlicher Disziplinarität.“

Wir waren und sind uns darüber klar, dass disziplinäre Einheitlichkeit reell nicht möglich scheint. Es fragt sich zudem, ob sie überhaupt erstrebenswert ist. Spezialisierte Vielfalt hat ja auch ihre Vorteile. Allerdings sollte es keine Vielfalt der Borniertheiten sein, in der Beiträge von anderer Seite prinzipiell nicht zur Kenntnis genommen werden, sondern eine Vielfalt der Offenheiten. Wir sind der Meinung, dass es für jede Seite sinnvoll und wünschenswert ist, neuere Entwicklungen ‚gegenüber‘ kennenzulernen: sei es, um aus unerwarteter Nähe, sei es, um aus ← 9 | 10 → anregender Befremdung produktive Anstöße zu gewinnen. Der damit verbundene Anspruch ist zugegebenermaßen hoch. Für echte Brückenschläge bedarf es einer doppelten Expertenschaft, einer literaturwissenschaftlichen, die zugleich auch sprachwissenschaftlich ist (oder umgekehrt: das größere Gewicht kann gleichwohl hier oder dort liegen). Man muss kaum betonen, dass dergleichen – nicht zu verwechseln mit generalistischem Über-den-Dingen-Schweben – in Zeiten einseitigen und engen Spezialistentums sehr selten ist.

Nimmt man das Trennende ernst, so kann man auf einen Gedanken kommen, den offenbar der traditionelle Fachbegriff der Germanistik (wenngleich er eben in Frage steht) bislang immer noch weitgehend verdeckt: dass es sich nämlich bei dem Verhältnis von Sprach- und Literaturwissenschaft um ein interdisziplinäres handeln könnte. Das könnte, versteht man das Interdisziplinäre positiv, bedeuten, dieses Verhältnis als eines der gegenseitigen Befruchtung zu denken. Weiterungen, vor allem die Suche nach Möglichkeiten, vermeintliche Grenzen zu anderen semiotischen Disziplinen (etwa der Ritualwissenschaft, der Philosophie, der Musikwissenschaft) zu überwinden, sind keineswegs ausgeschlossen. Denn sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze und gegebenenfalls die Verbindung beider, eignen sich möglicherweise auch oder ergänzend für deren Untersuchungsgegenstände. Und umgekehrt könnten sprach- und literaturwissenschaftliche Forschungen mit Ergebnissen solch anderer Disziplinen verglichen und dadurch besser verstanden werden. Von der „Literaturlinguistik“ ist es daher nur ein kleiner Schritt zu einer echten Interdisziplinarität, die zu ganz neuen Forschungsfragen und -feldern führen kann. Die linguistische Erforschung sozialer Interaktion im Web 2.0 etwa hat vor allem aufgrund einer Offenheit der Linguistik gegenüber der Medien- und Diskursanalyse an Fahrt aufgenommen.1

Umgekehrt könnte aber auch die nicht selten als bloße Leerformel erscheinende ‚Interdisziplinarität‘ von der angesichts der gemeinsamen fachhistorischen Wurzeln immer noch denkbar erscheinenden Möglichkeit profitieren, das Verhältnis doch wiederum als eines der Intradisziplinarität zu fassen: Die Tatsache, dass es gemeinsame theoretische, begriffliche und methodische Grundlagen gibt – sie wären, vielleicht im Rahmen einer folgenden Tagung, aufzusuchen und wieder einmal zu Bewusstsein zu bringen –, könnte Synergien ermöglichen und von der zwar bisweilen intellektuell förderlichen, weit öfter aber zeitaufwendigen und die ← 10 | 11 → konkrete Arbeit verhindernden Notwendigkeit entlasten, zunächst einmal eine gemeinsame Basis der Verständigung zu erarbeiten.

Der Ausdruck Literaturlinguistik, verstanden als Klammer-Kopulativkompositum2, steht für Offenheit gegenüber solch synergetischen Divergenzpotenzialen. Den Beiträgen dieses Bandes liegt sie zugrunde. Sie befassen sich mit im Einzelnen sehr unterschiedlichen Themenbereichen: mit literarischer Hermeneutik, Narrationstheorie, Stilistik, Sprach- und Literaturdidaktik, Textsorteninterpretation, Diskurssemantik oder Bildlinguistik.

