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Acta Germanica

German Studies in Africa

von Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in)
©2015 Dissertation 274 Seiten

Zusammenfassung

Der erste Teil «Afrika schreiben», zugleich Schwerpunktsetzung des Jahrbuchs, versammelt Beiträge über Afrikaverarbeitungen in der deutschen Literatur und im kulturellen Gedächtnis, die bezeugen, dass der afrikanische Kontinent nicht erst seit seiner Kolonisierung zu Imaginationen im europäischen Raum geführt, sondern auch heute noch Relevanz hat. Der zweite Teil «Sprache und Übersetzung» setzt sich mit Zusammenhängen von Sprache und Übersetzung sowie Fragen der Zugehörigkeit und Identität auseinander. Der dritte Teil enthält eine Reihe von allgemeinen Beiträgen zu literarischen Verarbeitungen des Ersten Weltkriegs, zu Aspekten kultureller und jüdischer Identität, aber auch zu Identitätskonstruktionen in neuerer deutscher Literatur und Gegenwartsliteratur, genauso wie zu Lesekonventionen und Gattungsfragen. Der dritte Teil schließt mit einem Beitrag zu Felicitas Hoppe ab. Zudem wird in einem Interview mit der Georg-Büchner-Preisträgerin von 2012, das im Anschluss zu lesen ist, ihr Südafrikabesuch im September 2014 gewürdigt.
The first part, entitled «Writing Africa», is devoted to the focus of this journal. It comprises contributions which analyse the writing of Africa in German literary texts and in cultural memory thereby demonstrating that the African continent has not only been subject to the European imagination since it was colonised, but still holds relevance there today. In the second part of this volume, namely «Language and Translation», contributions investigate the connection between language and translation and between belonging and identity. The third part contains a number of general articles, ranging from analyses of literary texts which were written about the First World War to aspects of cultural and Jewish identity as manifested in literary texts, from (de)constructions of identity in 20th century and contemporary German literature to examining conventions of reading and questions of genre. The third part concludes with an article on Felicitas Hoppe, winner of the Georg-Büchner-prize in 2012, followed by an interview with the author who visited South Africa in September 2014.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt / Contents
  • Afrika schreiben / Writing Africa
  • „Warum soll man nicht schwarz sein?“ Blackness und Whiteness in Michael Endes Jim-Knopf-Romanen
  • Die empfindsame Aufklärung. Christian Ludwig Willebrands Geschichte eines Hottentotten (1773)
  • Namibiadeutschland in den 1980er Jahren. Ost- und westdeutsche Erzählungen über den Schauplatz Südwestafrika: Jürgen Leskien und Dietmar Beetz (DDR), Immo Vogel und A. E. Johann (BRD)
  • Postkolonialismus ohne Kolonisierte? Lukas Bärfuss’ Hundert Tage und die Täterschaft im Genozid
  • Identitätsorte, Erinnerungsorte, Verdrängungsorte. Bemerkungen zur Eckerschen Schädelsammlung
  • Sprache und übersetzung / Language and Translation
  • Zur Frage der Zugehörigkeit. 150 Jahre deutsche Sprache und Kultur am Kap
  • Language Use and Attitudes. How do they contribute to identity-formation?
  • Übersetzung und Identität. Die sinnkohärente Übersetzung von Aniceti Kiterezas Roman Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka ins Deutsche
  • Allgemeine Beiträge / Contributions to German Studies
  • ‚Kartoffeln statt Döner!’ Zur Problematik kultureller Identität unter den Bedingungen der Globalisierung
  • „Einer wie Leutnant Wurche“. Anmerkungen zur literarischen Vermittlung von Opferkult und Krieg in Walter Flex‘ Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916)
  • Richard von Kühlmanns geheimes „S.A. Depot“. Deutsche „Kulturpropaganda“, Südafrika und Deutsch-Südwestafrika im Ersten Weltkrieg
  • “Meine unhaltbar widerspruchsvolle Stellung zum Kriege.” Käthe Kollwitz von Kriegsbefürwortung zu Kriegsgegnerschaft, 1914-1918
  • „Beth, – das ist das Haus…“: Paul Celan und die jüdische Identität nach der Schoah
  • Fünf Lesekonventionen des Generationenromans
  • Tschick und Sand. Zwei komplementäre Geschichten über Identität
  • Von der Umkehr der Zeitachse in den Raum. Identitätskonstruktionen in kontrafaktischen Darstellungen der Neueren Deutschen Literatur
  • Fragmentierte Identität – fragmentierte Geschichte. Der Apfel als Motiv in Herta Müllers Collagenband Vater telefoniert mit den Fliegen und sein intertextueller Bezug zu einigen ihrer Prosawerke
  • „Eine Art Geistesanwesenheit anderen Orts”. Zur Passion von Felicitas Hoppe
  • Interview
  • Fantasie ist Erkenntnisgewinn. Felicitas Hoppe im Gespräch mit Carlotta von Maltzan
  • Buchbesprechungen / Book Reviews
  • Lebensgeschichte und Beschreibung der Reisen durch Asien, Afrika und Amerika des Zacharias Taurinius, eines gebornen Aegyptiers. Mit einem Nachwort herausgegeben von Reinhard Schreiber. Hannover: Wehrhahn Verlag 2014 (Heiko Ullrich)
  • Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft 7 (2014): Krieg. Von Franz-Josef Deiters, Axel Fliethmann, Birgit Lange, Alison Lewis und Christiane Weller (Hgg.). Freiburg: Rombach 2014 (Heiko Ullrich)
  • Körper, beraubt. Ausgewählte Gedichte. Von Antjie Krog. Aus dem Englischen und Afrikaans von Barbara Jung. Mit einem Nachwort von Marie-Luise Knott. Berlin: Matthes & Seitz 2014 (Gunther Pakendorf)
  • Notes on Contributors

