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Das Abstandsgebot in Richtlinie 2012/18/EU («Seveso-III-Richtlinie») und seine Auswirkungen auf die Erteilung von Baugenehmigungen

Deutsche Behörden zwischen Baurecht, Umweltrecht und Europarecht

von Michaela Mühlmann (Autor:in)
©2016 Dissertation XVIII, 245 Seiten

Zusammenfassung

Mit dem Urteil vom 15.09.2011 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Baugenehmigungsbehörden der Mitgliedstaaten auch bei gebundenen Entscheidungen das unionsrechtliche Abstandsgebot aus Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU (damals noch Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 der Vorgänger-Richtlinie 96/82/EG) zu berücksichtigen hätten (Rs. C-53/10, Fall «Mücksch»). Unter Beachtung nationaler Rechtsprechung behandelt die Autorin Lösungsansätze zur erforderlichen Integration des Abstandsgebots in das nationale Recht. Sie legt den Schwerpunkt auf die Klärung des dogmatischen Fundaments der Rechtsprechung. Diese ergibt zwar im Ergebnis ein schlüssiges System, in welchem Unions- und nationales Recht erfolgreich ineinander greifen, entlastet aber den nationalen Gesetzgeber nicht von seiner Umsetzungspflicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Zitationsregeln
  • A) Die „Seveso-Richtlinien“ – Hintergründe und das Anliegen dieser Arbeit
  • I. Entwicklung der „Seveso-Richtlinien“
  • II. Struktur und Inhalt der Richtlinien – von Seveso I bis III
  • III. Ziel und Vorgehensweise der Untersuchung
  • B) Genese des unionsrechtlichen Abstandsgebots und mögliche Konstellationen
  • I. Von Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 96/82/EG zu Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU
  • 1. Genese der Vorschrift über mehrere Richtlinien hinweg
  • a) Entwicklung
  • b) Vergleich von Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 der Seveso-II-Richtlinie mit Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie
  • c) Bedeutung der Änderungen
  • 2. Betrieb vs. schutzbedürftige Nutzungen
  • a) Betrieb und Anlage im Sinne der Seveso-Richtlinien
  • b) Öffentlich genutztes Gebäude als schutzbedürftige Nutzung mit „Genehmigungsrelevanz“
  • II. Mögliche „Konstellationen eines Nebeneinanders“ mit Blick auf national erforderliche Genehmigungen
  • 1. Schutzbedürftige Nutzung (Vorhaben) – Betrieb im Sinne der Richtlinie
  • 2. Schutzbedürftige Nutzung – schutzbedürftige Nutzung
  • 3. Genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne der §§ 4 ff. BImSchG/ Betrieb im Sinne der Richtlinie (Vorhaben) – schutzbedürftige Nutzung
  • 4. Genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne der §§ 4 ff. BImSchG/ Betrieb im Sinne der Richtlinie (Vorhaben) – Betrieb im Sinne der Richtlinie
  • 5. „Gefährliche Entwicklung in der Nachbarschaft eines Betriebs“ (Vorhaben) – Betrieb im Sinne der Richtlinie
  • 6. Änderung bestehenden Betriebs im Sinne der Richtlinie (Vorhaben) – schutzbedürftige Nutzung
  • 7. Spezialfälle: Bauliche Anlage, die eine nicht genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne der §§ 22 ff. BImSchG ist (Vorhaben) – Betrieb oder schutzbedürftige Nutzung im Sinne der Richtlinie
  • C) Das unionsrechtliche Abstandsgebot nach Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie in seiner Bedeutung für die nationale (Raum-) Planung
  • I. „Planerischer Störfallschutz“ auf Unionsebene
  • 1. Auslegungserfordernis (auch) im Unionsrecht
  • 2. Bauleitplanung als „Politik“ im Sinne der Richtlinie(n)?
  • II. Nationale Regelung eines „planerischen Störfallschutzes“ in § 50 S. 1 BImSchG
  • 1. Entwicklung
  • 2. Inhalt der Vorschrift – insbesondere: Anwendung von § 50 S. 1 BImSchG auf „Planungen“
  • a) „Raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen“
  • b) „Betriebsbereich“ im Sinne des § 50 S. 1 BImSchG
