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Mehrfachansässigkeit im Ertragsteuerrecht

von Michael Brandl (Autor:in)
©2016 Dissertation XLII, 220 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch untersucht eines der wichtigsten Ziele im internationalen Steuerrecht: die Vermeidung der doppelten oder mehrfachen Besteuerung von natürlichen oder juristischen Personen. Um eine solche zu verhindern, vereinbaren Staaten im Regelfall so genannte Doppelbesteuerungsabkommen miteinander. Diese orientieren sich regelmäßig am OECD-Musterabkommen. Wenn eine Person in mehr als zwei Staaten ansässig ist, müssen mehrere, jeweils bilateral vereinbarte Abkommen «zusammenwirken», um eine doppelte oder mehrfache Besteuerung zu vermeiden. Der Autor untersucht unter Einbeziehung des OECD-Musterkommentars, inwieweit dies gelingt. Er hinterfragt kritisch die im OECD-Musterkommentar seit dem Jahr 2008 vorgesehene, «neue» Vorgehensweise. Durch spezielle Interpretation des Artikel 4 Absatz 1 Satz 2 des OECD-Musterabkommens soll sowohl eine doppelte oder mehrfache Besteuerung vermieden als auch eine Nichtbesteuerung von Einkünften verhindert werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Problemaufriss
  • II. Gang der Darstellung
  • B. Begründung der Ansässigkeitserkmale in Deutschland und anderen Ländern
  • I. Wohnsitz
  • 1. Auslegung des Merkmals im deutschen Recht
  • 2. Auslegung des Merkmals in anderen Ländern
  • a) Beispiel Österreich
  • b) Beispiel Schweiz
  • c) Beispiel Frankreich
  • d) Beispiel USA
  • e) Beispiel Großbritannien
  • 3. Einschränkungen nach Doppelbesteuerungsabkommen
  • II. Gewöhnlicher Aufenthalt
  • 1. Auslegung des Merkmals im deutschen Recht
  • 2. Auslegung des Merkmals in anderen Ländern
  • a) Beispiel Österreich
  • b) Beispiel Schweiz
  • c) Beispiel Frankreich
  • d) Beispiel USA
  • e) Beispiel Großbritannien
  • 3. Einschränkungen nach Doppelbesteuerungsabkommen
  • III. Ort der Geschäftsleitung
  • 1. Begriff nach deutschem Recht
  • 2. Sonderproblem der Personengesellschaften
  • a) Situation mit zwei Staaten
  • b) Involvierung von drei Staaten
  • 3. Auslegung des Merkmals in anderen Ländern
  • a) Beispiel Österreich
  • b) Beispiel Schweiz
  • c) Beispiel Frankreich
  • d) Beispiel USA
  • e) Beispiel Großbritannien
  • IV. „Anderes ähnliches Merkmal“
  • 1. Fiktive unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 II EStG
  • 2. Fiktive unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 III EStG
  • 3. Weitere Merkmale
  • 4. Sitz
  • 5. Weitere Merkmale in anderen Staaten
  • a) Beispiel Österreich
  • b) Beispiel Schweiz
  • c) Beispiel Frankreich
  • d) Beispiel USA und Großbritannien
  • C. Vorgehensweise bei Doppelansässigkeit nach dem OECD-MA
  • I. Art. 4 II OECD-MA
  • 1. Ständige Wohnstätte
  • 2. Mittelpunkt der Lebensinteressen
  • 3. Gewöhnlicher Aufenthalt
  • 4. Staatsangehörigkeit
  • 5. Regelung im gegenseitigen Einvernehmen
  • II. Art. 4 III OECD-MA
  • 1. Anwendungsbereich
  • 2. Unterschiedliche Auslegung des Art. 4 III OECD-MA
  • a) Unterschiedliches nationales Verständnis
  • b) Autonome Auslegung
  • c) Frühere Änderungsvorschläge zu Art. 4 III OECD-MA
  • d) Änderung des OECD-Musterkommentars 2008 und deren Folgen
  • 3. Alternativformulierung: Art. 4 Tz. 24.1 OECD-Musterkommentar
  • 4. Sonderproblem: Tatsächlicher Ort der Geschäftsleitung in Drittstaat
  • 5. Mehrfache Ansässigkeit einer Gesellschaft
  • 6. Keine Situation der Doppelansässigkeit
  • D. Steuerliche Wirkungen der Doppelansässigkeit
  • I. Veränderungen der Steuerlast
  • 1. Natürliche Personen
  • a) Grundsätzliche Betrachtungen
  • aa) Untersuchung zu den Überschusseinkünften
  • bb) Vergleich von beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht
  • b) Konkrete Einzelfälle
  • aa) Situation 1 (Vergleich bei einfachem Fall)
  • bb) Situation 2 (Quelleneinkünfte aus Drittstaaten)
  • cc) Situation 3 (Fall mit Außensteuergesetz)
  • 2. Kapitalgesellschaften
  • a) Keine Betrachtung von Personengesellschaften
  • b) Konkrete Einzelfälle (z.B. „Dreiecksverhältnisse“)
  • aa) Situation 1
  • bb) Situation 2 (Quelleneinkünfte aus Drittstaaten)
  • cc) Situation 3 (Dividendenzahlung an Person im Drittstaat)
  • dd) Situation 4 (keine drei Abkommen)
  • II. Spezialbegriff „Treaty Shopping“
  • 1. Verschiedene Gestaltungsformen
  • a) Treaty Shopping im engeren Sinne