„Warum soll man nicht schwarz sein?“

Blackness und Whiteness in Michael Endes Jim-Knopf-Romanen1

STEFAN HERMES

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Abstract

„Why shouldn’t one be black?“ Blackness and whiteness in Michael Ende’s Jim Knopf novels

The paper recapitulates two closely linked media debates which recently concerned the German general public. These controversies were about acts of blackface in popular TV shows and about the alleged censoring of youth books for the sake of political correctness: In both contexts, references to Michael Ende’s still widely read Jim Knopf novels played an important role. Against this backdrop, it is shown how these works deal with the intricate relation between blackness and whiteness – and which narrative strategies they use to undermine common racist discourses. However, it cannot be overlooked that they aren’t consistently successful in doing so; in fact, Ende’s bestsellers tend to reinforce a number of colonialist stereotypes about Africa.

Deutsche Debatten: Blackfacing und Political Correctness

Die Popularität von Michael Endes Romanen um den ,schwarzen‘ Jungen Jim Knopf, die vor mehr als einem halben Jahrhundert erstmals erschienen, ist im deutschsprachigen Raum ungebrochen. Davon konnte man sich etwa am 14. Dezember 2013 überzeugen, und zwar anhand der an diesem Tag gesendeten Ausgabe der Fernsehshow Wetten, dass ..?, die das ZDF von 1981 bis 2014 sechs- oder siebenmal im Jahr an wechselndem Ort vor Livepublikum produzierte. Zu den integralen Bestandteilen des lange breit wahrgenommenen, zuletzt aber unter sinkenden Einschaltquoten leidenden Formats gehörte die sogenannte Stadtwette: Der Moderator, bei dem es sich seit 2012 um Markus Lanz handelte, forderte die Bevölkerung der gastgebenden Stadt dazu auf, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und sofern dies gelang, musste er einen im Vorfeld vereinbarten Wetteinsatz erbringen. Nun wurde Wetten, dass ..? an besagtem Datum aus dem bayrischen Augsburg übertragen, wo mit der Augsburger Puppenkiste das wohl berühmteste Marionettentheater Deutschlands zuhause ist, auf dessen immer wieder im Fernsehen ausgestrahlte Adaptionen der Jim-Knopf-Romane deren hoher Bekanntheitsgrad wesentlich zurückgeht2. Diesen Umstand nahm Lanz zum Anlass, den Augsburgerinnen und Augsburgern eine recht befremdliche Aufgabe zu stellen: Mindestens 25 von ihnen sollten bis zum Ende der Sendung als Jim Knopf verkleidet am Veranstaltungsort eintreffen, 25 weitere im Kostüm von dessen Freund Lukas dem Lokomotivführer. Von ersteren wurde explizit erwartet, schwarz geschminkt zu erscheinen, und als Mittel der Wahl empfahl man ihnen Schuhcreme oder Kohle. Tatsächlich versammelten sich ← 9 | 10 → schließlich mehr als 100 Jim-und-Lukas-Paare, sodass Lanz die Wette deutlich verlor. Dies aber war schon bald seine geringste Sorge: Ungleich schwerer wogen die energischen Proteste, mit denen er und die Wetten, dass ..?-Redaktion wenig später konfrontiert wurden (vgl. Álvarez 2013 und Kremp 2013) – Proteste, die zweifellos vorhersehbar waren. Denn es ist kaum zu leugnen, dass die beschriebene Wette nolens volens an die mehr als heikle Tradition des Blackfacing anknüpfte, das gemeinhin der rassistischen Diffamierung von ,Schwarzen‘ durch ,Weiße‘ diente, etwa im Rahmen jener Minstrel Shows, die sich in den Vereinigten Staaten bis ins 20. Jahrhundert hinein eminenter Beliebtheit erfreuten (vgl. Cockrell 1997).

Allerdings ist der skizzierte keineswegs der einzige Fall von Blackfacing, der in jüngster Zeit im deutschen Fernsehen zu verzeichnen war3. Bereits einige Monate zuvor, am 27. Januar 2013, war der Moderator der literaturkritischen ARD-Sendung druckfrisch mit schwarz bemaltem Gesicht vor die Kamera getreten, um sich in dieser Aufmachung in eine Debatte einzumischen, die für das angeschnittene Thema von noch größerer Bedeutung ist als der Eklat um Wetten dass ..? Denn was Denis Scheck mit Vehemenz zum Ausdruck brachte, war seine kategorische Ablehnung einer Praxis, zu der sich zwei renommierte deutsche Jugendbuchverlage entschlossen hatten: Diese waren dazu übergegangen, rassistisch konnotierte Wörter aus den Neuauflagen von ihnen vertriebener Werke zu entfernen. Dies betraf insbesondere Termini wie ,Zigeuner‘ oder ,Neger‘, die der Hamburger Oetinger Verlag schon im Jahr 2010 aus der deutschen Fassung von Astrid Lindgrens vielgelesener Pippi-Langstrumpf-Trilogie getilgt hatte, die zwischen 1945 und 1948 im schwedischen Original erschienen war. Der Stuttgarter Thienemann Verlag wiederum, der auch Endes Bücher publiziert, hatte drei Jahre später entsprechende Veränderungen in Otfried Preußlers Longseller Die kleine Hexe von 1957 vorgenommen.