  • 3. Bedeutung der Regelung des § 50 S. 1 BImSchG für den planerischen Störfallschutz
  • III. Erfordernis der Umsetzung der Abwägungsdirektive des § 50 S. 1 BImSchG auf den Ebenen der Raumplanung
  • IV. Fazit für den planerischen Bereich unter besonderer Berücksichtigung neuerer Entwicklungen
  • 1. Umsetzung in der Planung
  • 2. Bedeutung der Mücksch-Rechtsprechung
  • 3. Änderungen durch die Richtlinien-Neufassung
  • D) Die Bedeutung des unionsrechtlichen Abstandsgebots aus Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU für die Zulassung von Einzelvorhaben (schutzbedürftige Nutzungen) im Baugenehmigungsverfahren
  • I. Der Fall „Mücksch“
  • 1. Ausgangsverfahren und Berufungsinstanz
  • a) Ausgangssachverhalt der Parallelverfahren
  • b) Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung
  • c) Klage der durch den Vorbescheid Begünstigten auf Zurückweisung des Drittwiderspruchs der Beigeladenen
  • d) Weitere Verfahrensfragen; Zwischenstand
  • 2. Revisionsinstanz
  • a) Vorlagebeschluss an den EuGH
  • b) EuGH, Urteil vom 15.09.2011
  • c) Entscheidungen des BVerwG vom 20.12.2012
  • aa) Klage auf Zurückweisung des Drittwiderspruchs der Beigeladenen (Revisionsinstanz)
  • bb) Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung (Revisionsinstanz)
  • 3. Entscheidungen des VGH nach der Zurückverweisung
  • II. Ausgangssituation bei baurechtlichen Genehmigungsentscheidungen nach (nur) nationalem Recht
  • 1. Baugenehmigung
  • 2. Vorbescheid
  • III. Relevanz des unionsrechtlichen Abstandsgebots aus Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie bei behördlichen Zulassungsentscheidungen über schutzbedürftige Nutzungen
  • 1. Die Sichtweise der jüngsten Rechtsprechung im Verfahren „Mücksch“
  • 2. Differenzierungskriterium: Gebietstypen der §§ 30 ff. BauGB
  • a) Relevanz des unionsrechtlichen Abstandsgebots für die Zulassung von Einzelvorhaben (schutzbedürftigen Nutzungen) im Geltungsbereich eines Bebauungsplans
  • aa) Rechtsprechung
  • bb) Rechtswissenschaftlicher Diskurs
  • cc) Unzureichende Berücksichtigung des Abstandsgebots im Bebauungsplan
  • b) Zulassung von Vorhaben im unbeplanten Innenbereich nach § 34 BauGB und Außenbereich nach § 35 BauGB
  • 3. Reichweite des unionsrechtlichen Abstandsgebots aus Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie (sachlicher Anwendungsbereich) unter Rekurs auf die Richtlinienadressierung (persönlicher Anwendungsbereich)
  • a) Thematische Hinführung
  • b) Genehmigungsentscheidungen im Anwendungsbereich des Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU?
  • aa) contra
  • bb) pro
  • (1) Wortlaut
  • (2) Historie
  • (3) systematisch-teleologische Auslegung
  • (4) Ziel von Richtlinie und Abstandsgebot
  • (a) Begriff des „Ziels“
  • (b) Ziel der Richtlinie 2012/18/EU sowie des Abstandsgebots in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU
  • (aa) Ziel der Richtlinie
  • (bb) Zweck und Schutzrichtung des Abstandsgebots
  • (i) Zweck des Abstandsgebots: Begrenzung der Folgen schwerer Unfälle
  • (ii) Der „schwere Unfall“ und der „Störfall“ – Begrifflichkeiten aus Unions- und nationalem Recht
  • (iii) Schutzrichtung des Abstandsgebots: Mensch und Umwelt
  • (cc) Zwischenergebnis
  • (5) Die Beeinträchtigung von Richtlinienzielen läuft einer möglichen Verpflichtung zur Erreichung des (verbindlichen) Richtlinienziels zuwider
  • c) Die Zielbindung mitgliedstaatlicher Behörden – eine Frage der Richtlinienadressierung
  • aa) Problemaufriss
  • bb) Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV
  • cc) Richtlinien-Verpflichtungen (Zielerreichung – Umsetzung – Auslegungskonformität – …) in der Rechtsprechung des EuGH
  • (1) Die Rechtsprechung des EuGH (1984–2012)
  • (2) Auswertung dieser Rechtsprechung
  • dd) Folgerungen aus der Rechtsprechung und Bewertung
  • (1) Vorüberlegung zur Organ-Adressierung: Verhältnis Unionsrecht – Völkerrecht
