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Paarformeln in mittelalterlichen Stadtrechtstexten

Bedeutung und Funktion

von Frauke Thielert (Autor:in)
©2016 Dissertation 342 Seiten
Reihe: Deutsche Sprachgeschichte, Band 5

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht den seit Jakob Grimm in der Forschung diskutierten Gegenstand der Paarformel anhand der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Textsorte der Stadtrechtsbücher. Sie behandelt 20 Texte, die sich auf den gesamten deutschen Sprachraum verteilen und den Zeitraum vom 13.–15. Jahrhundert abdecken. Die Analyse ist nach sehr weit gefassten modernen Rechtsbegriffen wie «natürliche Person» oder «Körperverletzung» strukturiert, die jenseits ihrer historischen Andersartigkeit als Grundtatsachen des menschlichen Lebens gelten können. Ausgehend von der Annahme, dass Paarformeln als Mittel zur Erfassung rechtsrelevanter Begrifflichkeiten dienen, berücksichtigt die Autorin neben Verwendung und Bedeutung auch die Funktion von Paarformeln im jeweiligen Kontext.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Forschungsüberblick
  • Zusammenfassung
  • III. Die deutsche Stadt im Mittelalter
  • 1. Einführung
  • 2. Der Stadtbegriff
  • Karl Bücher: Wirtschaftlicher Stadtbegriff
  • Paul Sander: Sozialer Stadtbegriff
  • Max Weber: Idealtypus der Stadt und Städtetypologie
  • Zusammenfassung
  • 3. Stadttypen
  • 4. Die Städtische Gesellschaft und ihre Verwaltung
  • Sozialstruktur der Stadt
  • Rat und Ratsverfassung
  • 5. Wirtschaftliche Strukturen: Handwerk – Handel – Markt
  • Handwerk
  • Markt und Handel
  • IV. Stadtrecht – Städtisches Recht
  • 1. Quellen städtischen Rechts
  • Privileg und Gewohnheit
  • Willkür und Satzung
  • 2. Besonderheiten des städtischen Rechts
  • Städtischer Friede
  • Verfahren und Beweis
  • 3. Privatrecht
  • Grundbesitz und dingliche Belastung
  • Güterordnung
  • 4. Stadtrechtskodifikation
  • Stadtbücher
  • V. Untersuchungsgegenstand und -methode
  • 1. Paarformel – Begriffsbildendes Wortpaar – Paarige Wortverbindung
  • 2. Methodik und Vorgehen
  • 3. Korpuszusammenstellung
  • Statuarische Gesetzgebung
  • Rechtsraum/Stadtrechtsfamilie
  • Zeitraum
  • Schreibsprachaum
  • VI. Textauswahl
  • 1. Städte
  • Augsburg
  • Bamberg
  • Braunschweig
  • Bremen
  • Frankfurt am Main
  • Freiberg/Sachsen
  • Freiburg im Breisgau
  • Goslar
  • Hamburg
  • Kalkar
  • Koblenz
  • Lübeck
  • Magdeburg
  • Nürnberg
  • Osnabrück
  • Ravensburg
  • Schlettstadt
  • Soest
  • Ulm
  • Würzburg
  • 2. Editionen
  • VII. Auswertung
  • 1. Natürliche Person
  • ‚Alle/Jedermann‘
  • arm – rîche
  • man – wîp
  • man – vrouwe
  • phaffe – leie
  • ‚Besondere Personen‘: burgære – gast
  • Zusammenfassung
  • 2. Objektives Recht
  • Bezeichnungen für objektives Recht
  • Verbindungen mit rëht
  • satz – gebot
  • 3. Setzung objektiven Rechts
  • Konstituierung von Gesetzen
  • Veränderung bestehender Normen
  • Zusammenfassung
  • 4. Strafrecht
  • Taten
  • Waffen
  • Strafen
  • Zusammenfassung
  • 5. Gewere
  • Liegenschaften
  • Gesamtbesitz: habe – guot
  • Zusammenfassung
  • Formen der Gewere
  • 6. Veräußerung
  • Formen der Veräußerung
  • 7. Einzelne Formeln
  • minne und rëht
  • âne arclist unde geværde
  • hûs unde hof – hûsen unde hoven
  • lëdec unde lôs
  • vride – genâde
  • wort – wërc vs. rât – tât
  • 8. Exkurs: Wandel und Aussterben von Paarformeln
  • hûs – hof vs. hûsen – hoven
  • eigen – erbe vs. hab – guot
  • VIII. Fazit
  • IX. Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis der in Abkürzung zitierten Literatur
  • Quellen
  • Regesten
  • Sekundärliteratur
  • Lexika und Wörterbücher
  • Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
  • X. Anhang