Die hitzig geführte Diskussion um diese Eingriffe kann hier nicht im Detail rekapituliert werden, doch seien immerhin einige zentrale Punkte erwähnt4. So rückte nicht nur Scheck das benannte Vorgehen in die Nähe drastischer Zensurmaßnahmen, wie sie in George Orwells Roman 1984 aus dem Jahr 1949 geschildert werden: In dieselbe Kerbe schlug Ulrich Greiner, als er in der Wochenzeitung Die Zeit gegen eine vermeintlich überzogene Political Correctness polemisierte5. Anstatt „unschuldige Spielerei[en]“ im Medium der Literatur anzuprangern, solle man sich gefälligst ,wirklichen‘ Problemen zuwenden: „Selbstverständlich ist es die Aufgabe eines Rassismusforschers, Rassismus ausfindig zu machen“, so Greiner (2013), „aber er sollte sein Augenmerk vielleicht lieber auf die Realität richten als auf die Fiktion.“ Unter keinen Umständen dürfe man die Umtriebe „staatlich bestallte[r] Tugendwächter“ weiterhin dulden, „die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Antisemitismus [sic] oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschärftem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken.“ (Ebd.) Im Übrigen verstehe es sich von selbst, dass niemand durch die Lektüre eines Lindgren-, Preußler- oder auch Ende-Romans zum Rassisten werde.

Zugegeben: Greiners Plädoyer für eine textgetreue Überlieferung literarischer Werke, die deren Historizität bewahrt und nicht stillschweigend einebnet, dürfte sich gerade für Philologinnen und Philologen keineswegs abwegig ausnehmen. Gleichwohl mag ← 10 | 11 → man an seinen Ausführungen manches für, gelinde gesagt, merk- und kritikwürdig halten. So muss es erstaunen, dass sich Greiners Furor zuallererst gegen die Entfernung des N-Worts aus den Jugendbüchern Lindgrens und Preußlers richtete – und nicht etwa gegen die Reihe … einfach klassisch des Berliner Cornelsen Verlags, in der für den Schulunterricht gekürzte und sprachlich vereinfachte Fassungen von Werken Lessings, Goethes, Schillers oder Kleists veröffentlicht werden. Auch von kanonischen fremdsprachigen Texten – man denke nur an die Abenteuerromane von James Fenimore Cooper und Robert Louis Stevenson – sind ja beständig rabiat zusammengestrichene Übersetzungen vermarktet worden, die einer jugendlichen Zielgruppe die Lektüre erleichtern sollten. Weshalb aber, so wäre zu fragen, ist in diesen Fällen nie ein vergleichbarer publizistischer Aufschrei zu vernehmen gewesen?6 Es kommt hinzu, dass die von Greiner und anderen erhobenen Zensurvorwürfe aus zweierlei Gründen nachgerade paranoid anmuten: Zum einen sind die älteren Ausgaben der Romane von Lindgren und Preußler ja nicht aus den Bibliotheken verschwunden, sondern nach wie vor problemlos zugänglich; zum anderen hatten die Erben Lindgrens und der damals noch lebende Preußler den Eingriffen in die Texte zugestimmt bzw. sie sogar selbst initiiert (vgl. Bax 2013 und Dehrmann 2013).

Darüber hinaus fällt auf, dass Greiner in seinem Bemühen, „gesellschaftliche und kulturelle Dominanz zu behaupten“ (Manske 2002:10), offenbar keinen Gedanken daran verschwendete, welche Wirkung seine Tiraden auf Angehörige der ,schwarzen‘ Minderheit in Deutschland haben mochten. So kanzelt sein Artikel den in Eritrea geborenen Mekonnen Mesghena, einen Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, in oberlehrerhafter Diktion ab, weil dieser es gewagt hatte, dem Thienemann Verlag die Streichung des N-Worts aus Preußlers Kleiner Hexe anzuempfehlen – und das mit Erfolg. Daran wird abermals ersichtlich, dass Greiners Text speziell an jene Teile des ,weißen‘ deutschen Bildungsbürgertums adressiert war, die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Jugendlektüre konsequent verweigern. Demgemäß wird darin mehrfach insinuiert, das N-Wort sei in früheren Zeiten mitnichten negativ besetzt gewesen – was angesichts der Tatsache, dass das mit ihm verbundene Konzept jahrhundertelang der Legitimierung von ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung, ja von Sklaverei und Genozid diente, eine schlichtweg abstruse Annahme darstellt (vgl. exemplarisch Arndt 2004c, Sow 2008:112-121, Arndt 2011b und Mbembe 2014).

Kurzum: Die einstige ,Normalität‘ einer bestimmten Begriffspraxis verbürgt längst nicht, dass sie auch ,neutral‘ und ergo unbedenklich war. Mithin erwächst Greiners reines Gewissen aus einer (prätendierten?) Ahnungslosigkeit, die es ihm zugleich erlaubt, das Engagement einer Minorität gegen ihre Diskriminierung der Lächerlichkeit preiszugeben7. ,Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘, lautet die wenig komplexe Botschaft, die sein Artikel mit Nachdruck vermittelt, indem er den fortgesetzten Gebrauch des N-Worts zu einem Akt des Widerstandes gegen jene intellektuelle Bevormundung erhebt, die Greiner allerorten wittert8. Dass sich dieser, ein privilegiertes Mitglied der ,weißen‘ deutschen Mehrheitsgesellschaft, somit zum Opfer eines zusehends um sich greifenden Tugendterrors stilisiert, macht seine Darlegungen keineswegs einleuchtender9. Jedoch ändert deren Fragwürdigkeit nichts daran, dass das Für und Wider von nachträglichen Eingriffen in ein literarisches Werk stets einzelfallbezogen abzuwägen ist – zumal wenn sie nicht vom Autor oder von der Autorin ← 11 | 12 → selbst vorgenommen werden (vgl. auch Schuchter 2013). Ohne Zweifel handelt es sich um eine höchst sensible Angelegenheit, der mit Pauschalurteilen schwerlich beizukommen ist.