  • (2) Bewertung/Stellungnahme
  • (a) Die „Verpflichtung zur Zielerreichung“ als Verpflichtung im Sinne des Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV?
  • (aa) Dogmatischer Hintergrund
  • (bb) Praktische Auswirkungen auf die Verpflichtung zur Zielerreichung; Herleitung
  • (b) Konsequenz
  • (c) Die richtlinienkonforme Auslegung als „Maßnahme zur Erfüllung der Verpflichtung zur Zielerreichung“?
  • (aa) (Übereinstimmende) Herleitung einer „Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung“ (und einer „Pflicht, Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtung zur Zielerreichung zu ergreifen“)
  • (bb) Zwischenergebnis der übereinstimmenden Herleitung
  • (cc) Adressat der hergeleiteten Pflicht
  • (dd) Zusammenfassung
  • (d) Einschränkung: Zeitpunkt des Beginns einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung
  • ee) Zwischenergebnis zur Zielbindung von Behörden
  • d) Ergebnis zu 3.: Genehmigungsentscheidungen im Anwendungsbereich des Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU
  • e) Verortung der Baugenehmigungs-Entscheidung als „Politik“ oder „Verfahren für die Durchführung dieser Politiken“ im Sinne des Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU?
  • IV. Integration des Abstandsgebots im nationalen Recht bei der Genehmigung schutzbedürftiger Nutzungen, deren bauplaungsrechtliche Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilen ist („Mücksch-Konstellation“)
  • 1. Ausgangslage und dogmatische Grundüberlegungen
  • 2. Lösungsansätze
  • a) Umsetzungsdefizit
  • b) Lösungsansätze auf der Anwendungsebene: Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts
  • aa) Verankerung des Abstandsgebots im Ermessensbereich?
  • bb) Verankerung des Abstandsgebots im Immissionsschutzrecht?
  • cc) Verankerung des unionsrechtlichen Abstandsgebots im Bauplanungsrecht?
  • dd) Lösung der Rechtsprechung – Richtlinienkonforme Auslegung des § 34 BauGB: Rücksichtnahmegebot
  • (1) Zur zweiten und dritten Frage des BVerwG im Fall Mücksch
  • (2) EuGH
  • (3) Schwierigkeit: Wertungsspielraum versus gebundene Zulassungsentscheidung
  • (4) BVerwG-Urteile vom 20.12.2012 und Bewertung
  • (a) BVerwG: Abstandsermittlung
  • (b) BVerwG: Berücksichtigung des (ermittelten, angemessenen) Abstandes
  • ee) Bewertung
  • (1) Vorgehen über § 34 Abs. 1 BauGB und Rücksichtnahmegebot sinnvoll
  • (2) Bloße Abstandsermittlung unproblematisch vereinbar mit § 34 Abs. 1 BauGB
  • (3) „Verschlechterungsverbot“ – Das unionsrechtiche Abstandserfordernis als strikte, zwingende Vorgabe?
  • (4) Die „nachvollziehende Abwägung“ – Zulässigkeit von Spielräumen bei gebundenen (Genehmigungs-) Entscheidungen?
  • (a) Zu weit gehende Ansätze in der Literatur
  • (b) Befürwortung der Vorgehensweise des BVerwG vom 20.12.12 wegen deren Vereinbarkeit mit § 34 Abs. 1 BauGB
  • (aa) Keine echte („planerische“) Abwägung
  • (bb) Kein planerischer Gestaltungsspielraum, kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum
  • (i) Dogmatik im deutschen Verwaltungsrecht zur Existenz von Spielräumen der Verwaltung
  • (ii) Subsumtion der „nachvollziehenden Abwägung“ im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB unter diese Grundsätze
  • (c) Grenzen
  • (aa) Kein „Abwägungsausfall“ bei Existenz von Vorbelastungen
  • (bb) Kein Umschlagen der nachvollziehenden in eine planerische Abwägung
  • (5) Fazit
  • ff) Exkurs: Zulassung einer schutzbedürftigen Nutzung im unbeplanten Außenbereich nach § 35 BauGB
  • gg) „Hilfen“ für die Verwaltung
  • c) Lösungsansätze auf normativer Ebene: Umsetzungsgesetzgebung
  • aa) Gesetzgeberischer Handlungsbedarf?
  • bb) Gesetzesentwurf der Bundesregierung
  • cc) Ungeklärte Aspekte
  • E) Schlussbetrachtung
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Rechtsprechungsverzeichnis
  • Quellenverzeichnis