Ulrich Breuer, Ulla Fix und Andreas Gardt waren gebeten, zu dem Rahmenthema Linguistik und Literaturwissenschaft im Dialog: Probleme und Perspektiven jeweils eine kurze Stellungnahme abzugeben, die als Einstieg in eine allgemeine Diskussion dienen könnte; diese Stellungnahmen erscheinen als Einstieg auch geeignet für die vorliegende Publikation. Ulla Fix plädiert für eine (Rück-)Besinnung auf den Textbegriff und insbesondere die Materialität des Textes als gemeinsame Grundlage für literatur- und sprachwissenschaftliches Arbeiten. Ulrich Breuer ergänzt dies durch die Forderung nach einer trans-nationalphilologischen Weitung des Blicks und nach einer historischen Semantik – was sich mit den in der Linguistik seit Jahren verfolgten Bemühungen trifft: beispielsweise in den Arbeiten von Reichmann (1983; 1989; 1993; 2006 u. ö.), Gardt (1998; 2002; 2007a; 2007b; 2008; 2012; 2013), Lobenstein-Reichmann (1998; 2002; 2013 u. ö.) oder Bär (1997; 1998; 1999; 2000; 2008; 2010 ff.; 2013; 2014; 2014/15; 2015 u. ö.). Andreas Gardt schlägt vor, die systemorientierte Betrachtungsweise der Sprachwissenschaft stärker durch ein Interesse am sprachlichen Einzelphänomen – konkret ebenfalls vor allem dem Text – zu ersetzen.

In die gleiche Richtung zielt der Beitrag von Matthias Attig. Aus dem Blickwinkel der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik Peter Szondis führt er vor Augen, dass sich auch neuere Ansätze der Linguistik, nämlich die Diskurssemantik, die (qualitative) Korpuslinguistik und insbesondere die linguistische ← 11 | 12 → Hermeneutik, prinzipiell mit der Notwendigkeit des hermeneutischen Vorbehalts konfrontiert sehen: mit der Tatsache, „dass sich einem sprachlichen Moment […] niemals mit Gewissheit eine semiotische oder pragmatische Funktion zuordnen lässt“. Daraus leitet er als „methodologisches Postulat“ ab, dass die linguistische Interpretation die Subjektivität des Interpreten „gleichermaßen zügeln und bejahen, sie in die theoretische Gesamtkonstruktion integrieren und so als eines ihrer zentralen Merkmale einbekennen muss“.

Einen echten literaturwissenschaftlich-linguistischen Brückenschlag unternehmen der Literaturwissenschaftler Leonhard Herrmann und der Sprachwissenschaftler Beat Siebenhaar mit ihrem Gemeinschaftsprojekt zur Dialektliteratur. Einen disziplinären Perspektivenwechsel mussten sie nicht vollziehen, da sie gewissermaßen jeweils mit den Augen des anderen sehen konnten. Sie zeigen auf, dass die Verschriftlichung dialektalen Sprachgebrauchs per se eine Verfremdung darstellt, die der Fiktionalität literarischer Texte affin ist. Ebenso rufen sie in Erinnerung, dass ein fruchtbarer Begegnungspunkt von Sprach- und Literaturwissenschaft die Perspektive der zweiten Metaebene sein kann: die Berücksichtigung von Sprach- (in diesem Fall: Dialekt-) und Literaturreflexion.

Stefan Tetzlaff plädiert dafür, die strukturalistische, in ihrer phonologischen Anwendung auf Trubetzkoy, in ihrer semantischen auf Jakobson zurückgehende Theorie der ‚Markiertheit‘ (sprachliche Zeichen haben einen Wert nur in Abgrenzung von anderen sprachlichen Zeichen desselben Sprachsystems, und als ‚markiert‘ gilt dasjenige von zwei Zeichen, dessen Wert spezifischer gefasst ist) als kultur- und literaturtheoretisches Denkmodell fruchtbar zu machen und auch kulturelle „Makroformationen“ als ‚markiert‘ bzw. ‚unmarkiert‘ zu beschreiben. An der in der Weimarer Klassik greifbaren Spannung zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und dem Interesse am Besonderen sowie an der Popkultur, die den Anspruch erhebt, individualistisch zu sein, jedoch den Geschmack der Masse trifft, wird der Gedanke exemplifiziert.