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I. Einleitung

Paarformeln werden zumeist nach dem Verhältnis ihrer Glieder zueinander kategorisiert und im Hinblick auf Rechtstexte als eine frühe Form der Definition bezeichnet.1 Es erscheint allerdings widersinnig, wenn eine Definition tautologische Ausdrücke miteinander kombiniert, da der so erfasste Begriff ohne Weiteres auch mit einem Wort wiedergegeben werden könnte. Ausgehend von diesem Widerspruch entwickelte sich die Idee, die Bedeutung und Funktion von Paarformeln in Rechtstexten genauer zu untersuchen.

Da die Funktion von Paarformeln in literarischen Texten anders bewertet wird als in Rechtstexten2, bezieht sich die folgende Untersuchung ausschließlich auf mittelalterliche Rechtstexte. Diese können allerdings sehr unterschiedlicher Natur sein, sie können beispielsweise Rechtsgeschäfte nachträglich schriftlich fixieren (Urkunden) oder präskriptiver Natur sein (Gesetze, Verordnungen) und können sich dementsprechend in ihrer sprachlichen Gestaltung signifikant voneinander unterscheiden. Die Festlegung dieser Untersuchung auf präskriptive Texte städtischer Herkunft ist in der Absicht begründet, ein Korpus von Texten zugrunde zu legen, das Zeugnisse enthält, die weitestgehend der gleichen Lebensrealität und Verschriftlichungsabsicht entstammen, in denen demzufolge eine größtmögliche inhaltliche Übereinstimmung zu erwarten ist.3 Diese Beschränkung ergibt sich zum einen aus der bisherigen Vernachlässigung dieser häufig überlieferten Text­sorte in Bezug auf Paarformeln, zum anderen aus der Absicht, die von Grimm ← 11 | 12 → und ihm nachfolgenden Sprach- und Rechtshistorikern aufgestellte Behauptung, dass in Stadtrechten Paarformeln in geringerer Anzahl verwendet werden würden als in anderen Rechtstextsorten,4 zu überprüfen und ggf. zu modifizieren.

Da im Folgenden die Untersuchung der Bedeutung und Funktion von Paarformeln in Rechtstexten im Vordergrund steht, ist es notwendig, die bisherigen Definitionen einer genauen Überprüfung auf ihre Anwendbarkeit für diesen Themenbereich zu unterziehen und eine speziell auf rechtliche Kontexte ausgerichtete Definition des Paarformelbegriffs zu entwickeln.5 Hierzu ist es unerlässlich, zunächst die bisherige Forschungsgeschichte und den jetzigen Stand der Forschungsdiskussion eingehend darzustellen.

Daran anschließend wird in gesonderten Kapiteln auf die Geschichte der deutschen Stadt und auf das Stadtrecht bzw. städtische Recht eingegangen. Dies erscheint notwendig, da die mittelalterliche Stadt als besonderer Lebensraum mit einer anders gearteten Gesellschafts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstruktur sich von dem sie umgebenden Land abhebt und dementsprechend neue, an die Verhältnisse dieses sich entwickelnden Lebensraums angepasste Rechtsvorschriften erfordert. Diese neuen Rechtsvorschriften beruhen auf Privileg und Gewohnheit, werden aber orientiert an den Bedürfnissen von Handel und Gewerbe durch städtische Satzungen und Willküren erweitert. Es werden so neuartige Formen des Güter- und Handelsverkehrs entwickelt, die eine Fixierung in schriftlicher Form verlangen.