← XIV | XV →

Abkürzungsverzeichnis

Die in der Ausarbeitung verwendeten Abkürzungen richten sich grundsätzlich nach Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache in der 7. Auflage. Lediglich hiervon abweichende oder ergänzend verwendete Abkürzungen sind im folgenden Abkürzungsverzeichnis aufgeführt.

← XVI | XVII →

Zitationsregeln

Bei der Zitation wurden folgende Regeln angewendet:

1. Hervorhebungen

Hervorhebungen aus dem Original (Fettdruck/Kursivschrift et cetera) wurden in den wörtlichen Zitaten in folgender Arbeit grundsätzlich weggelassen, sofern dies Verständlichkeit und Aussagekraft der zitierten Stelle nicht beeinträchtigte.

Gleichwohl vorgenommene aus dem Original stammende Hervorhebungen wurden jeweils durch den Zusatz [Herv. i. Orig.] kenntlich gemacht.

Hervorhebungen durch die Verfasserin wurden durch den Zusatz [Herv. d. Verf.] gekennzeichnet.

2. Zitate

Wörtliche Zitate wurden in der vorliegenden Arbeit von der Verfasserin stets in Kursiv-Schrift unter Verwendung von Anführungs- und Schlusszeichen eingefügt.

Auslassungen wurden jeweils mit dem Zusatz (…) gekennzeichnet.

Grammatikalische Abweichungen vom Original (insbesondere bei der Wiedergabe von Gesetzeszitaten) wurden jeweils mit dem Zusatz [i. Orig.: …] gekennzeichnet.

Anmerkungen der Verfasserin in Zitaten wurden durch den Zusatz [Anm. d. Verf.: -Text-] gekennzeichnet; bei bloßen grammatikalischen Ergänzungen des Originals: [-Text-].

3. Besonderheiten

Zeit- und autorenbedingte ortographische Besonderheiten wurden bei Zitaten und Literaturangaben unter Verwendung des Zusatzes [sic!] übernommen.