Indes bleiben zwei alles andere als neuartige, fast banale Einsichten ins Gedächtnis zu rufen, die in der umrissenen Debatte dennoch meist ignoriert wurden. So ist es für die Deutung eines literarischen Textes erstens weitgehend unerheblich, ob sich seine Urheberin oder sein Urheber demonstrativ von rassistischen Anschauungen distanziert. Dies liegt auch an den Schwierigkeiten, die biographistisch-intentionalistische Interpretationsansätze generell mit sich bringen, zuvorderst aber daran, dass es verfehlt wäre, das Problem des Rassismus primär auf der Ebene des Individuums zu verhandeln. Ungleich adäquater erscheint es, von einem strukturellen Phänomen bzw. einem wirkmächtigen Diskurs auszugehen, dessen Regeln auch von Personen befolgt werden – ob bewusst oder unbewusst –, die jeglichen Rassismusvorwurf empört von sich weisen würden (vgl. dazu Wachendorfer 2001 und Arndt 2011d)10. Zweitens jedoch lässt sich aus dem factum brutum, dass das N-Wort oder ähnliche Vokabeln in einem bestimmten Werk nicht fallen, keineswegs ableiten, dass dieses für ,politisch korrekt‘ gelten kann11. Von Relevanz ist vielmehr, ob bzw. inwiefern als ,schwarz‘ markierte Figuren mit exotistisch-verklärenden oder dezidiert herabwürdigenden Klischees belegt werden, die sich nicht selten aus kolonialistischen Traditionen speisen.

Allerdings genügt es eben nicht, einem imagologischen Zugriff entsprechend die Repräsentation von ,Schwarzen‘ in einem gegebenen Text zu analysieren: Einer Antwort bedarf darüber hinaus vor allem die Frage, wie das intrikate Verhältnis von Blackness und Whiteness modelliert wird (vgl. schon Morrison 1994:30, und Arndt 2011c:189). Ist etwa die Etablierung einer strikten Hierarchie zwischen beiden Konzepten zu beobachten, die auf der oft biologistisch begründeten Annahme ,schwarzer‘ Inferiorität und ,weißer‘ Superiorität fußt (vgl. nach wie vor JanMohamed 1985:63) – oder kommt es womöglich zu einer (partiellen) Inversion dieser Hierarchie? Wird überhaupt eine klare Grenzlinie zwischen Blackness und Whiteness gezogen – oder werden Transgressionen und Hybridisierungen in den Fokus gerückt, die freilich sowohl als tremendum wie auch als fascinosum inszeniert werden können? Mit diesen und ähnlichen Aspekten, wie sie eine an den Postcolonial Studies und bisweilen an den (Critical) Whiteness Studies orientierte Literaturwissenschaft bearbeitet12, möchte ich mich im Folgenden mit Blick auf Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer aus dem Jahr 1960 sowie auf Jim Knopf und die Wilde 13 von 1962 beschäftigen, die bislang in nicht weniger als 25 Sprachen übertragen und zusammen gut 3 Millionen Mal verkauft wurden (vgl. Friedrich / Ebbinghaus 2004:9)13. Im Zuge dessen wird zu zeigen sein, dass die den Romanen inhärente Rassismuskritik von gravierenden Aporien durchzogen ist, die ihre Plausibilität empfindlich schmälern.

Naive Rassismuskritik: Blackness und Whiteness in den Jim-Knopf-Romanen

Es darf angenommen werden, dass es sich bei Jim Knopf um die prominenteste ,schwarze‘ Figur der gesamten deutschsprachigen Literaturgeschichte handelt – und zwar mit gehörigem Abstand. So gilt ihr vielfach preisgekrönter Erfinder Ende als weltweit meistgelesener Autor der Bundesrepublik14, und auch deshalb kann es nicht verblüffen, dass in der Vergangenheit bereits diskutiert wurde, inwiefern seine phantastischen ← 12 | 13 → Romane15 rassistische Stereotype gezielt unterminieren oder aber unkritisch fortschreiben. Rekapituliert werden diese Diskussionen, an die sich während der jüngsten Kontroversen kaum jemand erinnern wollte, unter anderem von Heidi Rösch (2000:139, 143, 151f, 176f), auf deren Monographie Jim Knopf ist nicht schwarz. Anti-/Rassismus in der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik verschiedentlich zurückzukommen sein wird. Zunächst sei jedoch lediglich festgehalten, dass man Endes Texten überwiegend zugestanden hat, dezidiert antirassistische Positionen zu kommunizieren – wenngleich mitunter moniert wurde, dass dies auf reichlich unbedarfte Weise geschehe.

Eine entschiedene Ablehnung jedweder rassistischen Diskriminierung artikuliert in Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer der Scheinriese Herr Tur Tur, dem die Protagonisten ungefähr in der Mitte des Romans begegnen. „Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche besonderen Eigenschaften“, bescheidet Tur Tur den beiden,

Herr Knopf zum Beispiel hat eine schwarze Haut. So ist er von Natur aus und dabei ist weiter nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht. Wenn sie selber zum Beispiel weiß sind, dann sind sie überzeugt, nur ihre Farbe wäre richtig, und haben etwas dagegen, wenn jemand schwarz ist. So unvernünftig sind die Menschen bedauerlicherweise oft. (Ende 2004a:131f)

Aufgrund seiner freundlichen Art ist Tur Tur ohne Zweifel als eine positive, zur Identifikation einladende Figur zu klassifizieren, und schon deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die von ihm vertretene Auffassung durch die Gesamtanlage des Textes bestätigt werden soll. Des Weiteren haben die Worte des Scheinriesen insofern Gewicht, als er aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß, was Ausgrenzung bedeutet: Er selbst führt seit jeher ein völlig isoliertes Dasein, da alle Welt bei seinem Anblick von Panik befallen wird und es nicht wagt, ihm näherzukommen. Jedoch ist Tur Tur eben bloß aus der Ferne betrachtet von gigantischer Statur, wie dies Jim und Lukas feststellen, als sie ihm beherzt entgegengehen. Sie sind es denn auch, die ihn in Jim Knopf und die Wilde 13 aus seiner Einsamkeit befreien, indem sie ihn in ihre Heimat Lummerland mitnehmen, wo er eine Anstellung als lebender Leuchtturm erhält (vgl. Ende 2004b:157-159).