  • b) Directive Shopping
  • c) Rule Shopping
  • 2. Abkommensrechtliche Klauseln zur Missbrauchsbekämpfung
  • a) „subject-to-tax“ Klauseln
  • b) „channel approach“
  • c) Aktivitätsklauseln
  • d) „switch over“ Klauseln
  • e) „Limitation on Benefits“ Klauseln
  • f) Spezielle Anti Treaty Shopping Regelungen
  • 3. Nationale Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung
  • a) § 42 AO
  • b) § 50d III EStG
  • c) § 50d IX EStG
  • d) § 50g IV EStG
  • III. Ergebnis
  • E. Mehrfachansässigkeit
  • I. Bisheriges Vorgehen bei der Mehrfachansässigkeit
  • 1. Nicht natürliche Personen
  • a) Ansicht des niederländischen Finanzministeriums
  • b) Entscheidung des Hoge Raad vom 28. Februar 2001
  • c) Bewertung
  • d) Beispielhafte Konstellation mit Dreifachansässigkeit
  • 2. Natürliche Personen
  • a) Meinung des niederländischen Finanzministeriums
  • b) Bewertung
  • c) Vorgehen bei Dreifachansässigkeit
  • d) Beispielsfall mit vierfacher Ansässigkeit
  • 3. Kritische Punkte zu dieser Auslegung
  • II. Vorgehen nach der Änderung des OECD-Musterkommentars 2008
  • 1. Erläuterung der neuen Kommentierung im Musterkommentar
  • 2. Kritische völkerrechtliche Betrachtung der „neuen Kommentierung“
  • 3. Grundsätze der Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen
  • a) Art. 31 WVK
  • b) Art. 32 WVK
  • c) Art. 33 WVK
  • d) Weitere völkerrechtliche Regeln der Vertragsauslegung
  • 4. Besonderheiten bei der Auslegung der DBA
  • a) Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die Auslegung
  • aa) Rechtliche Verbindlichkeit des Musterkommentars
  • bb) Bindung an den Musterkommentar kraft rechtlicher Prinzipien
  • (1) Abkommen zwischen OECD-Mitgliedstaaten
  • (2) Abkommen zwischen einem OECD-Mitgliedstaat und einem Nichtmitgliedstaat
  • (3) Abkommen zwischen Nichtmitgliedstaaten
  • (4) Stellungnahme
  • cc) Subsumtion unter Art. 31 II WVK
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungnahme zur Subsumtion unter Art. 32 II lit. a WVK
  • (3) Stellungnahme zur Subsumtion unter Art. 31 II lit. b WVK
  • dd) Subsumtion unter Art. 31 I WVK
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungnahme
  • ee) Subsumtion unter Art. 31 IV WVK
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungnahme
  • ff) Beachtung über Art. 32 WVK
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungahme
  • gg) Differenzierte Ansichten
  • (1) Abgrenzung nach Version des Musterkommentars
  • (2) Stellungnahme
  • (3) Abgrenzung nach Art der Aussagen im Musterkommentar
  • (4) Stellungnahme
  • (5) Berücksichtigung des Musterkommentars im Rahmen teleologischer Auslegung
  • (6) Stellungnahme
  • hh) Bedeutendes Auslegungsmittel außerhalb der WVK
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungnahme
  • ii) Rechtsprechung
  • (1) Kanadischer Supreme Court
  • (2) Bundesfinanzhof
  • (3) Conseil d’Etat in Frankreich
  • (4) Hoge Raad in den Niederlanden
  • (5) Verwaltungsgerichtshof in Österreich
  • (6) USA
  • jj) Ergebnis
  • b) Dynamische oder statische Auslegung
  • aa) Aspekte für dynamische Auslegung
  • (1) Art. 31 III lit. a WVK
  • (2) Art. 31 III lit. b WVK
  • (3) Art. 31 III lit. c WVK
  • (4) Art. 32 WVK
  • (5) Anderweitige Berücksichtigung
  • bb) Aspekte für statische Auslegung
  • cc) Differenzierte Ansichten
  • (1) Begründung
  • (2) Stellungnahme
  • dd) Rechtsprechung
  • (1) Kanadischer Supreme Court
  • (2) Bundesfinanzhof
  • (3) Conseil d’Etat in Frankreich
  • (4) Hoge Raad in den Niederlanden
  • (5) Verwaltungsgerichtshof in Österreich
  • (6) USA
  • ee) Ergebnis
  • 5. Folge für die Kommentierung zu Art. 4 I 2 OECD-MA
  • 6. Kritik und Problemfälle der „neuen Kommentierung“
  • a) Fehlerhafte Auslegung des Art. 4 I 2 OECD-MA
  • b) Nachteile dieser Interpretation
  • c) Schwierigkeiten durch „frühere“ Abkommen
  • d) Verfahren bei Dreifachansässigkeit
  • e) Verfahren bei Vierfachansässigkeit
  • f) Sichtweise des Bundesfinanzhofes
  • 7. Ergebnis
  • F. Steuerliche Wirkungen der Mehrfachansässigkeit
  • I. Veränderungen der Steuerlast
  • 1. Natürliche Personen
  • 2. Kapitalgesellschaften
  • II. „Treaty Shopping“ durch Mehrfachansässigkeit
  • G. Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • I. Auszüge des OECD-Musterabkommens 2014 (in englischer Sprache)
  • II. Auszüge des OECD-Musterkommentars 2014 (in englischer Sprache)