4. Literaturnachweise in Literaturverzeichnis und Fußnoten

Im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit wird die verwendete Literatur mit Vollbeleg genannt. In den Fußnoten finden sich aus diesem Grund lediglich die entsprechenden Kurzbelege der verwendeten und im Literaturverzeichnis aufgeführten Literatur. ← XVI | XVIII →

5. Der in der (älteren) Literatur zum Europarecht früher übliche Begriff des „Gemeinschaftsrechts“ wird in der vorliegenden Bearbeitung (z. B. bei der indirekten Wiedergabe von Fremdmeinungen) stillschweigend durch den seit dem Lissabon-Vertrag aktuellen Begriff des „Unionsrechts“ ersetzt, sofern es sich dabei um bloße „terminologische Aktualisierungen“ handelt. In wörtlichen Zitaten sowie in Literaturangaben wird von derartigen Veränderungen freilich abgesehen.

6. Ebenso wird in der vorliegenden Bearbeitung die einschlägige zu Art. 12 der Richtlinie 96/82/EG (z. T. auch in der Fassung der Richtlinie 2003/105/EG) veröffentlichte Literatur und Rechtsprechung grundsätzlich stillschweigend (!) auf die Nachfolgeregelung des Art. 13 der Richtlinie 2012/18/EU angewandt. Grund und Rechtfertigung hierfür ist die im Wesentlichen bestehende Inhaltsgleichheit der beiden Richtlinienbestimmungen in den einschlägigen Bereichen. In wörtlichen Zitaten wird von derartigem Vorgehen freilich abgesehen. Wo im Übrigen ausnahmsweise eine stillschweigende Übertragung nicht statthaft erscheint oder zu Unklarheiten führt und daher Differenzierungen/Klarstellungen notwendig und/oder geboten sind, wird im Text und/oder in den Fußnoten explizit darauf hingewiesen.

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A)  Die „Seveso-Richtlinien“ – Hintergründe und das Anliegen dieser Arbeit

