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Revision in Permanenz

Studien zu Jean Amérys politischem Ethos nach Auschwitz

von Sylvia Weiler (Band-Herausgeber:in) Michael Hofmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 207 Seiten

Zusammenfassung

Der Band befasst sich mit Jean Améry, einem der wichtigsten Autoren «nach Auschwitz», und seinem Verhältnis zu zeitgenössischen Diskursen nach 1945. Jean Améry hat mit seinem essayistischen Werk Maßstäbe für die Reflexion des «Zivilisationsbruchs» gesetzt und dabei persönliche Erfahrungen mit philosophischen Perspektiven verknüpft. Die hier versammelten Aufsätze verdeutlichen Amérys ethische Positionen, seinen Beitrag zur Literatur- und Kulturkritik und seine politische Philosophie. Er setzte sich mit dem Existentialismus, der Kritischen Theorie, dem (Post-)Strukturalismus, der Studentenbewegung und den Debatten um die Sicherheit des Staates Israel auseinander und stand mit vielen wichtigen Autoren der Zeitgeschichte in Kontakt. Die Darstellungen zeigen, dass Améry ein exemplarisches politisches Ethos entwickelte, das sich in radikaler Offenheit den Erfahrungen der Shoah stellte und Maßstäbe für eine reflektierte Zeitgenossenschaft nach 1945 setzte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung. Zur Genese von Jean Amérys politischem Ethos einer Revision in Permanenz
  • I. Jean Amérys Ethik
  • Über Zwang und Unmöglichkeit, Jean Amérys Biographin zu sein
  • „Humanismus“ und „Kampf um Anerkennung“ bei Jean Améry
  • Der Körper als Medium in die Welt nach Auschwitz – Jean Amérys Ethik der Erinnerung und ihre Ursprünge
  • II. Literatur- und Kulturkritik mit und nach Jean Améry
  • Imre Kertész’ Liquidation als Hommage an Jean Améry?
  • „Zerrissen von inneren Widersprüchen“: Paradoxien eines Positivisten
  • Lesen und Autorschaft nach 1945. Mit dem Werk Jean Amérys arbeiten
  • III. Politische Philosophie nach Auschwitz
  • Redemptorische Gewalt Jean Amérys Interventionen für Israel
  • Jean Améry (Hans Maier) und André Gorz (Gerhard Horst) – zwei österreichische Sartre-Anhänger im Exil
  • Positionsbestimmungen gegenüber Vergangenheit und Gegenwart – Jean Améry und Horst Krüger
  • Am Ende der Dialektik Jean Améry und Theodor W. Adorno
  • Epilog
  • Wuschel Bemerkungen zur Leidensgeschichte jüdischer Identität
  • Über Esther Marian

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Sylvia Weiler / Michael Hofmann

Einleitung. Zur Genese von Jean Amérys politischem Ethos einer Revision in Permanenz

Mit der Formel „Revision in Permanenz“ hat Jean Améry selbst die Dynamik seines Denkens betont. Diese ist seiner phänomenologischen Reflexionsmethode geschuldet, die ihn stets von der konkreten Befindlichkeit des Menschen aus denken lässt, wodurch er dazu gezwungen wird, Erkenntnisse immer wieder neu zu durchdenken und gegebenenfalls zu revidieren. In diesem Sinne praktiziert Améry einen „radikalen Humanismus“, von dem er sich selbst nicht ausnimmt. Durch seine essayistischen Selbstbefragungen hindurch spürt er den politischen Entwicklungen in Philosophie und Literatur von der Vor- in die Nachkriegszeit nach. Insofern kann man seine autobiographische Geschichtsschreibung als das Fundament einer kritischen Zeit-, Philosophie- und Literaturgeschichte charakterisieren. In der bisherigen Forschung wurden jedoch bedeutende Aspekte der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Tragweite dieser besonderen Form autobiographischer Literatur vernachlässigt; Aspekte, die gleichsam einmünden in einen erinnerungspolitischen Diskurs. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, in diesem Sinne bislang unentdeckte Zusammenhänge augenfällig zu machen.

