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Die Bedeutung der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der strafprozessualen Revision

Vor dem Hintergrund der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung

von Claudia Karl (Autor:in)
©2016 Dissertation 532 Seiten
Reihe: Criminalia, Band 58

Zusammenfassung

Die Autorin beschäftigt sich zum einen mit der theoretischen Frage, wie Tat- und Rechtsfrage, wie Tatsächliches und Rechtliches im tatrichterlichen Urteil am besten zu scheiden sind und versucht zum anderen die dogmatisch hergeleitete Abgrenzungstheorie auf ihre Praxistauglichkeit zu testen. Durch Vornahme einer Rechtsprechungsanalyse der aktuellen Entscheidungen der Obergerichte ermittelt sie die Bedeutung der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der modernen Revisionsrealität für die Frage des revisibelen Bereichs im Sinne von § 337 StPO und die Zulässigkeit des Divergenzvorlageverfahrens gemäß §§ 121 Abs. 2, 132 Abs. 2 GVG und wirft die Abgrenzungsfrage neu auf. Durch Entwicklung eines eigenen methodischen Ansatzes unterbreitet dieses Buch einen aktuellen Vorschlag zur Problemlösung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der strafprozessualen Revision – ein Problemaufriss
  • B. Ziel der Arbeit und Herangehensweise
  • 1. Kapitel: Grundlagen der strafprozessualen Revision
  • A. Aufgabe der Revision
  • I. Die Revision als reine Rechtsinstanz
  • II. Differenzierung zur Berufung
  • B. Grundverständnis von der Revision
  • I. Beschränkte Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts
  • II. Prinzip der prozessualen Arbeits- und Verantwortungsteilung
  • 1. Grundsätze:
  • a) Bindung an die Tatsachenfeststellungen zur Schuld- und Rechtsfolgenfrage
  • b) eigene Feststellungen und Würdigung bezüglich prozessualer Vorgänge
  • 2. Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung ureigenste Aufgaben des Tatrichters
  • a) Begründungsansätze
  • aa) Verfahrensstruktur bei der Sachverhaltsfeststellung
  • bb) persönlicher Faktor bei der Beweiswürdigung
  • b) Zwischenfazit
  • C Zweck der Revision
  • I. Rechtseinheit und Rechtsfortbildung
  • II. Einzelfallgerechtigkeit
  • III. Verhältnis der Zwecke zueinander
  • IV. Stellungnahme
  • 2. Kapitel: Die Bedeutung der Abgrenzungsfrage in der strafprozessualen Revision
  • A. Umfang der Revisibilität
  • I. Ausgangspunkt: Gesetzesverletzung, § 337 Abs. 1 StPO
  • 1. Begriffsklärung
  • 2. ursprünglich Bestimmung durch Gegensatzpaar Tat-/Rechtsfrage
  • 3. historische Entwicklung der Revision
  • a) Sachrüge: sog. erweiterte Revision
  • b) Verfahrensrüge: „Abblockmechanismus“
  • c) Reformbemühungen de lege ferenda
  • II. Zwischenfazit: Abgrenzungsfrage obsolet?
  • B. Vorlagepflicht, §§ 121 Abs. 2, 132 Abs. 2 GVG
  • I. Grundlagen des Divergenzvorlageverfahrens
  • 1. Außendivergenz, § 121 Abs. 2 GVG
  • 2. Innendivergenz, § 132 Abs. 2 GVG
  • 3. Zweck der Vorlage
  • II. Vorlegungsvoraussetzungen
  • 1. Abweichung in entscheidungserheblicher Rechtsfrage
  • a) Begriffsklärung: Objektives oder subjektives Verständnis?
  • b) Verhältnis zur Grenzziehung des revisibelen Bereichs
  • 2. Praxisentwicklung
  • C. Zwischenfazit
  • 3. Kapitel: Überblick über die Abgrenzungstheorien
  • A. Einführung
  • I. Problemstellung
  • II. (Un-)Trennbarkeitstheorien
  • III. Möglichkeiten der Herangehensweise
  • B. Die logische Methode
  • I. Die begriffliche Methode
  • 1. These: Unterscheidung zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Begriffen
  • 2. Kritik aus der Literatur
  • II. Sprachanalytischer Ansatz
  • 1. These: Abgrenzung zwischen faktisches Geschehen beschreibenden Sätzen und Rechtssätzen
  • 2. Kritik aus der Literatur
  • III. Anderer Anknüpfungspunkt
  • 1. These: Differenzierung zwischen Tatsachenfeststellung und Tatsachenbewertung
  • 2. Kritik aus der Literatur
  • C. Die teleologische Methode
  • I. Abgrenzung nach dem Zweck der Revision
  • 1. These: Differenzierung zwischen „Frage des Einzelfalls“ und „Richtlinienfrage“
  • 2. Kritik aus der Literatur
  • II. Differenzierung nach der Relevanz der Entscheidung
  • 1. These: Unterscheidung zwischen genereller und individueller Relevanz
  • 2. Kritik aus der Literatur
  • D. Die prozessuale Methode
  • I. These: Grenzziehung nach der Leistungsfähigkeit des Revisionsgerichts
  • II. Kritik aus der Literatur
  • E. Zwischenmeinung: Die begrifflich-teleologische Methode
