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Neue Formen des Poetischen

Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur

von Irene Pieper (Band-Herausgeber:in) Tobias Stark (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 263 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge des Bandes stellen ausgewählte gegenwartsliterarische Texte in den Horizont literaturdidaktischer Überlegungen und arbeiten deren Potenzial heraus: Es gehört zu den Charakteristika neuester Literatur, dass sie in vielfältiger Weise auf literarische Vorbilder, formal-ästhetische Muster und das Archiv des kulturellen Gedächtnisses Bezug nimmt. Dabei bezieht sie ein Spektrum medialer Möglichkeiten ein. In der Literatur der Gegenwart zeigen sich neue Formen des Poetischen, die sich in bemerkenswerter Weise auf Vorgängiges beziehen und erst vor der Folie des Alten verständlich werden. Differenzerfahrungen können geradezu eine kanonische Basis verlangen. In didaktischer Perspektive sind solche Texte daher herausfordernd, zugleich aber äußerst ergiebig für das literarische Lernen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Irene Pieper & Tobias Stark - Einleitung: Zum Potenzial der Gegenwartsliteratur im didaktischen Kontext
  • Jan Wittmann - Unzuverlässiges Erzählen im Deutschunterricht: Kehlmanns Roman „Ruhm“
  • Tobias Stark - Metafiktionalität in Marc-Uwe Klings Die Känguru-Chroniken – Didaktische Potenziale für den Literaturunterricht in der Sekundarstufe I
  • Jochen Heins - Textinterne semantische Bildzusammenhänge herstellen: Zu einigen Anforderungen von neuen Formen parabolischen Erzählens. Gezeigt anhand aufgabenbasierter Zugänge zu Jürg Schubigers Wie man eine Hilfe findet
  • Dorothee Wieser - Literatur-Comics im Reigen medialer Erzählformen: Literaturdidaktische Sinnfälligkeiten und Widerhaken – am Beispiel von Kafkas Die Verwandlung
  • Gabriela Scherer - Anforderungen und didaktisches Potenzial aktueller Erinnerungsliteratur in Form von Graphic Novels – Reinhard Kleists Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft
  • Christian Müller - Autorenlesungen in ihrer Diversität. Zur Rezeption von Gegenwartsliteratur im Internet
  • Andreas Wicke - Intertextualität in zeitgenössischen Theatertexten. Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete und Elfriede Jelineks Winterreise aus didaktischer Perspektive
  • Carlo Brune - Kulturelles Archiv und popkulturelle Inszenierung als Thema des Literaturunterrichts – Melancholische Reflexions-Motorik in Gisbert zu Knyphausens Album Hurra! Hurra! So nicht
  • Irene Pieper & Gabriele Rohowski - „Poesie ist einer der Kanäle, durch die etwas Neues in die Welt tritt.“ – Zugänge zu Jan Wagners Regentonnenvariationen und Ulrike Draesners subsong eröffnen
  • Wiebke von Bernstorff - Daniela Danz: V. Gedichte – Eingang, Struktur und Form
  • Heidi Rösch - Von der Migrations- zur postmigrantischen Literatur? Ansätze einer postmigrantischen Lesart

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Irene Pieper & Tobias Stark

Einleitung: Zum Potenzial der Gegenwartsliteratur im didaktischen Kontext

Es gehört zu den Charakteristika der neuesten Literatur, dass sie in vielfältiger Weise auf literarische Vorbilder, formal-ästhetische Muster und das Archiv des kulturellen Gedächtnisses Bezug nimmt. Dabei bezieht sie ein Spektrum von Medien und medialen Möglichkeiten ein. Dass sich in der Literatur der Gegenwart neue Formen des Poetischen zeigen, die sich in bemerkenswerter Weise auf Vorgängiges beziehen, ist eine der Ausgangsbeobachtungen dieses Bandes: Die neuen Formen sind nicht traditionslos. Vielmehr lässt sich das Neue oft erst vor der Folie des Alten begreifen, Differenzerfahrungen können geradezu eine kanonische Basis verlangen. Wo diese fehlt, fehlen auch die Erwartungsmuster, vor deren Hintergrund aktuelle Texte oft erst verständlich und interessant werden.