Jochen A. Bär knüpft mit dem Versuch, ‚bedeutungstragende‘ Zeichen auf Textebene – so genannte Wortverbünde (konkret: Figuren, Örtlichkeiten, Handlungseinheiten, Motive usw.) – in literarischen Texten, exemplarisch: in Thomas Manns Tod in Venedig, herauszuarbeiten, an Andreas Gardts textsemantisches Konzept der ‚flächigen‘ Bedeutung an. Er zeigt, dass und wie es das Verfolgen von Rekurrenzlinien und die Analyse weiterer Kohäsions- und Kohärenzstrukturen ermöglicht, auch in vermeintlich längst „zu Tode interpretierten“ literarischen Texten bislang unerkannte Sinnelemente zu finden.

Dem Problem, dass Texte zwischen Literarizität und Nichtliterarizität zu schillern scheinen, widmet sich Jana-Katharina Mende in ihrem Beitrag zu den ← 12 | 13 → Pariser Vorlesungen Adam Mickiewiczs. Sie zeigt, dass es für die linguistische Interpretation dieses durch Mitschrift, Abschrift und Übersetzungen in hohem Grade (auf mehreren Ebenen) vermittelten Textes sinnvoll ist, das literaturwissenschaftliche Konzept der Polyphonie heranzuziehen. Zudem ist nicht nur das, was gesagt wird, hermeneutisch relevant, sondern auch die Art, wie es gesagt wird; „die Ebene der Vermittlung der Aussage und die Form sind in semantischer Hinsicht nicht irrelevant, sondern determinieren die Bedeutung“.

Svend F. Sager richtet den Blick vom Verhältnis von Linguistik und Literaturwissenschaft als prinzipiell sprachbezogenen Disziplinen auf weitere Gegenstandsbereiche. Er orientiert sich am Konzept der Bildlinguistik im Sinne von Imdahl (2006). Am Beispiel des Comics – konkret: der Figur Arzach von Jean Giraud – beleuchtet er, basierend auf der Zeichentheorie von Peirce, wie das Wiedererkennen von Zeichen und das Verstehen von Zeichenfolgen funktioniert.

Pamela Steen zeigt mit ihrer gesprächslinguistisch und semiotisch vergleichend ausgerichteten Untersuchung von Alltagserzählungen in sozialen Randgruppen, dass der aus der Psychologie stammende literaturwissenschaftliche Begriff des Archetyps (am Beispiel des Helden) auch als sprachwissenschaftliche bzw. kultursemiotische Kategorie brauchbar ist. Die Kategorie kann als Beschreibungsmuster für sprachliche – d. h. hier vor allem: narrative – Konstruktionen sozialer Identitäten herangezogen werden.

Mit der sprachlichen Konstitution von Faktualität und Fiktionalität setzen sich Matthias Attig und Katharina Jacob in einem gemeinschaftlichen Beitrag auseinander. Am Beispiel des Erinnerungsmodells in Uwe Johnsons Jahrestagen, das historische Fakten und literarische Fiktion narrativ verschränkt, und kon­trastierend am Beispiel eines Zeitungskorpus zum öffentlichen Diskurs um Neue Technologien, in dem Zukunftsszenarien entworfen werden, zeigen sie, mit welchen textuellen Mitteln in der Literatur nicht anders als in Alltagstexten „Fiktives und Faktisches wechselseitig aufeinander bezogen“ sein kann.

Nina Kalwa befasst sich mit Emotion in literarischen Texten. Sie unterscheidet zwischen (explizit) dargestellter und (implizit) ausgedrückter Emotion und zeigt exemplarisch anhand zweier Textstellen aus Patrick Süskinds Parfum und Christian Krachts Faserland, wie man beides interpretativ fassen kann. Auch dieser Beitrag legt Wert auf einen qualitativen Linguistik-Ansatz, der weniger auf die Beschreibung des sprachlichen Systems – dieses dient freilich als Bezugsgröße der Interpretation – als des sprachlichen Einzelphänomens zielt.