Diese schriftliche Fixierung bildet die Basis der vorliegenden Arbeit, dabei wird der zeitliche Rahmen für die Auswahl der Texte nicht aufgrund sprachhistorischer Erwägungen festgesetzt, sondern mit Blick auf die rechtshistorischen Entwicklungen gewählt. Diese Überlegung führt zu einer Festlegung auf einen Zeitraum, der mit dem Aufkommen deutschsprachiger, städtischer Gesetzgebung beginnt und mit der sog. Rezeption des römischen Rechts um ca. 1500 endet. Aus 20 über den deutschsprachigen Raum verteilten Texten städtischer Gesetzgebung werden zunächst die auftretenden ‚Paarformeln‘ tabellarisch erfasst, anhand des Wörterbuchs von Matthias Lexer6 lemmatisiert und in ihrem jeweiligen Verwendungskontext verortet. ← 12 | 13 →

Die so erfassten Belege bilden die Grundlage für die in der Auswertung unternommene Untersuchung, die v.a. die semantischen Eigenschaften und Funktionen von Paarformeln in mittelalterlichen Rechtstexten thematisiert. Die Strukturierung der Untersuchung nach juristischen Begriffen wie z.B. ‚natürliche Person‘ oder ‚Objektives Recht‘ dient ausschließlich der Übersichtlichkeit und impliziert keinerlei Gleichsetzung zum heutigen Recht und seinen Rechtsbegriffen. Abgesehen von diesen mehrere Formeln umfassenden Kapiteln werden in der Analyse ebenfalls einzelne Formeln berücksichtigt, die entweder in der bisherigen Forschung diskutiert werden oder in höherer Frequenz im Korpus belegt sind. In der Auswertung wird dabei grundsätzlich die Frage nach der Struktur, der Bedeutung und der Funktion der Formeln in den jeweiligen Verwendungskontexten im Vordergrund stehen. Hierzu ist neben der Betrachtung der gesamten Formeln eine gesonderte Betrachtung der die Glieder verbindenden Konjunktion notwendig, die einen erheblichen Einfluss auf die Bedeutung und Funktion einer Wortverbindung hat.

Zum Abschluss wird noch ein Exkurs zum Wandel formelhafter Wendungen anhand ausgewählter Beispiele unternommen. Hier soll v.a. der Frage nachgegangen werden, welche Gründe sich für bzw. gegen eine Weiterverwendung der jeweiligen Formeln im heutigen Sprachgebrauch erkennen lassen.


1 vgl. z.B. Ruth Schmidt-Wiegand: Paarformeln, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5 Bde., hrsg. u. begr. v. Wolfgang Stammler, Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Berlin 1971–1998 [HRG], Bd. III, Sp. 1387–1393 [Schmidt-Wiegand: Paarformeln]; Stefan Sonderegger: Die Sprache des Rechts im Germanischen, in: Schweizer Monatshefte 42, (1962/63), S. 268 [Sonderegger: Sprache des Rechts].

2 vgl. z.B. Werner Besch: Zweigliedriger Ausdruck in der deutschen Prosa des 15. Jahrhunderts, in: Neuphilologische Mitteilungen 65 (1964), S. 200–221 [Besch: Zweigliedriger Ausdruck]. Zu den Bedeutungs- und Funktionsunterschieden identischer Paarformeln in Recht und Literatur vgl. Frauke Thielert. Zwischen Rechtsformel und rhetorischem Stilmittel: Zur Bedeutung und Funktion von Paarformeln in Hartmanns von Aue „Iwein“, in: Nina Bartsch/ Simone Schultz-Balluff: Perspektivwechsel. Oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Bd. 2: Grenzgänge und Grenzüberschreitungen. Zusammenspiele von Sprache und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit (zugleich FS Klaus-Peter Wegera). Berlin 2016 [im Druck].