  • I. These: Korrekturen der begrifflichen Methode wegen Revisionszweck und beschränkter Leistungsfähigkeit
  • II. Kritik aus der Literatur
  • 4. Kapitel: Rechtsprechungsanalyse
  • A. Umfang der Revisibilität
  • I. sachlich-rechtliche Fehler i.e.S.
  • 1. Fallbeispiele aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und Bewertung
  • a) Einführung
  • b) Auslegung des Gesetzes
  • c) deskriptive Tatbestandsmerkmale
  • d) normative und unbestimmte Rechtsbegriffe
  • 2. Zusammenfassende These: Unterscheidung nach Erfordernis einer Wertung der Einzelumstände
  • 3. Kritik aus der Literatur
  • 4. Stellungnahme
  • II. Angriff gegen Urteilsfeststellungen und Beweiswürdigung
  • 1. Sachrüge
  • a) Grundlagen der sog. erweiterten Revision
  • b) Fallgruppen der obergerichtlichen Rechtsprechung und Bewertung
  • aa) Allgemeine Rechtsfehler
  • (1) Feststellungen tragfähige Tatsachengrundlage
  • (a) Anforderungen an ordnungsgemäße Feststellungen
  • (b) für Verurteilung erforderliches Beweismaß
  • (aa) Rechtsprechung
  • (bb) Kritik aus der Literatur
  • (cc) Stellungnahme
  • (c) Überspannte Anforderungen an die Überzeugung beim Freispruch
  • (2) Vollständigkeit der Beweiswürdigung
  • (a) Rechtsprechung
  • (b) Zwischenfazit
  • (3) Denkgesetze, Erfahrungssätze und offenkundige Tatsachen
  • (a) Rechtsprechung
  • (b) Kritik aus der Literatur
  • (c) Stellungnahme
  • (4) Auslegung von Erklärungen
  • (a) Rechtsprechung
  • (b) Kritik aus der Literatur
  • (c) Stellungnahme
  • (5) Sonderproblem: Anforderungen an die Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz bei Tötungsdelikten
  • bb) Besondere Rechtsfehler
  • (1) Lügen des Angeklagten
  • (2) Aussage gegen Aussage beim Zeugenbeweis
  • (3) Zeuge vom Hörensagen
  • (4) Identifizierung
  • (5) Sachverständigen- und Sachbeweis
  • c) Zusammenfassende These: erheblicher Eingriff in Tatfragen nach deren ursprünglichem Verständnis
  • d) Kritik aus der Literatur an der „erweiterten Revision“
  • e) Stellungnahme
  • 2. Verfahrensrüge
  • a) Grenzen der Nachprüfbarkeit
  • aa) „Ermessens“ entscheidungen
  • (1) Fallbeispiele aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und Bewertung
  • (2) Zusammenfassende These: grundsätzlich Unterscheidung nach Wertungsbedürfnis und Einzelfallabhängigkeit
  • (3) Kritik aus der Literatur
  • (4) Stellungnahme
  • bb) Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung
  • (1) Problemeinführung
  • (2) Grundsatzentscheidung BGHSt 29, 18
  • (3) Nachweis aufgrund parater Fakten – Fallgruppen der obergerichtlichen Rechtsprechung und Bewertung
  • (a) Nichteinführung eines Beweismittels
  • (b) Diskrepanz zwischen Urteilsfeststellungen und objektiven Beweismitteln
  • (c) Keine erschöpfende Beweiswürdigung
  • (4) Sonderfall: Nichtausschöpfung eines Beweismittels / alternatives Rügevorbringen
  • (a) Grundsatz: Rüge unzulässig
  • (b) Ausnahme: Nachweis aus Urteil selbst oder Fiktion
  • (5) Zusammenfassende These: Vorrang der Aufgabenzuweisung der Tatsachenfeststellung zum Tatrichter
  • (6) Kritik aus der Literatur, Lehre vom alternativen Rügevorbringen
  • (7) Stellungnahme
  • cc) Zwischenergebnis
  • B. Vorlagepflicht
  • I. Fallbeispiele aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und Bewertung
  • II. Zusammenfassende These: Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls
  • III. Kritik aus der Literatur
  • IV. Stellungnahme
  • 5. Kapitel: Fazit
  • A. Zusammenfassung der Ergebnisse der Rechtsprechungsanalyse
  • B. Stellungnahme zur Abgrenzungsfrage
  • I. (Un-)Trennbarkeitstheorien
  • II. logische Methode
  • III. teleologische Methode
  • IV. Leistungsmethode
  • V. begrifflich-teleologische Methode
  • C. Eigener Ansatz zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage
  • I. Grundüberlegungen
  • II. Das „Regelkriterium“ Neumanns
  • III. These: Kombination aus begrifflich-logischer Methode und Regelkriterium
  • D. Stellungnahme zur gegenwärtigen Bedeutung der Abgrenzung für den Umfang der Revisibilität
  • I. Ergebnisthesen Rechtsprechungsanalyse
  • II. These: Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage zur Bestimmung der Revisionsgrenzen nicht mehr geeignet
  • III. These: Kriterium des Rechtsfehlers in Form einer Regelverletzung
  • E. Fazit zum gegenwärtigen Stand der Revision und Empfehlungen für die Rechtspraxis
  • Literaturverzeichnis
  • Rechtsprechungsverzeichnis