← XVI | 1 →

A.   Einleitung

I.   Problemaufriss

Die Ansässigkeit von natürlichen Personen in zwei oder mehreren Staaten ist heutzutage kein absoluter Ausnahmefall mehr. Ähnliche Erscheinungen gibt es auch bei juristischen Personen.1 Grund hierfür ist nicht nur die fortschreitende Globalisierung, sondern mitunter die Schaffung des Europäischen Binnenmarkts. In dem gemeinsamen Markt haben große Unternehmen meist Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten. Infolge der EU-Grundfreiheiten haben sie die Möglichkeit ihre Geschäftsleitung mehr oder weniger problemlos in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.2 Oft müssen leitende Angestellte deshalb an verschiedenen Orten tätig sein und können somit in zwei oder auch mehreren verschiedenen Ländern Ansässigkeitskriterien, wie etwa den Wohnort (§ 8 AO) oder den gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) erfüllen. Dies kann sich ferner aus rein privaten Gründen ergeben.

Das steuerliche Problem der doppelten (und mehrfachen) Ansässigkeit besteht darin, dass alle jeweiligen Ansässigkeitsstaaten grundsätzlich aufgrund einer daraus folgenden unbeschränkten Steuerpflicht nach dem Welteinkommensprinzip oder Universalitätsprinzip alle Einkünfte des Ansässigen besteuern wollen.3 Das ergibt sich aus § 1 I des deutschen EStG sowie ähnlicher Vorschriften in anderen Staaten. Somit würde es zu einer doppelten (oder mehrfachen) Besteuerung der gleichen Erträge kommen. Zu unterscheiden ist zwischen der juristischen und der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung. Eine juristische Doppelbesteuerung ist anzunehmen, wenn ein Steuerzahler (Steuersubjekt) für dieselbe Einkünftequelle (Steuerobjekt) und den identischen Zeitraum (Steuerperiode) in zwei oder mehreren Staaten vergleichbare Steuern entrichten muss.4 Von einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung wird ausgegangen, wenn zwar derselbe Wirtschaftsvorgang und Vermögenswert ← 1 | 2 → (Steuerobjekt) in zwei oder mehreren Staaten im identischen Zeitraum (Steuerperiode) belastet wird, jedoch bei unterschiedlichen Steuersubjekten.5