3 Zur Korpuszusammenstellung vgl. Kap. V.3.

4 vgl. z.B. Jakob Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer, Bd. 1., 4. Aufl., Darmstadt 1974, S. X [Grimm: Rechtsaltertümer]; Gerhard Salomon: Die Entstehung und Entwicklung der deutschen Zwillingsformeln, Göttingen 1919, S. 34 [Salomon: Zwillingsformeln].

5 vgl. Kap. V. 1.

6 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1872–1878 (online abrufbar unter: http://woerterbuchnetz.de/Lexer/).

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II. Forschungsüberblick

Seit dem frühen 19. Jahrhundert beschäftigt sich die germanistische Forschung mit der sprachlichen Erscheinung der Paarformel in mittelalterlichen Rechtstexten. Häufig liegt der Fokus dabei auf der Frage nach der Herkunft der Formeln und ihrer Abhängigkeit von anderen Sprachen, v.a. dem Lateinischen. Bei den Untersuchungen zur Semantik von Formeln und deren Funktion im Rechtstext handelt es sich zumeist um Einzelfalluntersuchungen, die lediglich eine oder zwei Formeln im Blick haben. In den seltensten Fällen – zumeist nur im Bereich der Urkundensprache – wird die Verwendung von Paarformeln innerhalb einer Rechtstextsorte untersucht.

Die ersten Ansätze zur Beschäftigung mit der Paarformel als Element des mittelalterlichen volkssprachigen Rechts bzw. deren sprachlicher Verwendung finden sich bereits 1828 bei Jacob Grimm. In seinem Werk ‚Deutsche Rechtsaltertümer‘ beschäftigt er sich mit dem Phänomen der Paarformel, allerdings ohne diese begrifflich zu benennen, Grimm spricht in diesem Kontext von einem Merkmal der „germanischen Rechtssprache“7. Ausgehend von der Überzeugung, dass „jedes recht […] technische althergebrachte ausdrücke [hat], die sich vor gericht erhalten“8, sammelt Grimm Formeln, die er sowohl in deutschsprachigen als auch lateinischen, angelsächsischen und skandinavischen Rechtsquellen findet und führt diese nach Kategorien geordnet auf.

Er wählt dabei die Kategorien, die in der ihm nachfolgenden Forschungsdiskussion auch weiterhin die Grundlage bilden: alliterierend, (end-)reimend, tautologisch und negativ schließend. Diese, nach heutigem Forschungsstand als Paarformeln zu bezeichnenden Erscheinungen, stellen für Grimm „grundformen der alten rechtssprache“9 dar, deren Funktion er als die eines technischen Rechtswortes umschreibt. Diese Formeln führt er nachfolgend unter den Überschriften ‚Alliteration‘ (S. 8), ‚Reim‘ (S. 17), ‚Tautologie‘ (S. 19) und ‚negativer Schlusssatz‘ (S. 37) auf. Die Alliteration hält er für eine in der deutschen Sprache und Dichtung tief verwurzelte Form, die auch in deutschen Rechtstexten zahlreich zu finden sei. Kennzeichnend für eine Alliteration ist für Grimm, dass „nur gleichartige redetheile, nicht ungleichartige, gebunden werden“10. Darunter ← 15 | 16 → versteht er, dass beide Glieder grundsätzlich dem gleichen Lebensbereich entstammen, wie bann und gebot; geld und gut; küche und keller. Er unterteilt diesen Abschnitt in substantivische, adjektivische und verbale Alliterationen.