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Einleitung

A. Die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der strafprozessualen Revision – ein Problemaufriss

„Rechtsfrage oder Tatfrage – Eine Frage ohne Antwort?“1 – So überschrieb Henke 1968 einen Aufsatz über die Problematik der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage im zivilprozessualen Revisionsrecht. Dieses Zitat lässt sich ohne weiteres auf die strafprozessuale Revision übertragen, in welcher die Frage, wie Rechtliches und Tatsächliches am besten zu scheiden sind, ebenfalls seit langer Zeit Schrifttum und Rechtsprechung beschäftigt.2 Der erste Hinweis auf ein Aufkommen der Abgrenzungsfrage findet sich in einem Gutachten zum 2. Deutschen Juristentag 1861, welches sich mit der Frage beschäftigt, ob ein Rechtsmittel der dritten Instanz eingeführt werden soll, das auf die Rechtskontrolle beschränkt ist. Von Sternenfels gab dazu zu bedenken, es sei „oft auch sehr schwer, die Grenze zwischen einer Thatfrage und Gesetzesanwendung zu bestimmen“.3 Vergegenwärtigt man sich die Streitpunkte, die mit der Abgrenzungsfrage verbunden sind, leuchtet schnell ein, warum sich das Schrifttum bereits frühzeitig mit der Thematik zu befassen hatte: Da die Revision anknüpfend an die obigen Gedanken in der Reichsstrafprozessordnung (RStPO) von 1877 als letztinstanzliche Rechtsinstanz ausgestaltet wurde, hat die Trennung zwischen den rechtlichen und den tatsächlichen Bestandteilen des angefochtenen Urteils zum einen Bedeutung für die Bestimmung der Grenzen des revisibelen Bereichs, d.h. des mit dem Rechtsmittel der Revision angreifbaren Stoffs des angefochtenen Urteils. Der historische Gesetzgeber der RStPO ging unbestreitbar davon aus, dass die Grenzen der Revisibilität mit Hilfe des Gegensatzpaares Tatfrage – Rechtsfrage zu bestimmen seien.4 Die Tatfrage – wozu insbesondere die Tatsachenfeststellung, die Beweiswürdigung und die Strafzumessung gezählt wurden – sollte grundsätzlich irrevisibel, die Rechtsfrage revisibel sein.5 Zum anderen lösen nur Rechtsfragen die Vorlagepflicht im Rahmen des Divergenzvorlageverfahrens gemäß §§ 121 Abs. 2, 132 Abs. 2 GVG ← 19 | 20 → aus – ein Institut zur Wahrung der Rechtseinheit zwischen den einzelnen Revisionsgerichten.

Die ersten, anlässlich des Zivilprozesses entwickelten Abgrenzungstheorien reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück6 und wurden später auch von einigen Vertretern des strafprozessualen Schrifttums aufgenommen; die ersten eigenen strafprozessualen Ansätze waren ab den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu verzeichnen.7 Zum Teil wurde die Frage, wie Tatfragen und Rechtsfragen am sinnvollsten zu unterscheiden sind, bereits frühzeitig als unlösbar bezeichnet, als „Knoten, dessen Lösung allen Menschenwitz übersteigen würde“8. Trotz der Vielzahl der von der Rechtswissenschaft unternommenen Abgrenzungsversuche vermissen einige Autoren bis heute eine trennscharfe, zuverlässige Abgrenzungsformel.9 Noch im 21. Jahrhundert wird die Suche nach einem Unterscheidungskriterium für die Grenzen der Revision als „Schlüsselfrage des Revisionsrechts überhaupt“10 bezeichnet. Aufgrund dieser einerseits betagten, weit in die Tiefen der RStPO zurückgehenden, zugleich aber im Hinblick auf die ihr nach wie vor zugemessene Brisanz, hochaktuellen Frage erscheint ein Vergleich der historischen Hintergründe und Intentionen mit der modernen Revisionsrealität – vermittelt durch höchstrichterliche Entscheidungen der Revisionsgerichte – wissenschaftlich überaus interessant und erörterungswürdig.