Aus literaturdidaktischer Perspektive können neue Formen des Poetischen daher voraussetzungsreich in Bezug auf literarische Vorwissensbestände sein. Am Beispiel der Beiträge dieses Bandes und ihrer Bezugsgegenstände präzisiert:

Ist die Pindar’sche Ode oder die Terzine nicht bekannt, kann deren frei variierende Wiederaufnahme bei Daniela Danz oder Jan Wagner nicht interpretiert werden (Beitrag Bernstorff und Beitrag Pieper/Rohowski). Den intertextuellen Bezugsraum zeitgenössischer Dramatik etwa bei Elfriede Jelinek auszuloten gelingt ebenfalls nur dann, wenn die jeweiligen Hypotexte (Gérard Genette) identifiziert werden können (Beitrag Wicke). In Jürg Schubigers kurzen Prosatexten die Spuren von Parabel und Märchen zu erkennen und für das Verständnis fruchtbar machen zu können, erfordert es, entsprechende Gattungsschemata aufrufen zu können oder aber entsprechende Verstehenshilfen zu erhalten (Beitrag Heins). Den Witz unzuverlässigen und metafiktionalen Erzählens zu erfassen, dürfte bei Vertrautheit mit traditionelleren Erzählverfahren leichter gelingen (Beitrag Wittmann und Beitrag Stark). Dass die Rede von postmigrantischer Literatur oder Lektüre nur vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Migrationsliteratur möglich ist, deutet das „post-“ bereits an (Beitrag Rösch). Und die Interpretation und Bewertung von Literatur-Comics zu Kafkas Die Verwandlung profitiert entschieden von der Kenntnis der Erzählung Kafkas (Beitrag Wieser).

Auch andere kulturelle Wissensbestände sind in der Gegenwartsliteratur in der Weise aufgehoben, dass ihr Fehlen deren Rezeption behindern dürfte: Aktuelle Graphic Novels im Bereich der literarischen Erinnerungskultur arbeiten mit der ← 7 | 8 → Verfügbarkeit von Bildern des Holocaust, ohne diese selbst ins Bild zu setzen. Zugleich setzen die Bildangebote dieser Text-Bild-Medien die mentale Verfügbarkeit der ausgelassenen Bilder offenbar voraus (Beitrag Scherer). Auf das Archiv des Melancholiediskurses wird in aktuellen Popsongs zurückgegriffen, die dann, wenn dieser als Horizont eröffnet wird, neu hörbar werden können (Beitrag Brune).

Der angesprochene Zusammenhang von neuen Formen und quasi kanonischem Wissen kann dazu führen, dass gegenwartsliterarische Texte schnell als zu voraussetzungsreich für Kontexte des literarischen Lernens angesehen werden: Die Schule ist in aller Regel nicht der Ort, an dem Expertenlektüren auf der Basis satter literarischer Erfahrungen erwartet werden können. Zugleich gilt allerdings, dass auch diejenigen Texte, die es längst in den schulliterarischen Kanon geschafft haben, vielfach voraussetzungsreich im Bereich des fachlichen Wissens sind, wenn eine bestimmte Differenziertheit der Lesarten erreicht werden soll (cf. Pieper/Wieser 2012). Insofern zeigt sich im Feld der Gegenwartsliteratur lediglich erneut eine Schwierigkeit, die Literatur in Vermittlungs- und Erwerbskontexten grundsätzlich betrifft. Als kulturelle Phänomene haben die Texte Vor- und Nachgeschichten und stehen in Kontexten, deren Verfügbarkeit keinesfalls selbstverständlich ist. Während eingeführte Schullektüren aber auch über eine mehr oder weniger lange Geschichte der Modellierung ihres Einsatzes im Unterricht verfügen, können neueste Texte in der Regel nicht auf den „Verstärkereffekt von Lernmitteln“ (Korte 2002: 72) rechnen.