Der älteren deutschen Literatur widmen sich zwei Beiträge in diesem Band. Florian Schmid wendet sich der Dramatik zu; er behandelt nach dem Ansatz der historischen Dialogfoschung das Fastnachtsspiel von Salomon und Markolf ← 13 | 14 → des Hans Folz und arbeitet dabei zunächst die dialogische Faktur des Textes he­r­aus. Dadurch gelingt es ihm, eine Segmentierung des per se nicht erkennbar gegliederten Textes plausibel zu machen, die dann wiederum dazu dient, die Figuren pragmatisch – hinsichtlich ihres (Sprach-)Handelns – zu profilieren. Salomon erscheint demnach als weiser, gerechter König sowie als Minnesklave, Markolf als „Figur närrischen Typs“.

Susanne Warda untersucht die frühneuzeitliche Textsorte ‚Sterbebuch‘. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht das Agendbüchlein des Nürnberger Reformators Veit Dietrich. Mit der Methode der Gesprächslinguistik und unter Zuhilfenahme der Sprechakttheorie zeigt sie auf, mit welchen sprachlichen Mitteln der Text zu einer Anleitung für ein Muster-Gespräch des Geistlichen mit dem Gläubigen im Angesicht des Todes wird. Sie stellt fest, dass das gesprächslinguistische Instrumentarium manches erkennen lässt, das sie zuvor durch ihre „literaturwissenschaftliche ‚Brille‘ nicht gesehen“ habe, weshalb sie den Vertretern beider Fachbereiche einen „Brillenwechsel“ empfiehlt.

Urte Stobbe richtet als Literaturwissenschaftlerin den Blick auf die semantischen Konzepte ADEL bzw. ADELIGKEIT zu Beginn des 19. Jahrhunderts, konkret: in Joseph von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart. Mit dem Instrumentarium der historisch-semantischen Heidelberger Schule zeigt sie, dass dem sozialhistorischen Adelsbegriff ein moralisch-ethischer gegenübersteht und dass Eichendorffs Text, in dem diese beiden Begriffe gegeneinanderstehen, als Kritik eines Adeligen am Adel seiner Zeit gelesen werden kann – die jedoch auf einen Adel im höheren Sinne und damit wiederum „Adelsrestitution“ abzielt.

In einem ebenfalls semantisch orientierten, theoretisch und methodisch mehr der neueren Diskurslinguistik verpflichteten Beitrag setzt sich Jessica Weidenhöffer mit dem Volksbegriff im 19. Jahrhundert auseinander. Sie führt vor Augen, dass die traditionell als ‚Volks‘märchen rezipierten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von ihren Verfassern, die freilich nur als Sammler auftraten, in einem konsequenten Transkriptionsprozess auf eben diese Rezep­tion hin ausgerichtet und damit im zeitgenössischen National- und Poesiediskurs funktionalisiert wurden.

Lars Bülow schließlich analysiert stilistische Eigenheiten im Werk von Herta Müller, speziell Besonderheiten der Redewiedergabe in dem Text Der Fuchs war damals schon der Jäger, durch die Ambiguität entsteht. Diese Art der „entgrenzten“ sprachlichen Form entspricht, so zeigt der Aufsatz, dem Inhalt des Werks, das davon handelt, wie die rumänische Securitate mit Verwirrspielen die Prot­agonisten im Unklaren über ihr Handeln ließ. Noch einmal wird hier die kritische Dimension von Literatur thematisiert und vor Augen geführt, dass sie sich auch mit Mitteln der Textgestalt erzeugen lässt. ← 14 | 15 →

Die Beiträge des Bandes lassen erkennen, dass literaturwissenschaftliche Fragestellungen aus (zusätzlichen) linguistischen Blickwinkeln eine Bereicherung erfahren: indem sprachliches Wissen – z. B. zur Redewiedergabe, zur Gesprächsführung, zur Textgrammatik oder zur Geschichte von Varietäten – explizit mit in die Literaturanalyse einbezogen wird, indem Textinterpretation durch eine begleitende Diskursanalyse gestützt wird, oder indem narratologische Deutungsansätze semantisch unterfüttert werden. Ebenso wird deutlich, dass sprachwissenschaftliche Untersuchungen durch literaturwissenschaftliche Ansätze gewinnen, ja allein schon durch die Beschäftigung mit literarischen Texten. Das ist, nimmt man eine Bemerkung Eugenio Coserius ernst, auch nicht weiter verwunderlich: Literarische Sprache kann „nicht eine Modalität des Sprachgebrauchs unter anderen sein“, sie muß „als Sprache schlechthin angesehen werden, denn nur in ihr findet man die volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten“ (Coseriu 1980, 110).