Indes werden schon und vor allem zu Beginn des ersten Jim-Knopf-Bandes etliche, zum Teil gegenläufige Gesichtspunkte thematisiert, die für die hier verfolgten Fragen von erheblicher Relevanz sind. So betont der heterodiegetische Erzähler gleich im zweiten Satz des Romans, wie „außerordentlich klein“ der Inselstaat Lummerland ist, zumal „im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika“ (Ende 2004a:3). Da er Afrika mithin als ein einziges Land konzeptualisiert, erweist sich die Perspektive des Erzählers als eine im Kern eurozentrische, welche die kulturelle und politische Diversität des Kontinents nivelliert. Aufgebrochen wird diese Amorphisierung des Anderen auch in der Folge nicht; vielmehr erfährt sie eine Verfestigung, wenn der zitierte Satz später fast wortgleich einer Figur in den Mund gelegt wird (vgl. ebd.:20).

Diesem Umstand korrespondiert nicht zuletzt die Schilderung der Ankunft des Säuglings Jim in Lummerland. Dessen vier Einwohner – König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, Frau Waas, Herr Ärmel und Lukas – erhalten aufgrund einer Adressverwechslung ein geheimnisvolles Postpaket, das sie nach kurzem Zögern öffnen, um sodann in ← 13 | 14 → ungläubiges Staunen auszubrechen. In diesem Zusammenhang findet zum einzigen Mal das N-Wort Verwendung, das auch in den aktuellsten Ausgaben von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer nicht getilgt worden ist und sich an dieser Stelle – hier ist Greiner (2013) ausnahmsweise beizupflichten – wohl kaum sinnvoll ersetzen ließe16:

„Ein Baby!“, riefen alle überrascht. „Ein schwarzes Baby!“
„Das dürfte vermutlich ein kleiner Neger sein“, bemerkte Herr Ärmel und machte ein sehr gescheites Gesicht.
„Fürwahr“, sprach der König und setzte seine Brille auf, „das ist erstaunlich, sehr erstaunlich!“ (Ende 2004a:13f)

Es verdient Beachtung, dass die Kuriosität des Ereignisses in den Augen der Lummerländer offenkundig dadurch gesteigert wird, dass der Säugling im Paket ,schwarz‘ ist: Jims Blackness begreifen sie als eine besonders frappierende Abweichung von der Normalität. Dass Herr Ärmel das Kind mit dem N-Wort belegt, wird indes durch den ironisierenden Kommentar des Erzählers als gänzlich unangebrachtes Verhalten markiert. Denn indem er eigens hervorhebt, dass der schrullige Spießbürger „ein sehr gescheites Gesicht“ macht, vermittelt er zugleich, dass dessen Bemerkung alles andere als gescheit wirkt.

An Komplexität gewinnt die Auseinandersetzung mit Blackness und Whiteness in Endes Roman jedoch primär dadurch, dass auch Lukas gewissermaßen als ,Schwarzer‘ eingeführt wird, wenn es schon einige Seiten zuvor über ihn heißt:

Lukas der Lokomotivführer war ein kleiner, etwas rundlicher Mann […]. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über Lummerland bei Schönwetter. Aber sein Gesicht und seine Hände waren fast ganz schwarz von Öl und Ruß. Und obwohl er sich jeden Tag mit einer besonderen Lokomotivführer-Seife wusch, ging der Ruß doch nicht mehr ab. Er war ganz tief in die Haut eingedrungen, weil Lukas sich eben seit vielen Jahren jeden Tag wieder schwarz machen musste. Wenn er lachte – und das tat er oft –, sah man in seinem Mund prächtige weiße Zähne blitzen, mit denen er jede Nuss aufknacken konnte. Außerdem trug er im linken Ohrläppchen einen kleinen goldenen Ring und rauchte aus einer dicken Stummelpfeife. Obwohl Lukas nicht besonders groß war, verfügte er doch über erstaunliche Körperkräfte. Zum Beispiel konnte er eine Eisenstange zu einer Schleife binden. (Ebd.:4-6)

Unübersehbar enthält dieses Porträt eine Reihe von Versatzstücken, die in der ,weißen‘ europäischen Tradition nachgerade inflationär aufgerufen werden, um Afrikanerinnen und Afrikaner oder andere ,Schwarze‘ in stereotyper Manier zu charakterisieren17. Auffällig ist vor allem, dass eine dunkle Hautfarbe18 mit Schmutz assoziiert wird (vgl. schon Rösch 2000:143)19 und sodann eine Variation des Topos der – stets vergeblichen – ,Mohrenwäsche‘ auszumachen ist: Die idiomatische Wendung ,einen Mohren weiß waschen wollen‘ existiert ja im Deutschen bis heute (vgl. Arndt / Hamann 2011:652f). Sattsam bekannt sind überdies der grelle Kontrast, der zwischen Lukas’ ,schwarzer‘ Haut und seinen weiß blitzenden Zähnen besteht, sowie die ungeheure physische Stärke, die ihm zukommt. Zusätzlich exotisiert wird der Lokomotivführer durch das Detail des goldenen Ohrrings, und insgesamt verweist seine Beschreibung indirekt auf jene Diskussionen, die speziell seit der Aufklärung um die Frage kreisten, ob bzw. durch welche Einflussfaktoren ein ,Weißer‘ zum ,Schwarzen‘ werden könne. So vertraten Anthropologen wie Samuel Thomas Soemmerring um 1800 die Annahme, dass gewisse Krankheiten eine entsprechende Veränderung der Hautpigmentierung herbeiführen können (vgl. Martin 1993:219f), wohingegen man das ,Schwarzwerden‘ in der Epoche des ← 14 | 15 → wilhelminischen Kolonialismus nicht mehr in diesem buchstäblichen, sondern in einem übertragenen Sinn perhorreszierte. Unentwegt wurde nun die Gefahr des ,Verkafferns‘ beschworen, worunter man laut dem Deutschen Koloniallexikon (das erst kurz nach dem erzwungenen Abbruch des imperialen Projekts vorlag)