Unter den fünf Gründen, die Sabine Pfäfflin dafür ausmacht, dass die jüngste Literatur im Literaturunterricht nicht sehr präsent ist, ist bezeichnenderweise nur einer, den man als ästhetisch motiviert bezeichnen könnte. Pfäfflin weist darauf hin, dass (1) die jeweils aktuellen Texte noch nicht eindeutig als wertvoll markiert sind und damit noch keine unstrittige Geltung als Unterrichtsgegenstände haben, (2) dass es für diese Texte meist weder Forschungsliteratur noch Unterrichtsmodelle gibt (dies ist an Kortes Rede vom Verstärkereffekt anschlussfähig), (3) dass es Lehrkräften angesichts der Flut von Neuerscheinungen am literarischen Markt schwer falle, sich hinreichend zu orientieren. Sie konstatiert (4) eine Spannung zwischen den Charakteristika dieser Literatur und verbreiteten schulischen Interpretationsritualen und verweist (5) darauf, dass aus der Perspektive von Lehrpersonen schlicht die Zeit fehle, neben den traditionellen Gegenständen auch noch aktuelle literarische Texte im Unterricht zu lesen (cf. Pfäfflin 2010: 10-11). Die unter (4) angesprochenen Charakteristika beziehen sich darauf, dass die entsprechenden Texte häufig als in besonderer Weise bedeutungsoffen erscheinen. Interpretationen, die nach dem Modell der eindeutigen Lösung eines Verstehensproblems strukturiert werden, sind entsprechend nur bei Ausblendung ← 8 | 9 → des textuellen Mehrdeutigkeitspotenzials zu erreichen. Das hier angesprochene ästhetische Kriterium gilt freilich auch für eine lange Reihe schulkanonischer Texte (etwa die Erzählungen Heinrich von Kleists) und ist sicherlich nicht allein textseitig zu verorten, sondern auch einem Interpretationsideal geschuldet, das das Literarizitätskriterium Mehrdeutigkeit insofern aufnimmt, als es die implizit kritisierten Vereindeutigungen im Ritual vermeidet.

Fasst man aber die Beobachtungen Pfäfflins zusammen, so lässt sich festhalten, dass die Gründe für die Nicht- oder Kaum-Präsenz der jeweils neuesten Texte in schulischen Kontexten nicht mit deren spezifischer Gestalt zu tun haben, sondern eher damit, dass sie didaktisch nicht erschlossen sind: Bis zu der Fragestellung, für welche Lernenden vor dem Hintergrund welcher Zielperspektiven welcher Text potenziell geeignet sein könnte, wird demnach gar nicht erst vorgedrungen.1

Umso mehr lohnt sich allerdings die Entfaltung entsprechender didaktischer Perspektiven auf gegenwartsliterarische Texte, um deren Potenzial für das literarische Lernen profilieren zu können. Eine genaue Wahrnehmung der neuen Formen des Poetischen könnte nicht zuletzt zur Elaboration möglicher Zieldimensionen des Literaturunterrichts beitragen. So trägt die Auseinandersetzung mit Metafiktion potenziell zur Ausbildung von Fiktionsbewusstsein bei, die Begegnung mit hybriden Gattungen fordert die Differenzierung des Gattungswissens heraus, die Graphic Novel das Bild-Text-Verstehen und die sprachexperimentelle Lyrik kann das Bewusstsein für die Bedeutung von Rhythmus in der Poesie schärfen.

Nimmt man die Gegenwärtigkeit der Gegenwartsliteratur ernst, so ermöglicht sie zudem Einblicke in Praktiken des aktuellen literarischen Kulturbetriebs (Literaturkritik, Literaturpreise, Literaturstreit, etc.), Erfahrungen mit Spezifika der Mediatisierung, wie sie etwa die Inszenierungen von Autorenlesungen im Internet zeigen (Beitrag Christian Müller), und Erfahrungen im Umgang mit dem literarischen Schreiben (Workshops mit Schriftstellern, Autorenlesungen, Entstehung von Netzliteratur, etc.). Die Autor/innen der Gegenwart sind in spezifischer Weise ansprechbar und tragen selbst nicht selten zur Vermittlung ihrer Werke bei. Literatur lässt sich so als Teil des kulturellen Lebens der Gegenwart wahrnehmen.

Der folgende Band wendet sich den neuen Formen des Poetischen mit dem Ziel entsprechender Erkundungsgänge zu. Er geht auf die Sektion „Neue Formen ← 9 | 10 → des Poetischen: Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur“ zurück, die im Rahmen des 20. Symposion Deutschdidaktik in Basel 2014 stattfand.2 Die Sektion bearbeitete damit eine zentrale Herausforderung literaturdidaktischer Arbeit, nämlich diejenige der Verbindung von Gegenstands- und Lernerorientierung mit Blick auf die Förderung des literarischen Lernens.