Ob der mit dem vorliegenden Band propagierte Ansatz in der Germanistik und/oder in den benachbarten Philologien auf weitergehendes Interesse stoßen wird, muss abgewartet werden. Um das Interesse zu bekunden und nach Möglichkeit zu verstärken, wurde im Zusammenhang der Vechtaer Tagung unter dem URL

www.literaturlinguistik.de

das Internet-Portal „Literaturlinguistik. Ein Zugang“ eingerichtet, über das sich vorhandene oder künftige Forschungsprojekte vernetzen können, das einschlägige wissenschaftliche Beiträge in Form einer Literaturliste sammelt und das zu Personen führt, die sich durch die im Titel der Tagung und des Tagungsbandes benannten Brückenschläge angesprochen fühlen. Das Forum, das durch dieses Portal erreichbar ist, steht allen Interessierten offen.

Zitierte Literatur

Andermatt, Michael (1996): Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern u. a.

Auer, Peter (2013): Über den Topos der verlorenen Einheit der Germanistik. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 172, 16–28.

Bär, Jochen A. (1997): … wofern das Detail keine Heiterkeit hat. Das Wortbildungsfeld -heiter- in der deutschen Frühromantik. In: Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte. Hrsg. v. Petra Kiedaisch/Jochen A. Bär. München, 161–202.

Bär, Jochen A. (1998): Vorschläge zu einer lexikographischen Beschreibung des frühromantischen Diskurses. In: Wörterbücher in der Diskussion III. Vorträge ← 15 | 16 → aus dem Heidelberger Lexikographischen Kolloquium. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Tübingen (Lexicographica Series Maior 84), 155–211.

Bär, Jochen A. (1999): Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. Berlin/New York (Studia Linguistica Germanica 50).

Bär, Jochen A. (2000): Lexikographie und Begriffsgeschichte. Probleme, Paradigmen, Perspektiven. In: Wörterbücher in der Diskussion IV. Vorträge aus dem Heidelberger Lexikographischen Kolloquium. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Tübingen (Lexicographica Series Maior 100), 29–84.

Bär, Jochen A. (2008): Das Judenkonzept bei Achim von Arnim, Bettine von Arnim und Clemens Brentano. In: Dituria. Zeitschrift für Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft 4, 7–23.

Bär, Jochen A., Hg. (2010 ff.): Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“ (1760–1840). Wörterbuch zur Literatur- und Kunstreflexion der Goethezeit. http://www.zbk-online.de.

Bär, Jochen A. (2013): Rechtswortschatz in der Literatur. Ein Ansatz zu seiner Beschreibung am Beispiel Annette von Droste-Hülshoffs. In: Historische Rechtssprache des Deutschen. Hrsg. v. Andreas Deutsch. Heidelberg, 455–479.

Bär, Jochen A. (2014): Das semantische Konzept ‚Witz‘ in der deutschen Literatur- und Kunstreflexion um 1800. Ansätze einer linguistischen Beschreibung. In: Kommunikation und Humor. Multidisziplinäre Perspektiven. Hrsg. v. Christoph Schubert. Berlin (Vechtaer Universitätsschriften 31), 37–59.

Bär, Jochen A. (2014/15): Methoden historischer Semantik am Beispiel Max Webers. In: Glottotheory. International Journal of theoretical Linguistics 5, 243–298; 6, 1–92.

Bär, Jochen A. (2015): Hermeneutische Linguistik. Theorie und Praxis grammatisch-semantischer Interpretation. Grundzüge einer Systematik des Verstehens. Berlin/München/‌Boston.

Bogdal, Klaus-Michael/Oliver Müller (2005): Innovation und Modernisierung. Germanistik von 1965 bis 1980. Heidelberg: Synchron.

Details

Seiten
401
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060003
ISBN (ePUB)
9783653961416
ISBN (MOBI)
9783653961409
ISBN (Hardcover)
9783631666548
DOI
10.3726/978-3-653-06000-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Textlinguistik Interpretationstheorie Hermeneutische Linguistik Philologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 401 S., 45 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jochen A. Bär (Band-Herausgeber:in) Jana-Katharina Mende (Band-Herausgeber:in) Pamela Steen (Band-Herausgeber:in)

Jochen A. Bär ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta. Jana-Katharina Mende ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Pamela Steen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig.

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