Die zur Problemlösung seitens der Literatur entwickelten Abgrenzungstheorien lassen sich im Wesentlichen in zwei Lager unterteilen: Die einen wollen eine logische Abgrenzung entsprechend der gesetzgeberischen Intention vornehmen – die anderen gehen von der Unmöglichkeit eines sauberen Trennung von Tat- und Rechtsfrage aus bzw. halten diese zur Bestimmung der Grenzen der Revision nicht für erforderlich und stellen stattdessen teleologische Erwägungen an.11 Wie schwierig die Abgrenzung im Einzelfall sein kann, zeigt sich an folgendem Beispiel: Wann ist eine Beleidigung „schwer“ im Sinne von § 213 StGB, sodass von einem minder schweren Fall des Totschlags auszugehen ist? Zum einen betrifft ← 20 | 21 → die Frage die Auslegung einer Gesetzesvorschrift, wonach zu bestimmen ist, was abstrakt-generell unter dem Begriff „schwer“ zu verstehen ist sowie ob der konkrete Sachverhalt unter den Rechtsbegriff subsumiert werden kann. Zum anderen erfordert die Einordnung einer Kränkung als „schwer“ eine persönliche Wertung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalles. Während der eine Richter bei einer Gesamtschau von Täter- und Opferverhalten und sonstiger besonderer Umstände angesichts der unklaren Begriffskonturierung möglicherweise eine ausreichende Schwere der Missachtung annehmen mag, setzt der andere womöglich strengere persönliche Wertmaßstäbe an und lehnt eine solche ab. Ist dann die Beurteilung des Tatrichters, ob die Beleidigung im Einzelfall „schwer“ war, Tat- oder Rechtsfrage?12

Seit Einführung der RStPO sind nunmehr fast 140 Jahre vergangen, in denen die Revision eine „nicht vorstellbare Entwicklung“13 durchlaufen hat. Insbesondere im Hinblick auf die Prüfungsmaßstäbe hat die Revisionswirklichkeit mit der Vorstellung des historischen Gesetzgebers von 1877 nicht mehr viel gemein. Zwar hat Alsberg bereits 1913 zur Rechtsprechungspraxis des Reichsgerichts festgestellt: „Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ist so oft völlig unberechenbar. Selbst derjenige, dem die Revision keine „Geheimlehre“ ist, kann nur selten die Aufhebung eines Urteils in der Revisionsinstanz mit Sicherheit voraussagen.“14 Jedoch hat sich die Problematik im Laufe der Zeit durch durchgreifende Veränderungen, insbesondere die Ausweitung der Prüfungskompetenzen in den Bereich der ursprünglich als irrevisibel geltenden Tatsachenfeststellung, Beweiswürdigung und Strafzumessung noch erheblich verschärft, dem Bundesgerichtshof wird heute eine uneinheitliche, nicht prognostizierbare Rechtsprechung, insbesondere im Bereich seiner selbst aufgestellten Beweiswürdigungskriterien vorgeworfen.15 Allgemein wird heutzutage überwiegend von einer Zunahme der Unsicherheiten ausgegangen, die Revision habe an Konturen und Berechenbarkeit verloren16, es wird sogar vom „Revisionslotto“17 gesprochen und manche sehen die Revision gar „in der Krise“18. Besonders unklar, monieren Kritiker, sei der Prüfungsumfang.19 Diese moderne Vertrauenskrise lässt sich statistisch belegen: Rosenau spricht von der „grundsätzlichen Erfolglosigkeit dieses Rechtsmittels“. Die Quote der Revisionserfolge bei Revisionen zum BGH – wobei unter Erfolgen in der Regel Aufhebungen mit Zurückverweisung, Freispruch oder Einstellung erfasst werden – liegt seit vielen Jahren relativ konstant bei ca. 10 ← 21 | 22 → bis 20 %20, die Erfolgsquote von Verfahrensrügen beträgt sogar teilweise unter 1 %21. Doch ist die Revisionsrechtsprechung der Obergerichte wirklich so uneinheitlich, unberechenbar, gar willkürlich, wie manche behaupten?

Angesichts der behaupteten Revisionswirklichkeit – die ausführlich zu untersuchen sein wird – stellt sich damit insbesondere im Hinblick auf die offenbar bestehende Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Prüfungsumfangs die grundlegende Frage, ob an der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage zur Bestimmung der Grenzen der Revisibilität festzuhalten ist. Bei der Vorlagepflicht verlangt das Gesetz in § 132 Abs. 2 GVG das Vorliegen einer Rechtsfrage. In § 337 StPO ist von „Tatfrage“ oder „Rechtsfrage“ nicht die Rede. Ist eine rein theoretische Abgrenzung überhaupt noch zeitgemäß, wenn die Rechtspraxis ohnehin schon längst nach ihren eigenen, richterrechtlich entwickelten Regeln verfährt? Ist eine solche dann eigentlich noch in der Lage, die gegenwärtigen Grenzen der Revision abzustecken? Inwieweit greifen die Revisionsgerichte in eigentlich irrevisibele Tatfragen ein, hängen Erfolg oder Misserfolg der Revision gar von der eigenen Überzeugungsbildung des Revisionsrichters in der Sache selbst ab22? Wird die Revision durch die Rechtsprechungspraxis in eine zweite, mit schlechteren Mitteln ausgestattete Tatsacheninstanz verkehrt? Die Antwort auf diese Fragen versucht die nachfolgende Dissertation zu leisten.