Während Grimm auf eine Erläuterung zu den endreimenden Formeln verzichtet und lediglich auf das von ihm angenommene geringere Alter dieser Formeln im Vergleich zu den alliterierenden verweist, scheinen ihm die tautologischen Formeln eine genauere Betrachtung wert zu sein. Zu diesen merkt er an, dass einerseits das zweite (oder auch dritte) Glied den Gedanken des ersten Gliedes wiederaufnimmt, um dessen Sinn zu verstärken und dem Gesagten mehr Festigkeit zu verleihen, andererseits durch das zweite (oder dritte) Glied – und hier stellt sich die Frage, ob es sich noch um reine Tautologien handelt – bestimmte Besonderheiten des ersten Glieds hervorgehoben werden. Er unterteilt diesen Abschnitt in zweigliedrige und dreigliedrige Formeln, die in der heutigen rechts- und sprachhistorischen Forschung als ‚synonyme Wortreihen‘11 bezeichnet werden. Zu den Formeln mit negativem Schlusssatz gibt Grimm lediglich an, dass auch diese zur Dreigliedrigkeit erweitert werden könnten, wobei dann die ersten beiden Glieder positiv bleiben und das letzte negiert wird wie z.B. „recht erlauben u[nd] unrecht verbieten“12 oder „stete, feste u[nd] ungebrochen“13

In dem an die Paarformeln anschließenden Kapitel zu den ‚Formeln‘ beschäftigt Grimm sich überwiegend mit Redensarten und Sentenzen, worunter sich allerdings auch einige zu Paaren verbundene Sätze finden lassen.14 Er selbst spricht von „feierlichen, wiederkehrenden und sinnlich gewandten Redensarten“15. Auch hier finden sich in seinen umfangreichen Auflistungen zahlreiche Paarformeln, die von ihm allerdings nicht als solche gekennzeichnet werden.

Grimms ‚Deutsche Rechtsaltertümer‘ sind v.a. durch sein Bemühen gekennzeichnet, Material zusammenzutragen. Obwohl er für diese Materialsammlung schon weitaus mehr Quellen, v.a. aus dem Bereich der Weistümer, als seine Vorgänger16 heranzieht, scheint ihm, wie die Vorworte zur 2. und 4. Ausgabe zeigen, ← 16 | 17 → der Forschungsgegenstand auch nach der Herausgabe der ‚Rechtsaltertümer‘ nicht erschöpfend behandelt zu sein. Grimms Leistung liegt v.a. darin, wie Gerhard Dilcher es zusammenfasst, dass es ihm allein durch das Zusammentragen von Material gelungen sei, zu zeigen,

Bei aller Vorsicht, die Grimm bei der Zusammenstellung seines Materials walten lässt, kommt er dennoch zu dem Schluss, dass

„durch alle weisthümer […] eine ziemlich gleichförmige terminologie [gehe], die, weil keine gegend von der andern entlehnte, auf einem traditionell fortgepflanzten alterthume beruht.“18

Landschaftliche Abweichungen im Bereich der Lexik der einzelnen Glieder erscheinen ihm, solange das semantische Paradigma davon nicht berührt wird, als unwesentlich.19 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Grimm, ohne den in der auf ihn folgenden Forschungsdiskussion üblichen Begriff ‚Paarformel‘ zu verwenden, dennoch die Grundlage zur Diskussion desselben gelegt hat. Durch seinen akribischen Willen zur Zusammenstellung aller Formeln, derer er habhaft wird, hat er der ihm nachfolgenden Forschung die Basis geschaffen. Die von ihm entworfenen Kriterien lassen sich in der Folge in den unterschiedlichen Definitionsansätzen wiederfinden, wobei dieses Spektrum wahlweise erweitert oder verengt werden kann, das Gerüst aber weitestgehend konstant bleibt.

Grimm selbst befasst sich in seiner Abhandlung zur ‚Poesie im Recht‘, aus der der oft zitierte Ausspruch „dasz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren“20 stammt, erneut mit dem Phänomen der Paarformel. Poesie und Recht scheinen ihm verwandt zu sein, dies sieht er in der Sprache widergespiegelt. Als Beweis führt er verschiedene dem Recht und der Dichtung gemeinsame ← 17 | 18 → Begrifflichkeiten an21, um in der Folge auf die den beiden gemeinsamen Alliterationen und Reime einzugehen.22 Wie für die Poesie nimmt Grimm für das Recht und das Sprechen vor Gericht Stäbe und Reime, also dichterische Formen, an. Dieser Ansatz wird in der Folge auch von Otto Gierke23 und anderen Rechtshistorikern24 verfolgt und weiter ausgebaut. So ergänzt Andreas Heusler25 Grimms Theorie um den mnemotechnischen Aspekt von Stabreimen, der gerade in einer illiteraten Gesellschaft wesentlich gewesen sei. Karl-Siegfried Bader verweist auf die kultischsakralen Aspekte, die spezifischer Bestandteil der Rechtssprache seien.26