In diesem Zusammenhang lassen sich drei Themenschwerpunkte ausmachen. Der erste lässt sich unter den Stichworten „Bruch und Kontinuität“ subsumieren. Folgende Fragen werden hier näher beleuchtet: In welchem Verhältnis stehen Amérys frühe Schriften aus den Jahren 1934/35 und 1945–1948 zu den zu Lebzeiten veröffentlichten Essay-Bänden? Welche ästhetischen, philosophischen und politischen Einsichten gewinnt Améry bereits Mitte der 1930er Jahre, welche erst nach 1945? Wie lässt sich die Zäsur des Vernichtungslagers in ihren literarischen Auswirkungen auf Amérys Werk beschreiben?

Im zweiten Teil geht es um Politik, Philosophie und Ästhetik in Amérys Werk: Es geht um die Beantwortung der Frage, in welcher Beziehung sein politisches und sein philosophisches Denken zueinander stehen, und in welcher ← 7 | 8 → Beziehung beide wiederum zu seiner Ästhetik stehen. Lässt sich in Vermittlung der Werke Amérys das „Überleben schreiben“ nach 1945 möglicherweise politisch und ästhetisch konzeptualisieren? Und wenn ja, wie genau?

Die Rezeption und die Wirkung von Amérys Werk über seine Lebenszeit hinaus stehen im Zentrum des dritten Teils unseres Bandes. Hier wird es darum gehen zu eruieren, mit welchen Anliegen sich Autoren seit den 1970er Jahren in ihren Schriften und politischen Ansichten auf Améry berufen. Welche Konstellationen eines deutsch-jüdischen Kulturdialogs/-konflikts ergeben sich? Welche Konturen gewinnt das jüdische Gedächtnis in den Werkdialogen jüdischer Schriftsteller mit Améry? Und nicht zuletzt: Was bleibt von Amérys Zeit-, Philosophie- und Literaturkritik? Warum erscheinen seine Arbeiten – trotz ihrer eindeutig zeithistorischen Dimension – auch heute noch aktuell?

Die Beiträge im ersten Teil des vorliegenden Bandes zeigen, dass Jean Améry nicht nur auf den herkömmlichen Erinnerungsdiskurs geantwortet hat – wie in der Sekundärliteratur oft suggeriert wird –, sondern eine eigene Ethik erarbeitet hat. Viele bisherige Forschungsbeiträge zeichnen sich durch Unschärfe aus, wenn es darum geht, Amérys philosophische und literarische Bezüge zu ermitteln, weil die epistemologischen Grundlagen seines Denkens nicht deutlich werden. Die ersten Aufsätze dieses Bandes versuchen, diesen Grundlagen Kontur zu verleihen. Amérys Biographin Irene Heidelberger-Leonard eröffnet den Band mit ihren Überlegungen zu Zwang und Unmöglichkeit, Jean Amérys Biographie zu schreiben: Lässt sich das Leben eines derart diskreten, von Ressentiments geplagten Holocaust-Überlebenden nacherzählen? Und aus welchen ethischen Gründen ist dies genauso schwer wie unverzichtbar? Michael Hofmann erarbeitet im Rückgriff auf Axel Honneths Theorie vom „Kampf um Anerkennung“ Amérys „Humanismus nach Auschwitz“, der nicht wie Adornos und Foucaults Denken auf eine Revision der aufklärerischen Ideale setzt, sondern auf deren Wiederbelebung. Améry sei, so Hofmann, nicht primär an einer neuen Form des Denkens interessiert gewesen, sondern an einer Verbesserung des konkreten Zusammenlebens der Menschen nach 1945. Schließlich fragt Sylvia Weiler nach der Besonderheit von Jean Amérys phänomenologischem Auschwitz-Diskurs für die westdeutsche Erinnerungskultur. Dabei führt sie sein körperzentriertes Denken, das in der Tradition Maurice Merleau-Pontys steht und seinem Auschwitz-Diskurs zugrunde liegt, zudem auf seine Genese in frühen Werken aus dem Améry-Nachlass zurück. ← 8 | 9 →

Im zweiten Teil geht es um Problemkonstellationen innerhalb der Nachkriegs- bzw. Erinnerungsliteratur, oder anders ausgedrückt um literarische Erinnerungsdialoge. Christian Poetini deutet den Roman Liquidation von Imre Kertész als eine ästhetische und ethische Verhandlung von Positionen Jean Amérys über den Freitod. Ben Hutchinson liefert einen Überblick über die philosophischen Widersprüche, die Amérys Werk durchziehen und die eine Besonderheit seines Denkens ausmachen. Und schließlich plädiert Hans Höller mit Jean Améry für eine „geistesgegenwärtigere Kultur“ nach Auschwitz und für eine Literatur- und Kulturwissenschaft, die dem körperlich erfahrenen Schmerz, den Literatur versinnlicht, gerecht zu werden versucht.