Immer wieder ist in den letzten Jahren betont worden, dass die didaktische Analyse literarischer Texte zu den zentralen Aufgaben von und auch Herausforderungen von Lehrpersonen und Studierenden des Lehramts gehört. Dabei sind die Dimensionen Lerner/innen, Zielorientierungen und Text in der Weise aufeinander zu beziehen, dass eine differenzierte Modellierung von Textverstehens- und Interpretationsprozessen möglich wird. Unter didaktischen Potenzialen werden damit nicht monopolisierte Texteigenschaften verstanden, vielmehr sollten in der Rede von didaktischen Potenzialen die drei genannten Dimensionen vermittelt bzw. expliziert werden.3

Die Autor/innen unseres Bandes nehmen solche Texte in den Blick, die unter der Perspektive der „neuen Formen“ aufschlussreich sind, und entfalten deren Potenziale unter gegenstands- und lernerorientierten Fragestellungen. Es versteht sich von selbst, dass der Band keinen repräsentativen Gang durch die Literatur der Gegenwart vorlegen kann. Zugleich wendet er sich einem in der Gegenwartsliteratur durchaus prominenten Spektrum unterschiedlicher Gattungen und Formen zu.

Jan Wittmann beleuchtet anhand des Romans Ruhm von Daniel Kehlmann (2009)4 das Potenzial einer Auseinandersetzung mit unzuverlässigen und metafiktionalen Erzählverfahren im Literaturunterricht. Diese prominenten Darstellungsformen postmoderner Literatur werden mit Bezugnahme auf Kehlmanns Text begrifflich bestimmt. Hierauf baut die anschließende didaktische Analyse auf, mit der die spezifischen Verstehensanforderungen und -möglichkeiten des Textes, die sich auf die Subversion herkömmlicher Erzähltraditionen zurückführen lassen, in den Blick genommen werden. Die Notwendigkeit einer Betrachtung dieser Form des unzuverlässigen Erzählens im Literaturunterricht ergibt sich, so wird argumentiert, aus der deutlichen Korrespondenz zum thematischen Kern des Textes. Ebenso wird herausgestellt, dass das unzuverlässige Erzählen durch die Irritation vorhandener Konzepte literarischer Narration für Lernende lesemotivierend ← 10 | 11 → wirken kann. Diese literarischen Erzählformen können sich in einem medienintegrativ ausgerichteten Deutschunterricht als höchst anschlussfähig an die filmischen Rezeptionsgewohnheiten von Schüler/innen erweisen.

Der Beitrag von Tobias Stark nimmt ausgewählte Aspekte der Metafiktionalität in Marc-Uwe Klings Die Känguru-Chroniken (2009) in den Blick. Untersucht werden insbesondere die Herausforderungen des metafiktionalen Spiels mit Fiktionssignalen und Authentizitätsfiktionen für das Fiktionalitätsbewusstsein sowie die Potenziale metafiktionaler Erzählweisen für die Thematisierung der literarischen Perspektivgestaltung und für den Erwerb von Erzähltextanalysewissen. Zudem sollte idealerweise aber auch – insbesondere für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I – das komische und lustvoll spielerische Potenzial der Metafiktionalität des Textes im Sinne der literaturbezogenen Genussfähigkeit genutzt werden.

Ausgangspunkt der Untersuchung von Jochen Heins ist die Beobachtung, dass neue Formen parabolischen Erzählens hohe Anforderungen an den Umgang und das Verstehen von Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit stellen. Für den Erwerb von komplexen Verstehensprozessen erscheinen, so die Argumentation, solche moderne Parabeln zielführend, die als poetologisch ‚einfach’ zu bezeichnen sind. ‚Einfache’ Darstellungsstrategien im Sinne Maria Lypps (z. B. Lypp 2005) werden exemplarisch anhand einer modernen Parabel von Jürg Schubiger skizziert: Wie man eine Hilfe findet (1995). An die gegenstandsbezogene Perspektive schließt sich eine empirisch lernerorientierte Analyse an. In dieser wird in aufgabenbasierten Aushandlungsprozessen drei elementar-poetischen Verfahren nachgegangen, die wechselseitig Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit provozieren. Der Beitrag mündet in die Erkenntnis, dass gegenstandsseitige Potenziale ohne eine angemessene didaktische Modellierung der Verstehensprozesse nicht ertragreich werden können. Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass didaktisches Potenzial ein Ergebnis der Passung von textseitigen Anforderungen, Lernvoraussetzungen und didaktischer Modellierung ist. Seine Bestimmung, so zeigt sich darüber hinaus, profitiert erheblich von empirischen Einsichten in die – in diesem Fall systematisch strukturierten – Rezeptionsprozesse von Lernenden.