Zu unterstreichen bleibt freilich, dass ein Oszillieren zwischen Blackness und Whiteness bei Ende keineswegs derart negativ bewertet wird; ganz im Gegenteil ist der couragierte und gewitzte Lukas unbestreitbar eine Figur, welche die Sympathien der Rezipientinnen und Rezipienten auf sich zieht. Dies aber ändert nichts daran, dass ihre Konstruktion an die benannten Diskursstränge anschließt, und es kann auch nicht verdecken, dass Endes Roman durchaus mit Sequenzen aufwartet, in denen Blackness als ein zutiefst verstörendes Moment gekennzeichnet wird.

So berichtet der Erzähler im Rahmen der First-Contact-Szene (vgl. zu diesem Begriff Scherpe 2000) zwischen Jim und den Lummerländern, wie das Baby „vor dem großen schwarzen Gesicht von Lukas [erschrickt], denn es wusste ja noch nicht, dass es selber auch ein schwarzes Gesicht hatte.“ (Ende 2004a:14) Suggeriert wird dadurch, dass eine dunkle Haut gleichsam ,naturgemäß‘ – und nicht etwa infolge einer rassistischen Sozialisation – als furchteinflößend empfunden wird (vgl. Rösch 2000:143f, und Wollrad 2011:385)21. Kaum weniger fragwürdig mutet es an, wenn der Erzähler den Umstand, dass Jim und Lukas sich „ohne viele Worte“ verstehen, „schon allein deshalb“ für naheliegend erachtet, „weil Lukas ja ebenfalls fast ganz schwarz war“ (Ende 2004a:17). Aus der Hautfarbe beider Figuren leitet er mithin wie selbstverständlich eine ihnen gemeinsame charakterliche Disposition ab; somatische und mentale Eigenschaften werden in prekärer Weise miteinander verschränkt22.

Dass Blackness in Endes Roman erst einmal mit Alterität gleichgesetzt wird – die es dann mittels einer ,offenen Gesinnung‘ zu überwinden gilt –, ist ferner dem Namen des Protagonisten abzulesen. Denn indem die Lummerländer Lukas’ Vorschlag folgen und den per Zufall auf ihre Insel gelangten Säugling Jim nennen, entscheiden sie sich für einen englischen Vornamen, der im deutschen Sprachraum relativ ungebräuchlich ist und sich dadurch von ihren eigenen Namen abhebt23. Außerdem betont er Jims Blackness insofern, als dieser ihn mit einer der populärsten ,schwarzen‘ Figuren der US-amerikanischen Literaturgeschichte teilt, nämlich dem gutherzigen Sklaven aus Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer (1876) und The Adventures of Huckleberry Finn (1884)24. Zu seinem Nachnamen wiederum kommt Endes Titelheld dadurch, dass seine Hose fortwährend an derselben Stelle einreißt, bis Frau Waas das Loch nicht mehr flicken will und stattdessen einen Knopf annäht, mit dem es sich nach Belieben öffnen und schließen lässt (vgl. Ende 2004a:17f).

Von Belang ist dieser Aspekt nicht zuletzt deshalb, weil der Name Jim Knopf eine auffallende Ähnlichkeit mit dem des Jemmy Button aufweist, eines 1828 aus seiner ← 15 | 16 → feuerländischen Heimat nach England verschleppten Jungen, der dort eine kirchliche Vorschule besuchte und dann an jener Weltreise teilnahm, die Charles Darwin zwischen 1831 und 1836 an Bord der Beagle absolvierte. Diese Ähnlichkeit hat die Journalistin Julia Voss dazu bewogen, nach Parallelen zwischen der Vita von Endes Hauptfigur und dem Lebensweg des historischen Button Ausschau zu halten, wie er in Darwins Journals and Remarks von 1839 überliefert ist25 und Mitte des 20. Jahrhunderts den Stoff für einen – von Ende offenbar gelesenen – Erfolgsroman des Chilenen Benjamin Subercaseaux lieferte26. So hebt Voss in ihrer vielbeachteten Studie Darwins Jim Knopf aus dem Jahr 2009 hervor, dass sowohl Endes Protagonist als auch Button auf einem Schiff gefangen gehalten wurden: Ersterer befand sich, wie im zweiten Band ans Licht kommt, vor seiner Ankunft auf Lummerland in der Gewalt der ruchlosen Piraten von der ,Wilden 13‘. Jedoch kann Voss plausibel machen, dass etliche weitere Plotelemente auf Subercaseaux’ Literarisierung von Darwins Ausführungen über Button zurückgehen (vgl. Voss 2009:74-76) – und damit nicht genug: Insgesamt weist sie schlagend nach, dass die Jim-Knopf-Texte über weite Strecken als eine Abrechnung mit der Darwin’schen Evolutionstheorie zu lesen sind. Denn in Endes (wenig überzeugender) Interpretation hat diese ein über alle Maßen inhumanes Weltbild hervorgebracht, „in dem das Recht beim Stärkeren liegt und den im Kampf Unterlegenen nichts vor Vernichtung schützt.“ (Ebd.:11f)