B. Ziel der Arbeit und Herangehensweise

Anliegen der folgenden Arbeit ist es, mittels einer Rechtsprechungsanalyse der Obergerichte die gegenwärtigen Grenzen der Revision in Strafsachen abzustecken sowie die Handhabung des Divergenzvorlageverfahrens aufzuzeigen und vor diesem Hintergrund die aktuelle Bedeutung der Abgrenzung von Tatfragen und Rechtsfragen in der strafprozessualen Revision zu bestimmen. Dabei soll in Anbetracht der Fülle der wissenschaftlichen Erörterungen zur Abgrenzungsfrage ein Überblick über deren wesentliche Grundgedanken gegeben werden, keinesfalls wird der Anspruch ← 22 | 23 → auf Vollständigkeit erhoben. Im Mittelpunkt steht die Abgrenzungsfrage in der modernen Rechtswirklichkeit und wie die Revisionspraxis mit ihr umgeht. Auf der Grundlage der aus der Analyse der obergerichtlichen Rechtsprechung gezogenen Erkenntnisse sollen die unternommenen Abgrenzungsversuche kritisch durchleuchtet und auf ihre Praxistauglichkeit getestet werden. Schließlich wird durch ein methodisches Vorgehen, das sich insbesondere am Wortlaut des Gesetzes und dem Sinn und Zweck der Revision in Strafsachen orientiert, ein modifizierter, eigener Ansatz zur Problemlösung unter dem Blickwinkel der Revisionsrealität entwickelt werden. Ziel des Vorgehens ist es dabei ein geeignetes Abgrenzungskriterium, sowohl für die Auslösung der Vorlagepflicht, als auch zur Bestimmung der Revisibilität, zu finden, das der Revisionswirklichkeit im 21. Jahrhundert gerecht wird. Die Arbeit versucht mithin durch eine Kombination aus rechtstheoretischen Abgrenzungsversuchen und einer Rechtsprechungsanalyse, durch eine Verschmelzung von Theorie und Praxis, die Problematik einer sinnvollen Lösung zuzuführen.

Um das Bewusstsein für das Problem zu schärfen, soll zunächst vor dem Hintergrund der Grundlagen der strafprozessualen Revision (1. Kapitel) die grundsätzliche Bedeutung der Abgrenzungsfrage für die Grenzziehung des revisibelen Bereichs sowie für die Vorlagepflicht aufgezeigt und unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung der Revision die Abgrenzungsfrage neu aufgeworfen werden (2. Kapitel). Daraufhin folgt ein Überblick über die wesentlichen, in der wissenschaftlichen Literatur vertretenen Abgrenzungstheorien (3. Kapitel). Das Kernstück der Arbeit bildet die Rechtsprechungsanalyse (4. Kapitel), welche versucht, einen möglichst weitläufigen Einblick in die jüngere revisionsgerichtliche Entscheidungspraxis der Obergerichte, insbesondere des Bundesgerichtshofs zur Frage der Revisibilität und zur Vorlagepflicht zu geben, sowie diese einer kritischen Bewertung zuzuführen. Trotz der schwerpunktmäßigen Erfassung neuerer Entscheidungen, werden zum Teil zur besseren Verständlichkeit bzw. mangels aktueller Urteile auch ältere Entscheidungen berücksichtigt. Abschließend werden die bisherigen Abgrenzungsbemühungen durchleuchtet und ein eigener Vorschlag zur Problemlösung aufbereitet (5. Kapitel).

Thematisch soll dabei die Revisibilität der sachlichrechtlichen Rechtsanwendung im engeren Sinn, der Tatsachenfeststellung sowie der Beweiswürdigung untersucht werden – die Rechtsfolgenentscheidung, insbesondere die Strafzumessung wird nicht als einzelner Bereich behandelt, wozu jedoch ein paar Worte veranlasst erscheinen:

Eine zusätzliche Abhandlung auch der Revisibilität der Rechtsfolgenentscheidung hätte sich zwar inhaltlich an die aufzugreifenden Fragen angeschlossen, sie stellt jedoch einen derart umfassenden, neue, eigenständige Folgeprobleme nach sich ziehenden Problemkreis23 dar, dass ihre Berücksichtigung, insbesondere in Anbetracht ← 23 | 24 → der vielfältigen Veränderungen seit den Revisionsanfängen und zahlreichen Revisionsentscheidungen zum Thema Strafzumessung, den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt hätte. Hinzukommt, dass im Bereich der Strafzumessung  – gesamtheitlich betrachtet beinahe einhellig anerkannt – eine vollends „richtige“ Entwicklung hin zurück zur möglichst umfassenden Nachprüfung der Rechtsfrage zu verzeichnen und damit eine gegenläufige Tendenz wie bei der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung festzustellen ist, wo den Revisionsgerichten ein Eingriff in nach der gesetzgeberischen Intention irrevisibele Tatfragen vorgeworfen wird. Zwar wurde die Strafzumessug anfangs wegen ihres Einzelfallcharakters ebenso wie die Beweiswürdigung als Tatfrage24 eingeordnet, die nach dem Willen des historischen Gesetzgebers der Revision entzogen sein sollte25; dieser „Irrtum“ wurde jedoch alsbald erkannt und der rechtliche Charakter der Strafzumessung in grundlegenden Werken zum Begriff des Ermessens und des unbestimmten Begriffs nachgewiesen, sodass sich sehr bald die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Strafzumessung durch die Anwendung der in den Strafgesetzen niedergelegten Strafarten und Strafrahmen, die Berücksichtigung der anerkannten Strafzwecke sowie die Ausfüllung der Strafgrenzen durch gesetzlich niedergelegte Grundsätze, im Wesentlichen Rechtsanwendung ist.26 Folge dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung war, dass der BGH nach und nach seine Eingriffsbefugnisse im Bereich der Revision ausgeweitet hat27 und heute nur mehr ← 24 | 25 → der konkrete Abwägungssakt im engeren Sinne, die sog. Umwertung, insbesondere die Bestimmung der konkreten Strafhöhe als irrevisibel gilt und lediglich auf ihre „Vertretbarkeit“28 überprüft wird.29 Der BGH hat damit im Laufe der Zeit nur seine anfängliche Fehleinschätzung korrigiert und lediglich seine ureigene Aufgabe ernst genommen: Die möglichst umfassende Überprüfung der Rechtsfrage. Die Einschätzung, dass sich der BGH damit im Einklang mit dem der Strafzumessung eigentlich zugedachten Wesen befindet, ist in der strafprozessualen Literatur im Wesentlichen geklärt, sodass auf eine wissenschaftliche Abhandlung an dieser Stelle verzichtet werden kann. Mit diesen allgemein gehaltenen Anmerkungen zur Strafzumessung soll es damit im Hinblick auf die Revisibilität sein Bewenden haben und der Schwerpunkt auf die im Verhältnis zur gesetzgeberischen Intention gegenläufigen Tendenzen gelegt werden. Auf die Entwicklung der Strafmaßrevision wird hingegen im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse zur Divergenzvorlage zurückzukommen sein.


1 Henke, ZZP 81 (1968), 196.

2 Die nachfolgende Arbeit befasst sich nicht mit der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der Revision anderer Verfahrensordnungen. Einen interessanten Überblick über die Abgrenzungsfrage in der zivil-, strafprozessualen und verwaltungsgerichtlichen Revision leistet insoweit Uhl, Die Abgrenzung der Rechtsprechungsbefugnisse von Tatsachen- und Revisionsgerichten, 24 ff., 38 ff., 45 ff.

3 von Sternenfels, in: Verhandlungen des 2. DJT, Bd. I, 3, 29; vgl. auch die Motive zur ZPO aus dem Jahr 1881, wonach „die Trennung der thatsächlichen Würdigung von der Subsumtion unter das Gesetz vielfach eine schwierige“ sei, in: Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 2 ZPO, 366/319.

4 Rosenau, in: FS Widmaier, 521, 529.

5 Vgl. dazu ausführlich, 2. Kapitel, insbesondere A I 2.

6 Vgl. Wach, JW 1881, 73, 75; ders., in: Vorträge über die Reichs-Civilprozessordnung, 1896, 290.

7 Vgl. Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision wegen materiellrechtlicher Verstöße im Strafverfahren (1925), 37, 75; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts (1. Aufl., 1935), 2. Aufl., 52 ff.; vgl. auch den Überblick bei W. Schmid, ZStW 85 (1973), 360, 362 ff. m.w.Nw.

8 zu Dohna, Das Strafverfahren, 216.

9 Otto, NJW 1978, 1, 2; Paulus, in: FS Spendel, 687, 708; W. Schmid, ZStW 85 (1973), 360, 365; Schroth, JR 1990, 93, 95; vgl. auch Duske, Die Aufgaben der Revision, 33, der von „vielfältigen erfolglosen Bemühungen“ spricht; Lilie, Obiter dictum und Divergenzausgleich im Strafverfahren, 51 mit dem Hinweis auf „bislang ungelöste Auseinandersetzungen“ und Siegert, DR 1935, 533, 534, der die Abgrenzung zwischen Tat- und Rechtsfrage als „unlösliche(n) Streit“ bezeichnet.

10 Hamm, Die Revision in Strafsachen, Rn. 1272.

11 Vgl. dazu ausführlich, 3. Kapitel.

12 BGH NStZ 1982, 27 nimmt eine Tatfrage an vs. BGH StV 1983, 198, wo ein Eingriff durch das Revisionsgericht erfolgt.

13 Fezer, in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 89, 94.

14 Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 44.