Dorothee Wieser widmet sich in ihrem Beitrag den Potenzialen von Literatur-Comics als Gegenstände literarischen Lernens und unterscheidet anhand zweier ebenso bemerkenswerter wie unterschiedlicher Adaptionen zu Franz Kafkas Klassiker Die Verwandlung (1912/1915) – Corbeyran/Horne, Die Verwandlung (2010) und Peter Kuper, Metamorphosis (2003) – drei mögliche Zugänge unter didaktischer Perspektive: (1) den Einsatz von Literatur-Comics zur Vertiefung von Interpretationsfragen in einer Bewegung vom Text zum Comic und zurück, (2) die Berücksichtigung von Literatur-Comics, um mediale Differenzen zu fokussieren ← 11 | 12 → und (3) ihre Berücksichtigung, um diese als komplexe Text-Bild-Kombinationen, zugleich primär als eigenes Kunstwerk zu untersuchen. Wieser arbeitet unter anderem die konstruktiven (Stör-)Potenziale des Literatur-Comics heraus, die im Sinne von Differenzerfahrungen fruchtbar zu machen wären.

Im Beitrag von Gabriela Scherer wird der Frage nachgegangen, welche Resonanzen Reinhard Kleists dokumentarische Graphic Novel Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft (2012) im ungelenkten Rezeptionsprozess jugendlicher Leser/innen (12–19jährig) zeitigt. Die diskutierten Daten stammen aus Lesetagebüchern, die die Proband/innen parallel zu ihrer freiwilligen, außerschulischen Lektüre der Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Hertzko Haft führten. Fragt man nach didaktischen Folgerungen, die sich daraus für den Literaturunterricht hinsichtlich der Steuerung und der Begleitung der Lektüre ergeben, so müssen Vorbehalte gegen die Literarisierung und Bebilderung des Undarstellbaren, insbesondere in einem unter Trivialitätsverdacht stehenden Medium, ernst genommen werden. Ziel des Beitrags ist es aber gerade auch, für das Bildungspotenzial zu sensibilisieren, das ein bildliterarischer Kunstgegenstand wie Kleists Graphic Novel eröffnet, der mit seiner Orientierung am biographischen Genre nicht zuletzt auch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Erinnerungsliteratur der Shoah leistet.

Christian Müller konzentriert sich in seinem Beitrag auf neue Formen von Autorenlesungen. Im Zeitalter digitaler Medien erfahren, so das Argument, Orte literarischer Öffentlichkeit eine reizvolle Erweiterung. Das Internet als Ort der Präsentation und Rezeption von Gegenwartsliteratur bietet eine wachsende Anzahl an dort abrufbaren Autorenlesungen, die sich neben traditionellen Live-Autorenlesungen etablieren könnten. Diese neuen Darstellungsformen von Autorenlesungen werden im Zuge ihrer Produktion für eine digitale Präsentation inszeniert und online veröffentlicht. Im Beitrag Müllers werden die digitalen Formate in ihrer Diversität beschrieben und miteinander verglichen. Darüber hinaus unterzieht der Autor unterschiedliche Beispiele von Online-Autorenlesungen einer Analyse zur Eröffnung möglicher didaktischer Potenziale.

Dem Bereich der Intertextualität wendet sich Andreas Wicke zu. Das – je nach intertextualitätstheoretischer Grundlegung – omnipräsente Phänomen in der zeitgenössischen Kultur zeigt sich in besonderer Deutlichkeit in zwei neueren Theatertexten, die jeweils auf prominente Werke der Kulturgeschichte verweisen. Elfriede Jelineks Winterreise (2011) sowie Ewald Palmetshofers faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (2009) geben den Bezug zu Franz Schuberts und Wilhelm Müllers Liederzyklus Die Winterreise (1827) sowie Goethes Faust (1808) bereits im Titel preis. Auf der Grundlage seiner Analyse skizziert Wicke drei Dimensionen einer Didaktik der Intertextualität: Erstens müssen die Schüler/innen ← 12 | 13 → für Markierungen von Intertextualität sensibilisiert werden, um entsprechende Verweise überhaupt zu erkennen. Zweitens sollen sie aus der Beziehung von Prä- und Posttext eigene Deutungshypothesen ableiten, hier steht also das Verstehen intertextueller Anspielungen im Vordergrund. Drittens geht es darum, das intertextuelle Spiel weiterzudenken und fortzuspinnen. Über den analytischen und interpretatorischen Aspekt hinaus soll Intertextualität als ästhetisches Phänomen erfahrbar werden.