I.  Entwicklung der „Seveso-Richtlinien“

Der Gebrauch gefährlicher Stoffe und mit ihm die Zahl an Industrieunfällen nahm im Zuge der Industrialisierung nach dem 2. Weltkrieg immer mehr zu: Über 100 Unfälle mit toxischen Stoffen mussten in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Krieg verzeichnet werden, 360 Tote waren in diesem Zusammenhang zu beklagen, von den Umweltschäden ganz abgesehen.1 Auch in den 1970er Jahren kam es zu diversen Groß-Unfällen: In Flixborough/Großbritannien traten an einem arbeitsfreien Samstag im Jahr 1974 aus einem Kunststoffwerk 50.000 t Cyclohexan aus; es bildete sich eine 400.000 m3 große Gaswolke, die sich an einem Reaktor in der Betriebsanlage entzündete – bei dem zehn Tage andauernden Brand wurden 100 Häuser zerstört, umfangreiche Evakuierungsmaßnahmen waren nötig, 28 Menschen starben, 89 Menschen wurden verletzt und es entstanden Sachschäden in Höhe von etwa 70 Millionen US-Dollar.2 Das Seveso-Unglück von 1976 „verdankt“ seinen Namen der italienischen Gemeinde Seveso, die im Ausbreitungsbereich einer Giftgaswolke lag, die aufgrund chemischer Reaktionen aus einer Fabrikanlage, in der Pestizide und Herbizide hergestellt wurden, austrat; auch hier musste das Gebiet umfangreich evakuiert werden, große Gebietsteile mussten jahrelang gesperrt bleiben, 30 Menschen wurden verletzt, 2000 Menschen mussten aufgrund von Dioxinvergiftung behandelt werden, die Höhe der Sachschäden ist unbekannt.3 Letztgenannte Unfälle verstärkten die Forderungen nach einem rechtlichen Regelwerk mit dem Ziel der Verhütung von Industrieunfällen.4 Zum Schutz der Bevölkerung vor Unglücksfällen in entsprechenden Betrieben erließ die EWG schließlich am 24.06.1982 die Richtlinie des Rates vom 24. Juni 1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten ← 1 | 2 → Industrietätigkeiten (82/501/EWG5, bekannt als „Seveso-I-Richtlinie“6). Grund und Ziel der ersten Seveso-Richtlinie war der Schutz von Mensch und Umwelt vor industriellen Gefahren.7 Dieser Zielsetzung entsprechend war Art. 1 Abs. 1 der Seveso-I-Richtlinie formuliert: „Diese Richtlinie betrifft die Verhütung schwerer Unfälle, die durch bestimmte Industrietätigkeiten verursacht werden könnten, sowie die Begrenzung der Unfallfolgen für Mensch und Umwelt; sie bezweckt insbesondere die Angleichung der diesbezüglichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten.“ Dass diese Unfallverhütung noch nicht allzu weit gediehen war, zeigt die Tatsache, dass in den Jahren nach dem Inkrafttreten der Seveso-I-Richtlinie viele weitere Industrieunfälle innerhalb ihres Geltungsbereichs verzeichnet wurden. „Eine der größten Katastrophen in der Geschichte der industriellen Chemie“8 geschah am 03.12.1984 in Bhopal/Indien: Dort explodierte ein Tank im Werk der Union Carbide Corporation, einem der größten Chemiekonzerne der Welt, und setzte eine aus circa 40 Tonnen Methylisocyanat9 bestehende Giftgaswolke in die Atmosphäre frei; diese trieb dicht über dem Boden auf ein Wohngebiet zu. Die Folge waren zwischen 2000 und 10000 Tote und mehrere Hunderttausend Verletzte.10 Beinahe zur Vernichtung des Fischbestandes bis zur Rheinmündung führte ein Unfall am 01.11.1986 im Chemiewerk der Sandoz AG bei Basel: Über Löschabwässer gerieten circa 400 Liter des Pflanzenschutzmittels Atrazin und circa 30 Tonnen quecksilberhaltige Fungizide in den Oberrhein.11 Die durch die bisherigen schweren Unfälle erkennbar gewordenen Risiken – insbesondere diejenigen aus der Nähe von dicht besiedelten Gebieten zu den gefährlichen Industrieanlagen – denen man mittels des Maßnahmenkatalogs der Richtlinie 82/501/EWG ← 2 | 3 → augenscheinlich noch nicht Herr geworden war, ließen Rufe nach einer Überarbeitung und Ausweitung der Seveso-I-Richtlinie laut werden.12 So bezogen sich zwei Änderungen der Seveso-I-Richtlinie insbesondere auf die Ausdehnung des inhaltlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie (in der Sache primär auf die „gefährlichen Stoffe“)13 und wurden als weitere Änderung mit Richtlinie 91/692/EWG14 die Berichtserfordernisse der Seveso-I-Richtlinie geändert.15