15 Vgl. Detter, in: FS 50 Jahre BGH, 679, 684; Herdegen, NStZ 1999, 176, 177.

16 Franke, in: LR-StPO, vor § 333 Rn. 11; Rosenau, in: FS Widmaier, 521.

17 Schünemann, ZStW 114 (2002), 1, 55; ähnlich Wagner, ZStW 106 (1994), 259, 260: „Lotteriespiel“.

18 Schlothauer, StraFo 2000, 289.

19 Rosenau, in: FS Widmaier, 521, 522 f., dort auch zum folgenden Text.

20 Barton, Die Revisionsrechtssprechung, des BGH in Strafsachen, 272; Gericke, in: KK-StPO, vor § 333 Rn. 7: 18 %; Riess, in: FS Eisenberg, 569, 572; ders., in: FS Fezer, 455, 472; ders., in: FS Sarstedt, 253, 288, wo zwischen erfolgreichen Revisionen im Jahr 1979 des Angeklagten mit 15 % und solchen der Staatsanwaltschaft mit 59 % unterschieden wird; siehe auch Barton, StraFo 1998, 325, 326 für den Untersuchungszeitraum 1981 – 1996: 90 % Erfolglosigkeit; dens., in: FS Fezer, 333, 349: Erfolgsquote im Jahr 2005 Angeklagter: 7,9 %, Staatsanwaltschaft 45,6 %; vgl. die Jahresstatistik des BGH für 2012: von 2971 Erledigungen 91 Urteile (3,06 %) und 109 Beschlüsse (3,67 %, zs. 6,73 %) auf vollständige, 404 Beschlüsse (13,6 %) auf teilweise Aufhebung und Zurückverweisung, für 2013: von 2999 Erledigungen 84 Urteile (2,8 %) und 120 Beschlüsse (4,0 %, zs. 6,8 %) auf vollständige, 375 (12,5 %) Beschlüsse auf teilw. Aufhebung und Zurückverweisung unter www.bundesgerichtshof.de/DE/BGH/Statistik.

21 Nack, NStZ 1997, 153 für den Untersuchungszeitraum 1992–1995; Kutzer, StraFo 2000, 325, 326; Riess, in: FS Eisenberg (2009), 569, 572.

22 Vgl. Rosenau, in: FS Widmaier, 521, 522.

23 Vgl. zur Revisibilität der Strafzumessung allein die umfangreichen Monographien von Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung; Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß und Zipf, Die Strafmaßrevision sowie die umfassenden Darstellungen bei Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 296 ff.; ders., in: FS Engisch, 708 ff. und Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 174 ff.

24 RG JW 1937, 3301 Nr. 4; Frisch, in: FS Eser, 257, 259, 274; ders., in: FS Fezer, 353, 368; ders., Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 67; Kuhlen, in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, 323, 344; vgl. auch RGSt 7, 180, 182: „tatsächlicher Natur“; 8, 76, 77: „tatsächlichen Inhalts“; ähnlich auch OLG Freiburg HESt 2, 112, 113: „Teil der tatsächlichen Würdigung des (…) Sachverhalts“ und OLG Koblenz HESt 2, 120: „wie die Beweiswürdigung, Sache des Tatrichters“; w.Nw. bei Mannheim, Beiträge (Fn. 7), 161 ff.

25 Vgl. dazu die Motive zur Strafprozessordnung, in: Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3 StPO, 250 f., wo es heißt: „Daraus, dass dem Revisionsrichter eine Beurteilung des rein Thatsächlichen nicht zusteht, folgt von selbst, dass die Revision nicht auf die Behauptung gestützt werden kann, dass die Art oder die Höhe der Strafe unangemessen bestimmt sei, insofern nur die festgesetzte Strafe innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen liegt.“; siehe zu dieser Ansicht noch heute Goydke, in: FS Meyer-Goßner, 541.

26 Vgl. Frisch, in: FS Fezer, 353, 369; zur Einordnung als Rechtsanwendung: BVerfG StV 2007, 393, 395; Bruns, in: FS Engisch, 708, 715 f.; Frisch, in: FS Eser, 257, 273; Schlothauer, StraFo 2000, 289; vgl. auch Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 22 unter Hinweis auf die ausgenommene Zumessung i.e.S., die als „Ermessensausübung“ gegenübergestellt wird.

27 Vgl. zur (Fort-)entwicklung der Strafmaßrevision anschaulich: Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 301 ff. und Frisch, in: FS Eser, 257, 266 ff.; vgl. zum standardisierten Obersatz, der das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Aufgabenverteilung ähnlich wie bei der Beweiswürdigung dergestalt zementiert, die Strafzumessung sei grundsätzlich „Sache des Tatrichters“, das Revisionsgericht dürfe jedoch ausnahmsweise bei Rechtsfehlern eingreifen, wenn der Tatrichter fehlerhafte Strafzumessungserwägungen zugrunde gelegt, gegen anerkannte Strafzwecke verstoßen habe oder sich die Strafe von einem gerechten Schuldausgleich unter Überschreitens des Spielraums löse: BGHSt 29, 319, 320; 34, 345, 349; NJW 1995, 340; 2001, 83, 84; 2003, 150, 155; 2006, 925, 928; 2011, 2819, 2821; NStZ 1988, 497; 2006, 568; 2011, 270; NStZ-RR 2008, 343; 2012, 168; StV 1987, 530; 2012, 473, 474; BGH, Urt. v. 14.9.1977 – 3 StR 220/77 bei Holtz, MDR 1978, 109, 110.