Die schädlichen Auswirkungen der Doppelbesteuerung für die globale Wirtschaft und auch die betroffenen Personen sind allgemein anerkannt.6 Um Doppelbesteuerungen zu verhindern, werden deshalb Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den jeweiligen Staaten abgeschlossen. Hierbei handelt es sich um völkerrechtliche Verträge zwischen einzelnen Staaten im Sinne des Art. 59 II GG. Das älteste moderne Doppelbesteuerungsabkommen wurde bereits am 16.04.1869 zwischen Sachsen und Preußen unterzeichnet.7 Diese Abkommen regeln die Verteilung der Besteuerungsrechte zwischen den betroffenen Staaten, damit es zu keiner doppelten oder mehrfachen Besteuerung des Pflichtigen kommt.8 Im Grundsatz geschieht das durch die Anrechnungs- oder die Freistellungsmethode.9

Bei der Freistellungsmethode, auch Befreiungsmethode genannt, verzichtet ein Staat (zum Beispiel Staat A: in der Regel der Ansässigkeitsstaat im Sinne des Abkommens) zugunsten des anderen Staates (Staat B) auf sein Besteuerungsrecht.10 Der verzichtende Staat A stellt die Einkünfte frei. Sein Besteuerungsrecht wird durch das Abkommen beschränkt. Bei der Anrechnungsmethode rechnet der Staat A die im Staat B für die dort gelegenen Vermögensteile gezahlten Steuern auf die in Staat A nach dem Welteinkommensprinzip zu zahlende Gesamtertragssteuer an.11 Das bedeutet, der Steuerpflichtige zahlt im Ergebnis insgesamt mindestens die Steuer, die im Staat A beansprucht wird. Zusammengefasst zahlt er immer für die betreffenden Einkünfte die Steuer des höher besteuernden Staates. Möglich ist auch, dass dem Staat B laut Abkommen nur ein gewisser Quellensteuersatz (z.B. 10 %) zugestanden wird und er im Übrigen die Einkünfte freistellen muss.12

Die Anrechnung kann auch durch unilaterale Maßnahmen, in Deutschland durch § 34c I EStG, erfolgen. Daneben gibt es noch zwei weitere unilaterale Methoden mit geringerer Bedeutung, die Pauschalierung der Steuer auf ausländische Einkünfte ← 2 | 3 → (siehe § 34c V EStG) und den Abzug von der Bemessungsgrundlage (siehe § 34c II, III EStG).13

Es bildete sich im Laufe der Zeit durch die Globalisierung unter den Staaten ein regelrechtes „Netz“ von Doppelbesteuerungsabkommen. Deutschland hat beispielsweise für den Bereich der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen mit über 90 Staaten Doppelbesteuerungsabkommen vereinbart.14 Bei der mehrfachen Ansässigkeit (d.h. Erfüllung eines Ansässigkeitsmerkmales wie Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt oder Ort der Geschäftsleitung in mehr als zwei Staaten) gibt es aber derzeit, bis auf wenige Ausnahmen15 keine multilateralen Abkommen, welche im speziellen die mehrfache Besteuerung verhindern. Stattdessen ist diese Erscheinung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, den im Moment geltenden Doppelbesteuerungsabkommen, zu bewältigen.