Gegen alle genannten Ansätze wurden in der Folge Gegenargumente angeführt, von denen hier beispielhaft die von Stefan Sonderegger und Gerhard Köbler vor einer weiteren vertieften Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte erläutert werden sollen. Sonderegger stellt sich in seinem Aufsatz zur ‚Sprache des Rechts im Germanischen‘ die Frage, inwieweit Grimms Thesen einer philologischen Prüfung standhalten können. Dazu geht er zunächst auf die uneinheitliche Rechtsüberlieferung ein, die seiner Ansicht nach einen „ganz ungleichen Anteil poetischer Elemente und Formeln“27 aufweist. Er stellt fest, dass in unterschiedlichen Rechtshandlungen voneinander abweichende Formulierungen verwendet werden. In einem weiteren Schritt grenzt er das Verhältnis von gesprochener Sprache in Recht und Dichtung voneinander ab, indem er für das Recht einen hohen Anteil gesprochener Sprache ausmacht (Rechtsvortrag, Sprechsätze, Eide etc.), ← 18 | 19 → der sich in der Dichtung nicht nachweisen lasse. Während die Dichtung nur „das hochstehende, kompliziert, abgewogene Gespräch“28 kenne, sei die Rechtssprache „voller Kurzreden, voller Anlässe, jemanden mit einer Beleidigung oder Ehrverletzung vor Gericht ziehen zu lassen.“29

Auch im Bereich von Wortzusammensetzungen und bezüglich des Stabreims kann er keinerlei Gemeinsamkeiten entdecken. Während die Rechtssprache zu Stabverbindungen neige, vermeide die Sprache der Dichtung diese. Der Stabreim im Recht verwende häufig eine Stabung mit gleichen Begriffen oder wurzelverwandten Wörtern, ein Vorgehen, das in der Dichtung möglichst umgangen werde. Zusätzlich fehle der Rechtssprache jegliche dichterische Variation. Sie verfüge zwar über eine Reihe von Paarformeln, deren Funktion allerdings in einer „Frühform der Definition“30 gesehen werde müsse:

„[…] sie mag ursprünglich magischen Charakter gehabt haben, in ihr liegt aber nicht wie bei der Variation ein behagliches Auskosten der gleichen Vorstellung in verschiedenen Stilfiguren, sondern sie visiert deutlich ein ganzes an und läßt sich im allgemeinen nicht in ihre Bestandteile zerlegen […]“31

Die der Rechtssprache eigentümliche Bildhaftigkeit sieht Sonderegger ebenso als zweckgebunden an. Rechtssprache, so Sonderegger weiter, verfahre nicht nach ästhetischen Kriterien, sondern nach dem Grundsatz der Eindeutigkeit und Einprägsamkeit. Er kommt zu dem Schluss, dass Grimms Ausführungen „eigentlich gar kein Beitrag zur Rechtssprachenforschung, sondern ein Aufsatz zur romantischen Lehre von den Dichtungsgattungen“32 seien.