Im dritten Teil geht es darum, Amérys kritisches Denken im Verhältnis zum Existentialismus, zum Strukturalismus und zur Frankfurter Schule als eine vergleichbar einflussreiche Nachkriegsphilosophie und politische Ethik transparent werden zu lassen. Wichtige Dialoge Amérys mit bedeutenden Nachkriegsphilosophen harren bis heute der Aufmerksamkeit durch die Forschung. Esther Marian geht Amérys Verhältnis zu Israel nach und fragt, wie sich dieses in seine politische Philosophie einschreibt. Jürgen Doll stellt Jean Améry und André Gorz als „zwei österreichische Sartre-Anhänger im Exil“ vor und weist auf die Wahrnehmungsunterschiede hin, die in Amérys Vernichtungserfahrung begründet liegen. Ulrike Schneider beleuchtet die ‚Schriftstellerfreundschaft‘ zwischen Jean Améry und Horst Krüger, die sie als ‚versuchte Nähe‘ entlarvt. An Amérys und Krügers Verhältnis zeigt sie dabei auch die erinnerungspolitischen Gräben im deutsch-jüdischen Verhältnis der 1960er Jahre auf. Oshrat C. Siberbusch ermittelt anhand einer Gegenüberstellung der Philosophie Theodor W. Adornos und Jean Amérys die Anforderungen, die das Überleben an ein philosophisches und politisches Denken stellt.

Den Abschluss des Bandes bildet eine Collage aus Essays und Gedichten des jüdisch-österreichischen Schriftstellers Robert Schindel. Durch seine Lesung dieser Collage bei der den Band begründenden Tagung „Jean Améry – Literatur zwischen Erinnerung, Politik und Selbstsuche“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach, die vom 22. bis 24. Januar 2009 stattfand, hat Robert Schindel genau jene philosophischen und politischen Implikationen der jüdischen Leidensexistenz literarisch heraufbeschworen, denen die Tagungsteilnehmerinnen und-teilnehmer in ihren Beiträgen auf wissenschaftlichem Wege nachspüren. ← 9 | 10 →

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I. Jean Amérys Ethik

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Irene Heidelberger-Leonard

Über Zwang und Unmöglichkeit, Jean Amérys Biographin zu sein

Abstract: Biographers find themselves in a difficult position: On the one hand, biographies have no place in the academic discourse; on the other hand they undertake a task to which they can, by definition, not do justice. Where Amery is concerned to imagine his life is therefore an impossibility, because no one has the right to recount second hand, what has constituted him first hand, if only because he or she has not experienced Amery’s Auschwitz. But because Amery delivers the material, there is also an obligation to pass on his legacy to those born after the event, in the form of an intellectual biography. Necessity and impossibility, this aporetic dilemma is the subject of my introduction to the conference.

Details

Seiten
207
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653060133
ISBN (ePUB)
9783653957143
ISBN (MOBI)
9783653957136
ISBN (Hardcover)
9783631668290
DOI
10.3726/978-3-653-06013-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Ethik Politische Philosophie Literaturwissenschaft Kulturkritik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 207 S.

Biographische Angaben

Sylvia Weiler (Band-Herausgeber:in) Michael Hofmann (Band-Herausgeber:in)

Sylvia Weiler ist Literaturwissenschaftlerin und Gymnasiallehrerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Gedächtnis der Shoah in der deutschsprachigen Literatur und Literatur nach 1945. Sie ist Trägerin des Prix de mérite der Fondation Auschwitz in Brüssel. Michael Hofmann ist Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft und ihre Didaktik an der Universität Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur der Weimarer Klassik, interkulturelle Literaturwissenschaft und Literatur nach Auschwitz.

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Titel: Revision in Permanenz
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