Hilfreich ist, dass sich der überwiegende Teil der abgeschlossenen Abkommen am Muster der OECD orientiert. Die OECD (= The Organisation for Economic Co-operation and Development) ist eine Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit von Staaten, die im Jahr 1961 durch das Inkrafttreten der 1960 unterzeichneten OECD-Konvention gegründet wurde.16 Mittlerweile hat die OECD 34 Mitgliedstaaten.17

Im Jahr 1963 hat die OECD ein Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Einkommen und Vermögen mit dazu gehörendem Kommentar entworfen und veröffentlicht.18 Seitdem wird den Mitgliedstaaten empfohlen, neu vereinbarte bilaterale Abkommen, diesem Muster entsprechend zu schließen.19 Die Vereinheitlichung der Abkommen dient der Vereinfachung des internationalen Steuerrechts. Die einzelnen Staaten verwenden auch bei Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens im Regelfall dieses Musterabkommen. Üblicherweise werden gewisse Änderungen an einzelnen Artikeln vereinbart. Im ← 3 | 4 → konkreten Fall ist das jeweilige von den betreffenden Staaten abgeschlossene Abkommen heranzuziehen. Da sich dieses aber im Regelfall am OECD-Musterabkommen (im Folgenden: OECD-MA) orientiert, wird in dieser Arbeit eine eingehende Betrachtung der entscheidenden Vorschriften des OECD-MA aus 2014 durchgeführt. Auf spezielle Abkommen sowie deutsche abkommensrechtliche Besonderheiten wird an einigen Stellen eingegangen. Das OECD-MA und der Musterkommentar sind nur in englischer und französischer Sprache abgefasst.20

Daneben gibt es noch das US-Musterabkommen und das „UN-Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zwischen einem Industriestaat und einem Entwicklungsland“. Letzteres berücksichtigt speziell die Situation der Entwicklungsländer und sieht deshalb ein stärkeres Besteuerungsrecht des Quellenstaates vor (das jeweilige Entwicklungsland stellt bei den relevanten Einkünften meist den Quellenstaat dar).21 Das Musterabkommen, welches die Vereinigten Staaten verwenden, basiert zum großen Teil auf dem OECD-MA, betont aber stärker die Interessen der USA als typischen Ansässigkeitsstaat zum Beispiel durch vermehrte Verwendung der Steueranrechnungsmethode, und enthält zahlreiche Missbrauchsklauseln.22

Das OECD-MA mit entsprechendem Musterkommentar wird von der OECD in regelmäßigen Abständen aktualisiert und den neuen Entwicklungen angepasst. Zugrunde gelegt werden dieser Untersuchung in erster Linie das OECD-MA von 2014 und der Musterkommentar von 2014.23

II.   Gang der Darstellung

Die Untersuchung beschränkt sich auf Fälle der tatsächlich gegebenen Ansässigkeit. Die Möglichkeiten und Folgen einer „Scheinansässigkeit“, bei der das Vorliegen der Ansässigkeitsmerkmale nur „vorgetäuscht“ wird und diese nicht tatsächlich erfüllt sind, werden in der Arbeit nicht behandelt. Auf den Einfluss des Unionsrechts wird gleichfalls nicht eingegangen.24

Damit sich das Problem der Doppel- oder Mehrfachansässigkeit stellt, müssen die betreffenden Personen in zwei oder mehreren Staaten nach Normen des nationalen ← 4 | 5 → Rechts ansässig sein. Der hier relevante Art. 4 I 1 OECD-MA verweist auf das nationale Recht. Die Person muss nach dem nationalen Recht des entsprechenden Staates aufgrund des Wohnsitzes, des ständigen Aufenthaltes, des Ortes der Geschäftsleitung oder eines ähnlichen Merkmals dort ansässig sein. Die Ansässigkeitsmerkmale werden deshalb nach deutschem Recht erläutert. Hierbei wird auch auf ausgewählte Unterschiede in anderen Staaten eingegangen.

Danach wird auf die Lösung des Problems der Doppelansässigkeit durch das OECD-MA eingegangen. Art. 4 II OECD-MA enthält die so genannte „Tie-Breaker“-Regelung für natürliche Personen. Damit wird festgestellt, in welchem der beiden Staaten die betreffende Person bei einer doppelten Ansässigkeit ansässig im Sinne des Abkommens ist. Der andere Staat ist der Nichtansässigkeitsstaat. Im Wege einer Rangfolge werden in Art. 4 II OECD-MA verschiedene Abgrenzungsmerkmale genannt. Zunächst ist zur Bestimmung des Ansässigkeitsstaates auf den Staat abzustellen, in dem der Betreffende eine ständige Wohnstätte hat. Sofern dies in beiden Staaten der Fall ist, kommt es darauf an, in welchem der beiden Staaten der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen liegt (Art. 4 II lit. a OECD-MA). Sofern dadurch noch keine Abgrenzung vorgenommen werden kann, so zählt der Staat, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 4 II lit. b OECD-MA). Falls auch dies nicht zielführend ist, ist die Staatsbürgerschaft das entscheidende Kriterium (Art. 4 II lit. c OECD-MA). Wenn die Person Staatsangehöriger beider oder keines der beiden Staaten ist, so wird die Angelegenheit durch die beiden Staaten im gegenseitigen Einvernehmen geregelt (Art. 4 II lit. d OECD-MA).