Köbler, der zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt wie Sonderegger, versucht basierend auf den Analysen von Harald Erhardt33 und Bärbel Baum34 zum Stabreim, „das Verhältnis der einzelnen Stabreime zum Gesamtumfang einer ausgewählten Quelle zu ermitteln.“35 Dabei grenzt er Zufallsstabreime und Absichtsstabreime voneinander ab. Als Zufallsstabreim bezeichnet er das zufällige Aufeinandertreffen gleich anlautender Wörter, die er als logische Folge des begrenzten Lautsystems einer jeden Sprache ansieht. Für das Althochdeutsche ← 19 | 20 → berechnet er anhand des Althochdeutschen Wörterbuchs von Rudolf Schützeichel36 die statistische Häufigkeit von Zufallsalliterationen mit 7,788%37, wobei er zwar die grundlegenden Möglichkeiten der Stabreimbildung im Althochdeutschen berücksichtigt, sich dennoch der Fehleranfälligkeit seiner Rechnungen bewusst bleibt.38 In einem nächsten Schritt untersucht er die Häufigkeit von Stabreimen im Hildebrandslied. Dabei kommt er bei 441 Wortformen auf eine Gesamtzahl von 80 Stabreimen, was einen Anteil von ca. 18% ausmacht, wobei er nicht nur direkt aufeinanderfolgende, sondern auch weiter auseinanderliegende Worte betrachtet. Bei direkt aufeinanderfolgenden Worten liegt die Häufigkeit bei 12%. Aus der näheren Betrachtung der stabenden Worte schließt er, dass „der Stabreimdichter aus formalen Gründen zu bewußter Wortwahl gezwungen ist.“39

Da frühmittelalterliche Rechtsquellen zumeist lateinisch abgefasst sind, greift Köbler zur Untersuchung der Häufigkeit von Stabreimen auf die Sprüche des Ingelheimer Oberhofs zurück, von denen Adalbert Erler40 behauptet, dass in ihnen der Stabreim häufig vertreten sei. Von ca. 2.500 erfassten Sprüchen wählt er 66 per Zufallsprinzip aus (13.730 Wortformen). In diesen kann er 27 Stabreime nachweisen (pro ca. 500 Wortformen ein Stabreim), also nicht einmal ein Stabreim pro Schöffenspruch, und urteilt daher, dass „[d]emnach […] keine Rede davon sein [kann], daß der Stabreim in Ingelheim häufig ist.“41 Viele der auftretenden Stabreime, wie z.B. Schultheiß und Schöffen, identifiziert er als Zufallsstabreime oder wie mogende und macht als regionale Eigentümlichkeit. Bei der Untersuchung eines einzelnen 183 Worte umfassenden Urteils kommt er auf 15 Zufallsstabreime und einen Absichtsstabreim, dies ergebe „für den Zufallsstabreim in etwa die vorausberechnete Wahrscheinlichkeit und für den Absichtsstabreim die vermutete Seltenheit“42.

Als weiteres Argument gegen die Alliteration als spezifisch germanische Erscheinung, die dem ungelehrten Sprachempfinden entspringe, führt Köbler die ← 20 | 21 → ausführliche rhetorische Schulung mittelalterlicher Schreiber an43, die eine unbeeinflusste Wortwahl (nahezu) unmöglich mache. Er kommt zu dem Ergebnis, dass zwar Absichtsalliterationen in Rechtstexten auftreten, eine Häufung dieser in Relation zum Gesamttext aber nicht nachweisbar sei und so die Basis für alle zum Stabreim vorgetragenen Theorien als hinfällig angesehen werden könnten.44

Mit Fokus auf die Paarformel in mittelalterlichen Rechtsquellen entstehen in Grimms Nachfolge verschiedene, thematisch eingegrenzte Arbeiten, die vorwiegend das Verhältnis von lateinischen und deutschen Formeln zu beleuchten versuchen, wie z.B. die Arbeit von Dietrich Schäfer, die das Verhältnis der Formel mit minne oder mit rechte zu der im Wormser Konkordat auftretenden Formel consilio vel iudicio untersucht.45 Dabei ist Schäfer weder der Erste noch der Letzte, der sich mit dieser Formel beschäftigt: Bereits 1866 hat Carl Gustav Homeyer46 eine Untersuchung zu dieser Formel vorgelegt, die auch in der Folgezeit z.B. bei Erich Gaisser mit Blick auf die Schöffensprüche47, bei Hans Hattenhauer mit der Frage, ob minne und rëht als Ordnungsprinzipien des mittelalterlichen Rechts gelten können48 oder Hermann Krause mit der Betrachtung des Sinngehalts der Formel ausführlich behandelt wurde.49 Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Paarformeln in der Urkundensprache, wobei hier sowohl Überblicksdarstellungen zur ← 21 | 22 → Verwendung von Paarformeln und ihrer Abhängigkeit von lateinischen Vorlagen als auch Einzelfallbetrachtungen unternommen werden.