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch jene Passagen in Endes Romanen deuten, die zwar nicht unmittelbar das Verhältnis von Blackness und Whiteness thematisieren, aber auf rassistische Lehren Bezug nehmen, wie sie dem 1929 geborenen Autor während seiner Schulzeit im ,Dritten Reich‘ förmlich eingetrichtert wurden (vgl. ebd.:81-104). So begegnen Jim und Lukas auf ihrem Weg zur Drachenstadt Kummerland27, aus der sie Li Si, die Prinzessin des Reiches Mandala, befreien wollen, dem traurigen „Halbdrachen“ (Ende 2004a:148) Nepomuk. Dieser verzehrt sich geradezu danach, Anerkennung vonseiten der „reinrassigen Drachen“ (ebd.:148) zu erfahren, doch diese begegnen ihm, dessen Mutter ein Nilpferd war, nur mit Hass und Verachtung: Nicht umsonst haben sie am Eingang zu ihrer Stadt ein Schild angebracht, dem zufolge „[d]er Eintritt […] / nicht reinrassigen Drachen / bei Todesstrafe / verboten [ist]“ (ebd.:158). Nepomuk wird in Kummerland also niemals akzeptiert werden, sondern muss zeitlebens das Dasein eines Ausgestoßenen fristen; Jim und Lukas können ihn bloß vorübergehend trösten, die Ursache für seine Verzweiflung aber nicht aus der Welt schaffen. Im zweiten Band tragen sie lediglich insofern zu einer Verbesserung von Nepomuks deplorabler Lage bei, als sie ihm den Posten des Wächters über das Meerleuchten und damit endlich eine sinnvolle Aufgabe zuteilen.

Dass die Nepomuk-Episoden in erster Linie dazu dienen, die Verwerflichkeit einer auf dem Ideal der ,Rassenreinheit‘ gründenden Exklusionspolitik vor Augen zu führen, ist im Grunde evident (vgl. Rösch 2000:149f). Gleichwohl trifft es, anders als Voss (2009:154) meint, keineswegs zu, dass Ende „Mischwesen wie Nepomuk“ durchweg „zu Helden aufsteigen [lässt]“, bei denen schließlich, so wiederum Voss (ebd.:116), „Frieden und Glück [ein]kehren“. Denn während dies für die fischschwänzige Meerprinzessin Sursulapitschi und ihren Verlobten Uschaurischuum, der eine Kombination aus Mensch und Schildkröte ist, durchaus gelten mag, kann mit Blick auf Nepomuk keine Rede davon sein. Dieser nämlich hält an seiner aggressiven Selbstkasteiung hart ← 16 | 17 → näckig fest; anstatt sich mit der ihm eigenen Hybridität auszusöhnen, betrachtet er sich dauerhaft als defizitären ,Bastard‘. Eine solche Sichtweise aber wird durch den Handlungsverlauf eher erhärtet als widerlegt, denn Nepomuk entpuppt sich in der Tat als jämmerlicher Feigling und zudem als rachsüchtiger Verräter: Er ist es ja, der Jim und Lukas dabei hilft, die Stadt der von ihm doch inständig bewunderten Drachen zu infiltrieren – obwohl er genau weiß, was die beiden dort vorhaben. Dementsprechend ergibt sich der Eindruck, dass Nepomuk, der obendrein hemmungslos lügt (vgl. Ende 2004a:155, 179), in soziale Zusammenhänge prinzipiell nicht integrierbar ist, weshalb man ihn letztlich auf seinen einsamen Wächterposten am Magnetfelsen28 abschiebt. „[I]ch will dir ehrlich sagen“, bescheidet ihm Lukas, „wir mögen dich zwar gern und sind dir auch dankbar, aber nach Lummerland würdest du nicht sehr gut passen“ (Ende 2004b:119) – was Jim sogleich bekräftigt. Mit all dem jedoch werden Topoi reaktiviert, die schon jenen Diskurs um ,Mischlinge‘ oder ,Halbblütige‘ dominierten, der in der Ära des deutschen Kolonialismus besonders virulent war29 und in den Erzählungen eines Hans Grimm seine prototypische Ausprägung erfuhr30.

Dadurch aber ergibt sich auch eine veränderte Sicht auf jene Partien der Jim-Knopf-Romane, in denen kulturelle Vielfalt ausgiebig zelebriert wird, etwa wenn die Verlobung und später die Hochzeit zwischen Jim und der von ihm geretteten Li Si oder die engen Freundschaften geschildert werden, welche die beiden mit Altersgenossen aus aller Welt pflegen: Vorgestellt werden diese, die wie Li Si von der ,Wilden 13‘ geraubt und an den sadistischen Drachen Frau Mahlzahn verkauft worden waren, als „Indianerkinder und weiße Kinder und kleine Eskimos und braune Jungen mit Turbanen auf dem Kopf“ (Ende 2004a:167), wobei der Erzähler in essentialisierender und besonders stereotyper Weise behauptet, dass „Indianer […] sehr tapfer [sind]“ (ebd.:170; vgl. auch ebd.:181, 212). Ersichtlich wird somit, dass Endes Texte kulturelle Hybridität, die womöglich mit biologischer Hybridität einhergeht31, gerade nicht bejahen, sondern ein dezidiert ethnopluralistisches Weltbild lancieren. Nachdrücklich begrüßt hat dies aus nationalkonservativer Perspektive Konrad Lehmann (2006:194), dem zufolge sich Ende stets dafür engagierte, dass „alle Völker gleichberechtigt ihre Errungenschaften ein[bringen], ohne dabei aber ihre Eigenheiten zu verlieren.“ Einem „engstirnigen Nationalismus“ erteile sein Werk „ebenso eine Absage […] wie einem haltlosen Antinationalismus: Keinen Einheitsbrei sollen die Kulturen der Welt bilden, sondern erkennbare Individuen sein“ (ebd.:194).