Die Bestimmung eines Ansässigkeitsstaates im Sinne des Abkommens ist entscheidend dafür, dass die Verteilungsnormen eines Doppelbesteuerungsabkommens ordnungsgemäß funktionieren.

Für andere als natürliche Personen dient Art. 4 III OECD-MA dieser Unterscheidung: „Ist nach Absatz 1 eine andere als eine natürliche Person in beiden Vertragsstaaten ansässig, so gilt sie als nur in dem Staat ansässig, in dem sich der Ort ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung befindet.“25. Die Regelungen werden darauf untersucht, ob sie in allen Fällen zufriedenstellende Lösungen herbeiführen können.

Es stellt sich hier die Frage, welche steuerlichen Gestaltungen durch die Schaffung einer Doppelansässigkeit möglich sind und ob diese dann vorteilhafte oder negative Auswirkungen haben. Zu denken ist etwa an die Beibehaltung eines alten Wohnsitzes, um die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG zu vermeiden. Umgekehrt ist auch die Beendigung einer doppelten Ansässigkeit abstrakt zu betrachten. Insbesondere die Erscheinung des so genannten „Treaty-Shoppings“ muss untersucht werden. Unter diesen Begriff fällt unter anderem die Situation, dass ein Ansässigkeitsmerkmal in einem Land nur deshalb erfüllt wird, um die Anwendbarkeit eines bestimmten Abkommens zu erreichen. Genaueres wird unter D.II erläutert. Es gibt hier ← 5 | 6 → unterschiedliche Erscheinungsformen, die mittlerweile teilweise durch Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch unterbunden werden.

Schließlich ist das Problem der Mehrfachansässigkeit zu untersuchen. Es gibt hierzu einen gängigen Lösungsweg der Praxis. Der OECD-Musterkommentar wurde im Jahr 2008 geändert und enthält nun eine „andere Lösung“ mit einer von nun an komplett gegenteiligen Auslegung des Art. 4 I 2 OECD-MA.26 Diese neue Kommentierung wird zunächst kritisch beurteilt. Interessant ist hier vor allem der Rechtscharakter dieser Kommentierung. Es drängt sich die Frage auf, ob sie auch für Abkommen anzuwenden ist, die sich zwar an der Vorschrift des Art. 4 I 2 OECD-MA orientieren, diese meist mit identischem Wortlaut enthalten, aber vor dem Jahr 2008 geschlossen wurden. Hier spielt unter anderem auch das Verfassungsrecht eine Rolle.

Nach dieser Einschätzung wird auf mögliche steuerliche Gestaltungen durch Schaffung einer Mehrfachansässigkeit eingegangen. Es können sich besondere Vor- oder Nachteile ergeben. Abschließend wird ein vorsichtiger Blick in die Zukunft gewagt.


1 Die doppelte Ansässigkeit ergibt sich hier meist dadurch, dass sich nach der Gründung (Sitz) der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung in ein anderes Land verschiebt; vgl. Staringer, Besteuerung doppelt ansässiger Kapitalgesellschaften, 1999, S. 33 ff.

2 Vgl. EuGH Urteil v. 04.11.2002 – C-208/00, in Slg. I-9919 – Überseering, NJW 2002, 3614 ff.; EuGH Urteil v. 29.11.2011 – C-371/10 „National Grid Indus“, in ABl. EU 2012/C 32/9 v. 04.02.2012, DStR 2011, 2334.

3 Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, 6. Auflage 2015, Grundlagen des Abkommensrechts, A.III, Rn. 7.

4 Vgl. OECD-Musterabkommen 2014, Einleitung Nr. 1; Schönfeld/Häck, in: Schönfeld/Ditz, DBA, 1. Auflage 2013, Systematik Rn. 2; umfangreich erläutert in Spitaler, Das Doppelbesteuerungsproblem bei den direkten Steuern, 2. Auflage 1967 (Nachdruck der 1. Auflage von 1936), S. 52 ff.