Schließlich wurde am 09.12.1996 die Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9. Dezember 1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen16 als Ursprungsfassung der „Seveso-II-Richtlinie“ erlassen. Sie trat entsprechend ihres Art. 25 am 03.02.1997 in Kraft. Ihr Art. 24 bestimmte für den Erlass der „erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ einen Zeitraum von „24 Monate [-n] nach ihrem Inkrafttreten“, also bis zum 03.02.1999.17 Die Seveso-I-Richtlinie wurde in der Folge entsprechend Art. 23 der Richtlinie 96/82/EG zum 03.02.1999 aufgehoben (und damit außer Kraft gesetzt18). Bereits ← 3 | 4 → dieses Vorgehen – eigens eine neue Richtlinie zu erlassen, statt die bis dato existente Seveso-I-Richtlinie erneut abzuändern – spricht deutlich dafür, dass mit der Richtlinie 96/82/EG „weit reichende und konzeptionelle Neuerungen eingeführt“19 werden sollten. Die Richtlinie 96/82/EG in ihrer Ursprungsfassung war eine Richtlinie der EG „zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen“ (so im Wortlaut der Richtlinienbezeichnung). Es ging auch in ihr – wie schon in ihrer Vorläuferrichtlinie – um eine doppelte Zielsetzung, und zwar sowohl um die Prävention schwerer Betriebsunfälle mit gefährlichen Stoffen als auch um eine Begrenzung etwaiger Unfallfolgen (Art. 1 der Richtlinie). Ähnlich wie bereits in der Begründung zur Seveso-I-Richtlinie angedeutet20 stellte der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 96/82/EG fest, dass im Vordergrund der gemeinschaftlichen Umweltpolitik die Ergreifung präventiver Maßnahmen, um der Ziele Umwelt- und Gesundheitsschutz Willen, stehe.21 Neben eher reaktiven Überlegungen zu besserer Handhabung von Risiken und ihrer Realisierung (Unfälle)22 sah man daher vor allem auch in Fragen von Anwendungsbereich und Informationsfluss23 und im Hinblick auf „Kumulationseffekte“ durch mehrere Einzelanlagen24 Verbesserungspotential im präventiven Bereich. Man hatte zudem durch die Auswertung geschehener Unglücke erkannt, dass der „‘Faktor Mensch‘“25 eine weitreichende Unglücksursache darstellte, welcher die – mehr auf technische Maßnahmen ausgerichtete – Richtlinie 82/501/EWG nicht ausreichend Rechnung ← 4 | 5 → trug, was nun geändert werden sollte.26 Ganz konkret im Sinne vorbeugender Maßnahme zu verstehen ist das mit der Richtlinie 96/82/EG erstmals inkorporierte Gebot der Wahrung angemessener Abstände zwischen Industriebetrieb und schutzbedürftiger Nutzung. Insbesondere nach dem Unglück von Bhopal war die Relevanz von räumlichen Abständen zwischen schutzbedürftiger Wohnbebauung und gefährlichen Betrieben zum Schutz der Bevölkerung immer mehr ins Bewusstsein gerückt.27 Vor dem Hintergrund dieses sowie eines ähnlich gelagerten Unglücks in Mexico City stand schließlich die der Entschließung des Rates vom 16.10.1989 immanente Aufforderung an die Kommission, die Richtlinie 82/501/EWG um „Bestimmungen über die Überwachung der Flächennutzungsplanung im Fall der Genehmigung neuer Anlagen und des Entstehens von Ansiedlungen in der Nähe bestehender Anlagen“ zu erweitern.28 Statt für eine Überarbeitung der Richtlinie 82/501/EWG entschied man sich gleich für eine Neuregelung durch Richtlinie 96/82/EG. In deren Grund 22 stellte der Rat explizit fest, dass zum Schutz bestimmter Gebietstypen vor den durch schwere Unfälle hervorgerufenen Gefahren „die Mitgliedstaaten in ihren Politiken hinsichtlich der Zuweisung oder Nutzung von Flächen und/oder anderen einschlägigen Politiken berücksichtigen [Anm. d. Verf.: müssen], daß langfristig zwischen diesen Gebieten und gefährlichen Industrieansiedlungen ein angemessener Abstand gewahrt bleiben muss (…)“.29 Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass industrielle Unfälle auch Folgen jenseits der mitgliedstaatlichen Grenzen haben können, wird die Richtlinie 82/501/EWG vom Rat in der Begründung zur Richtlinie 96/82/EG nur als „erster [i. Orig.: -n] Harmonisierungsschritt“ auf dem Weg zu einem einheitlich hohen Schutzniveau in der gesamten Gemeinschaft gesehen.30 Die Richtlinie 96/82/EG in ← 5 | 6 → ihrer Ursprungsfassung – insbesondere deren Art. 12 – diente zudem der Umsetzung der sich aus dem Übereinkommen über die grenzüberschreitenden Auswirkungen von Industrieunfällen vom 17. März 199231 ergebenden Vorgaben.32 Die Europäische Union (damals noch Gemeinschaft) hat dieser Konvention – deren Art. 7 die später auch in Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie zum Ausdruck kommende Zielsetzung bereits erkennen lässt33 – am 23.03.1998 zugestimmt.34