Einige weitere Versatzstücke der Kolonialliteratur, die in Endes Romanen aktualisiert werden, seien noch in gebotener Kürze angeführt. So treten Jim und Lukas ihre abenteuerliche Reise in ferne Welten nur deshalb an, weil es sich bei den Lummerländern nachgerade um ein ,Volk ohne Raum‘ handelt – so lautet bekanntlich der Titel von Hans Grimms berühmt-berüchtigtem Bestseller aus dem Jahr 1926. Angesichts der vermeintlichen Enge innerhalb Deutschlands wird darin die Notwendigkeit beschworen, den mit dem Versailler Vertrag zu seinem Ende gelangten Kolonialismus in Afrika schleunigst wiederaufleben zu lassen; später griffen dann die Nationalsozialisten auf Grimms einprägsamen Romantitel zurück, um den militärischen Vorstoß gen Osten zu legitimieren32. Doch wenngleich es sich beinahe von selbst versteht, dass die politischen Anschauungen von Endes gutmütig-schusseligem Alfons dem Viertel-vor-Zwölften mit derlei Expansionsgelüsten nicht kompatibel sind, ähnelt seine Beschreibung der ← 17 | 18 → Situation auf Lummerland durchaus jenen Schreckbildern, die in Volk ohne Raum an die Wand gemalt werden (vgl. schon Voss 2009:132). Denn gegenüber Lukas bemerkt der König der seit jeher „ziemlich voll[en]“ (Ende 2004a:3) Insel, dass der Neuankömmling Jim sich gewiss einmal ein eigenes Haus bauen wolle, dann aber gebe es für Lukas’ geliebte Lokomotive Emma schlicht keinen Platz mehr: „[U]nser Land leidet jetzt einfach an Überbevölkerung“, stellt Alfons fest, „[e]ntweder müssen wir […] die Lokomotive abschaffen oder einer von uns muss auswandern“ (ebd.:20f). Es ist die Implementierung dieser ,Das-Boot-ist-voll-Politik‘, die Jim und Lukas mit Emma in die Fremde treibt – wo sie schließlich auf eine vorläufige Lösung des lummerländischen Raumproblems stoßen: Gegen Ende des ersten Bandes entdecken sie eine unbewohnte schwimmende Insel, die in der Folge an ihre Heimat angedockt und auf den Namen Neu-Nummerland getauft wird33. Zu all dem fügt es sich, dass es just eine Lokomotive ist, mit der Endes Hauptfiguren eine Vielzahl ,exotischer‘ Gefilde durchqueren, fungierte doch die Eisenbahn im Kolonialdiskurs als das Symbol „für den technischen Fortschritt und damit für die Kulturüberlegenheit der europäischen, deutschen Welt“ (Kundrus 2003:160; vgl. auch Honold 2010).

Der Aufmerksamkeit bedarf zudem Endes Gestaltung des Reiches Mandala und seiner Bevölkerung: In den ersten Ausgaben war hier noch explizit von China die Rede (was auch auf die Marionettenstücke der Augsburger Puppenkiste zutrifft), doch änderte der Autor selbst die Landesbezeichnung schon vor Jahrzehnten ab (vgl. Rösch 2000:145). Eine zusätzliche Modifikation nahm er insofern vor, als die Mandalanier mittlerweile keine ,Schlitzaugen‘ mehr besitzen (vgl. ebd.:145), sondern „Mandelaugen“ (Ende 2004a:39). Allerdings vermag dies nicht zu übertünchen, dass in den entsprechenden Passagen etliche, vorwiegend pejorative China-Klischees zum Tragen kommen. So werden die Mandalanier zwar einerseits als „eines der klügsten Völker der Erde“ (ebd.:53) charakterisiert, andererseits jedoch herrschen bei ihnen ein heilloses Gewimmel (vgl. ebd.:39), eine verschwenderische Prunksucht (vgl. ebd.:81) und eine exzessive Bürokratie (vgl. ebd.:64-72)34. Des Weiteren neigen sie zu heimtückischer Servilität (vgl. ebd.:42f) sowie zu einer ungemein blumigen Ausdrucksweise (vgl. ebd.:48), und überdies serviert man in Mandala einigermaßen bizarre Speisen: Zu den landestypischen Spezialitäten zählen etwa „gesottene Wespennester mit Schlangenhaut in Essig und Öl“ oder „panierte Pferdeäpfel in Elefanten-Sahne“ (ebd.:50). Obwohl sich unter den Mandalaniern positiv gezeichnete Figuren wie Li Si oder der lebenskluge Säugling Ping Pong finden, ist somit kaum von der Hand zu weisen, dass bei Ende eurozentrische China-Imaginationen ausbuchstabiert werden, die man als „stigmatisierend und stereotypisierend“ (Rösch 2000:145) einstufen muss (vgl. auch Friedrich / Ebbinghaus 2004:79)35.

Engführung: Blackness als Devianz

Details

Seiten
274
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653064643
ISBN (ePUB)
9783653952452
ISBN (MOBI)
9783653952445
ISBN (Paperback)
9783631671313
DOI
10.3726/978-3-653-06464-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Kulturelle Identität Afrikaimaginationen Erinnerungsorte Kulturelles Gedächtnis Generationenroman Postkolonialismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 274 S., 4 farb. Abb., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in)

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