5 Vgl. näher hierzu Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, 6. Auflage 2015, Grundlagen des Abkommensrechts, A.III, Rn. 9.

6 Vgl. OECD-Musterabkommen 2014, Einleitung Nr. 1 ff.

7 Abkommen abgedruckt auf Umschlagseite III, IStR Heft 24/2006.

8 Näheres hierzu bei Spitaler, Das Doppelbesteuerungsproblem bei den direkten Steuern, 2. Auflage 1967 (Nachdruck der 1. Auflage von 1936), S. 417 ff.

9 Detaillierte Erläuterungen hierzu bei Mössner, Die Methoden der Vermeidung der Doppelbesteuerung, in: Vogel, Grundfragen des Internationalen Steuerrechts, 1985, S. 135 ff.

10 Vgl. Art. 23 A OECD-MA 2014; Schönfeld/Häck, in: Schönfeld/Ditz, DBA, 1. Auflage 2013, Systematik Rn. 50 ff.

11 Vgl. Art. 23B OECD-MA 2014; Schönfeld/Häck, in: Schönfeld/Ditz, DBA, 1. Auflage 2013, Systematik Rn. 50 ff.

12 Siehe. Zinseinkünfte nach Art. 11 OECD-MA 2014.

13 Vgl. näher hierzu Frotscher, Internationales Steuerrecht, 4. Auflage 2015, Rn. 290 ff.

14 Vgl. BMF-Schreiben „Stand der Doppelbesteuerungsabkommen und anderer Abkommen im Steuerbereich sowie der Abkommensverhandlungen am 1. Januar 2013“; abzurufen unter www.bundesfinanzministerium.de.

15 Multilaterales Abkommen der UNO zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Urheberrechten vom 13.12.1979; weitere Abkommen genannt bei Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, 6. Auflage 2015, Grundlagen des Abkommensrechts, A.III, Rn. 40a; hilfreich in der Praxis hier das EU-Schiedsübereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der EU (90/436/EWG), im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen.

16 Näheres siehe: http://www.oecd.org/about/history/, Abrufdatum: 20.08.2014.

17 Siehe http://www.oecd.org/general/listofoecdmembercountries-ratificationoftheconventionontheoecd.htm, Abrufdatum: 24.06.2015.

18 Vgl. OECD-Musterabkommen 2014, Einleitung Nr. 4 ff.; Originaltitel: „OECD Draft Double Taxation Convention on Income and Capital“; näheres zur geschichtlichen Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg: Wassermeyer, in: Debatin/Wassermeyer, DBA, Vor Art. 1 MA Rn. 79.

19 Vgl. OECD-Musterabkommen 2014, Einleitung Nr. 6.

20 BMF veröffentlichte am 18.02.2004 eine Übersetzung des OECD-MA 2003, BStBl I 2004, 286 ff.; eine offizielle deutsche Übersetzung des OECD-MA (2014) von der OECD existiert nicht; Auszüge des OECD-MA 2014 und Auszüge des OECD-Musterkommentars 2014 finden sich im Anhang.

21 Schönfeld/Häck, in: Schönfeld/Ditz, DBA, 1. Auflage 2013, Systematik Rn. 29.

22 Haase, in: Haase, AStG/DBA, 2. Auflage 2012, Kapitel II Einleitung Rn. 4; Frotscher Internationales Steuerrecht, 4. Auflage 2015, Rn. 51.

Details

Seiten
XLII, 220
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065107
ISBN (ePUB)
9783653961546
ISBN (MOBI)
9783653961539
ISBN (Hardcover)
9783631673010
DOI
10.3726/978-3-653-06510-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Ansässigkeit OECD-Musterabkommen OECD-Musterkommentar Doppelbesteuerungsabkommen Internationales Steuerrecht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. XLII, 220 S., 8 Graf.

Biographische Angaben

Michael Brandl (Autor:in)

Michael Brandl studierte Rechtswissenschaft an der Universität Passau und promovierte dort während seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und internationales Wirtschaftsrecht. Er arbeitet als Rechtsanwalt bei einer international tätigen Großkanzlei.

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