28 Vgl. BGH NJW 2011, 2819, 2821; NStZ 1984, 360; NStZ-RR 2008, 343 und KG, Beschl. v. 8.3.2013 – (4) 161 Ss 21/13 (28/13) -, juris Rn. 11: „Grenze des Vertretbaren“; NStZ-RR 2003, 214 und StV 1987, 530: Strafe „unvertretbar hoch“; StV 1990, 494; 1992, 271, 1993, 71 und StraFo 2003, 246 f.: inklusive „für vergleichbare Fälle übliches Maß erheblich überschritten“; vgl. zur Bezeichnung als „Vertretbarkeitskontrolle“: W. Schmid, ZStW 85 (1973), 360, 394; Streng, in: NK-StGB, § 46 Rn. 189.

29 Vgl. dazu Bruns, in: FS Engisch, 708; dens., Das Recht der Strafzumessung, 312.

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1. Kapitel: Grundlagen der strafprozessualen Revision

A. Aufgabe der Revision

I. Die Revision als reine Rechtsinstanz

Die Revision ist als letztinstanzliches Rechtsmittel in Strafsachen als reine Rechtsbeschwerde ausgestaltet.30 Das bedeutet, dass ihr nicht die Aufgabe zukommt, die materielle Wahrheit zu erforschen, sondern vielmehr ausschließlich das angefochtene Urteil in rechtlicher Hinsicht auf Fehler zu überprüfen.

In der Revisionsinstanz gibt es keine Hauptverhandlung mit umfassender Beweisaufnahme, die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gemäß §§ 261, 250 StPO gelten nicht.31 Das Revisionsverfahren ist ein zentralisiertes Verfahren mit der Folge einer Begrenzung der Zahl der Revisionsgerichte, das der Kontrolle der unteren Gerichtsbarkeit dient.32 Im Gegensatz zur ersten Instanz kommt der Revisionsinstanz nicht die Aufgabe der Aufklärung des wahren Sachverhaltes zu, das Revisionsgericht hat auch nicht zu prüfen, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist, ob er Täter der angeklagten Taten ist oder nicht. Es hat ausschließlich das angefochtene Urteil auf Fehler hin zu kontrollieren, eine Aufklärung des „wahren“ Ablaufs der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat ist dem Revisionsgericht verwehrt. Gemäß § 337 Abs. 1 StPO kommt es nur darauf an, ob „das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe“. Die Revision hat damit nach der gesetzgeberischen Grundkonzeption den Charakter einer reinen Kontroll-, mithin Rechtsinstanz. Riess spricht insofern von einer Art „Fertigungsendkontrolle“33.

II. Differenzierung zur Berufung

Die Berufung eröffnet im Gegensatz zur Revision den Weg in eine neue Tatsacheninstanz. Im Berufungsverfahren kommt es zur vollumfänglichen Neuverhandlung der Strafsache auch in tatsächlicher Hinsicht.34 Das Berufungsgericht hat nicht nur die Aufgabe, Fehler des erstinstanzlichen Gerichts aufzudecken, es führt vielmehr selbstständig eine neue Hauptverhandlung durch und entscheidet in eigener Verantwortung auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung im Sinne von ← 27 | 28 → § 261 StPO.35 Darin erweist sich der grundlegende Unterschied von Berufung und Revision: Während bei der Berufung der gesamte Straffall neu geprüft wird, wird bei der Revision lediglich das Urteil auf Fehler überprüft. Bei der Revision ist eine Änderung der Sachlage unbeachtlich, während bei der Berufung auch neue Tatsachen berücksichtigt36 werden können. Im Berufungsverfahren findet mit Ausnahme der Verfahrenserleichterung für Urkunden nach § 325 StPO eine erneute, unmittelbare Beweisaufnahme statt. Die Berufung wird daher auch als „zweite Erstinstanz“37 bezeichnet. Die Berufung ist ferner im Gegensatz zur Revision ein Rechtsmittel, das ausschließlich vom Gedanken der materiellen Gerechtigkeit geprägt ist und deren alleiniger Zweck in der Berichtigung von Fehlentscheidungen liegt38, während bei der Revision verschiedene Zweckrichtungen eine Rolle spielen, deren Verhältnis zueinander höchst umstritten ist.

B. Grundverständnis von der Revision

I. Beschränkte Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts

Details

Seiten
532
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653064124
ISBN (ePUB)
9783653952759
ISBN (MOBI)
9783653952742
ISBN (Hardcover)
9783631671085
DOI
10.3726/978-3-653-06412-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Revisibilität Vorlagepflicht Rechtsinstanz Leistungstheorie erweiterte Revision
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 532 S.

Biographische Angaben

Claudia Karl (Autor:in)

Claudia Karl studierte Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach ihrem Rechtsreferendariat im Oberlandesgerichtsbezirk München promovierte sie an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Sie ist in der bayerischen Justiz tätig.

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Titel: Die Bedeutung der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage in der strafprozessualen Revision
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