Gegenstand des Beitrags von Carlo Brune ist das 2010 vom Hamburger Songwriter Gisbert zu Knyphausen veröffentlichte Album Hurra! Hurra! So nicht. Ausgehend von grundlegenden Überlegungen zu dem im Deutschunterricht immer noch geringen Stellenwert zeitgenössischer Popmusik und zu zentralen Begrifflichkeiten um Pop und Melancholie werden die Spuren, die das Album Knyphausens zum Melancholiediskurs legt, näher in den Blick genommen. Didaktisch werden hiermit verschiedene Ziele verfolgt: Es wird möglich, über ein zeitgenössisches und Schüler/innen gut zugängliches Beispiel aus dem Bereich der Popkultur Einblicke in das kulturelle Archiv des Melancholiediskurses zu erlangen. Hiermit verbinden sich aber nicht nur Ziele einer kulturellen Bildung; eine Auseinandersetzung mit dem Thema vermag potenziell auch persönlichkeitsbildend zu wirken. Schließlich wird der für Pop typische spielerisch-ironische Zugriff auf das Archiv herausgearbeitet – und so zugleich das ästhetische Potenzial popkultureller Kunstformen.

Die folgenden beiden Beiträge widmen sich drei resonanzstarken Gedichtbänden und plädieren dafür, auch deren konzeptionelle Zusammenhänge didaktisch fruchtbar zu machen.

Im Zentrum des Beitrags von Irene Pieper und Gabriele Rohowski steht die Auseinandersetzung mit neuen Formen des Poetischen im Bereich aktueller Lyrik von Jan Wagner und Ulrike Draesner. Sie betrachten die Gedichtbände Regentonnenvariationen (Jan Wagner) und Subsong (Ulrike Draesner, beide 2014) daraufhin, vor welche Herausforderungen sie ihre mehr oder weniger erfahrenen Leser/innen stellen können. Pieper/Rohowski thematisieren die Variation klassischer Gedichtformen bei Wagner und den häufig sprachexperimentellen Zugriff Draesners, dies auch vor dem Hintergrund poetologischer Äußerungen Wagners und Draesners, und eröffnen exemplarisch Zugänge zu einzelnen Gedichten der Bände. Es wird deutlich, dass ein elaboriertes Textverstehen genauer, gegebenenfalls entsprechend moderierter Lektüre bedarf, für die der Beitrag Spuren legt. Dabei zeigt sich ein gewitztes Spiel mit Form und Sprache, das Schüler/innen einen neuen Blick auf die durchaus alltägliche Welt eröffnen und zugleich ihre Lyrikerfahrungen jenseits des unterrichtlichen Kanons substantiell erweitern kann. ← 13 | 14 →

Details

Seiten
263
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653062434
ISBN (ePUB)
9783653953619
ISBN (MOBI)
9783653953602
ISBN (Hardcover)
9783631670378
DOI
10.3726/978-3-653-06243-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Literaturdidaktik Literaturunterricht Gegenwartslyrik kulturelles Gedächtnis
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 263 S., 27 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Irene Pieper (Band-Herausgeber:in) Tobias Stark (Band-Herausgeber:in)

Irene Pieper ist Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hildesheim. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind Literarische Kompetenz und ihr Erwerb, Verstehen von Metaphern in literarischen Texten, Gegenstandskonstitution im Literaturunterricht und integrative Deutschdidaktik. Tobias Stark ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Didaktik der deutschen Literatur unter Einschluss der Mediendidaktik an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Textverstehens- und Interpretationsprozesse, Aufgabenstellungen im Literaturunterricht sowie das emotionale Erleben literarischer Texte.

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