In der neueren Zeit hat sich auch die Phraseologieforschung mit der Paarformel bzw. der formelhaften Sprache in historischen Sprachstufen auseinandergesetzt. Dabei liegt neben der Frage nach Auftreten und Funktion von Paarformeln ein wesentlicher Forschungsschwerpunkt auf der Untersuchung von Wandelerscheinungen, denen formelhafte Wendungen im Laufe ihres Gebrauchs z.B. in der Lexik oder Semantik unterliegen. Hier sind v.a. die Arbeiten von Harald Burger und Natalia Filatkina zu nennen, aber auch diverse Einzeluntersuchungen zu Variation, Entstehung und Entwicklung von Paarformeln.

Zunächst sollen aber ihrer Chronologie folgend die umfassenderen Arbeiten, d.h. zur gesamten Rechtssprache und Urkundensprache, vorgestellt werden. Daran anschließend werden die thematisch auf die Analyse einer Formel begrenzten Untersuchungen behandelt und abschließend die Sichtweise der (historischen) Phraseologie auf die sprachliche Erscheinung ‚Paarformel‘ vorgestellt.

Auch wenn auf eine Darstellung der Arbeiten zu Paarformeln in literarischen Texten weitestgehend verzichtet wird, sollen zunächst die Ausführungen Richard Moritz Meyers kurz dargestellt werden, da sich hier der früheste Versuch einer Definition der Paarformel findet. Meyer verwendet in seiner Untersuchung zur altgermanischen Poesie von 1889 ausschließlich den Begriff der Zwillingsformel und definiert diese

Meyer versteht Zwillingsformeln als variierende Doppelung, wobei es für ihn unerheblich ist, ob die verbindende Partikel kopulativ oder disjunktiv ist, da sich die Glieder der Formel in beiden Fällen zu einem höheren Begriff verbinden. Dieser Begriff wäre in Bezug auf die Rechtssprache wohl als Rechtsbegriff zu bezeichnen. Bei der Binnendifferenzierung der Zwillingsformeln unterscheidet Meyer zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien: Inhaltlich differenziert er tautologische ← 22 | 23 → und antithetische Formeln; formal zwischen stabreimenden, endreimenden und reimlosen Formeln.51 Seiner Differenzierung nach Inhalt und Form schließen sich in der Folge zahlreiche Untersuchungen auch terminologisch an.

Weiterhin beschäftigt sich Meyer mit der Frage nach der Herkunft der Paarformeln, die er als eine Komprimierung von altgermanischen Langverszeilen ansieht.52

In Anlehnung an Meyers Ausführungen untersucht Gerhard Salomon 1919 „[d]ie Entstehung und Entwicklung der deutschen Zwillingsformeln“. Dabei grenzt er sich sowohl bezüglich der Begriffsdefinition als auch hinsichtlich der Frage nach der Herkunft stark von Meyer ab. Auch wenn er die Häufigkeit des Auftretens als Hauptkriterium zur Bestimmung von Formelhaftigkeit ansetzt, so möchte er dennoch auch nur einmal auftretende Formeln, sofern diese durch formale Mittel gefestigt sind und einen Oberbegriff bilden, nicht von der Untersuchung ausschließen. Letztlich erklärt er die „Einheitlichkeit des Sinns“53 zum wichtigsten Merkmal der Zwillingsformel und führt aus:

Details

Seiten
342
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653061628
ISBN (ePUB)
9783653954012
ISBN (MOBI)
9783653954005
ISBN (Hardcover)
9783631670125
DOI
10.3726/978-3-653-06162-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Sprachgeschichte Phraseologie Rechtsgeschichte Stadtgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 342 S., 13 s/w Abb., 23 Tab.

Biographische Angaben

Frauke Thielert (Autor:in)

Frauke Thielert studierte Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt in mittelalterlicher Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und wurde im Bereich der historischen Linguistik promoviert.

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