Zwischenzeitlich explodierte am 13.05.2000 in der Stadt Enschede (Holland) die Feuerwerkskörperfabrik Fireworks S. E., die bis dahin – obwohl sie eine Betriebserlaubnis für 159 Tonnen Feuerwerkskörper besaß – nicht in den Anwendungsbereich der Seveso-II-Richtlinie gefallen war.35 21 Todesfälle waren zu verzeichnen, beinahe 1000 Menschen wurden verletzt36 und mehr als 40 Hektar des Stadtgebiets wurden verwüstet.37 Am 21.09.2001 kam es in Toulouse (Frankreich) zu einer Explosion in dem Düngemittelherstellungsbetrieb AZF – circa 30 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, die Sachschäden erreichten Millionenhöhe.38 Nicht zuletzt angesichts dieser aktuellen Industrieunfälle sah man auf europäischer Ebene erneut Bedarf an einer Überarbeitung der ← 6 | 7 → Seveso-Richtlinien.39 Die Richtlinie 2003/105/EG vom 16.12.200340 trat – nach einigen Uneinigkeiten auf Unionsebene während ihres Entstehungsprozesses41 – gemäß ihres Art. 3 am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, mithin am 31.12.2003, in Kraft. Sie löste die Richtlinie 96/82/EG nicht ab, sondern änderte diese. Als „Seveso-II-Richtlinie“ wird in der Regel die Richtlinie 96/82/EG in der Fassung der Richtlinie 2003/105/EG bezeichnet.42 Gemäß Art. 2 der Richtlinie 2003/105/EG mussten die Mitgliedstaaten die Neuerungen bis zum 01.07.2005 umgesetzt haben. Die Richtlinie 2003/105/EG hatte – stark von den aktuellen Industrieunfällen geprägt – nach eigener Aussage insbesondere eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 96/82/EG im Blick; betroffen waren vor allem Korrekturen der Liste mit Stoffen und deren Mengenschwellen.43 Deutlich wird die Zielsetzung auch in den an Art. 12 ← 7 | 8 → der Richtlinie vorgenommenen Änderungen: Wohingegen die Richtlinie 96/82/EG noch lediglich von „Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebieten und unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes besonders wertvollen bzw. besonders empfindlichen Gebieten“ sprach (vgl. dort Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2), bezog die Richtlinie 2003/105/EG in den Anwendungsbereich des Abstandsgebots auch einzelne öffentlich genutzte Gebäude sowie wichtige Verkehrswege (letztere nur „so weit wie möglich“) mit ein (vgl. zur entsprechenden Änderung des Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 96/82/EG den Art. 1 Nr. 7 der Richtlinie 2003/105/EG).

Die gemeinhin als „Seveso-III-Richtlinie“ bezeichnete Richtlinie 2012/18/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/EG des Rates44 zählt – gleichsam als Beleg für die anhaltende Relevanz der Thematik – erneut zahlreiche Beispiele für schwere Industrieunfälle auf. Neben den bereits bisher Genannten stand die Explosion im Tanklager Buncefield bei Hemel Hempstead nördlich von London im Dezember 2005 im Visier.45 Am 24.07.2012 wurde die Richtlinie 2012/18/EU im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Sie ersetzt die Seveso-II-Richtlinie. Richtlinie 96/82/EG in der durch Richtlinie 2003/105/EG geänderten Fassung wurde gemäß Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2012/18/EU mit Wirkung vom 01.06.2015 aufgehoben. Richtlinie 2012/18/EU ist gemäß ihres Art. 33 bereits am 13.08.2012 in Kraft getreten. Die Frist der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht lief am 31.05.2015 aus, vgl. Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 der Richtlinie 2012/18/EU. Sinn und Ziele46 auch der neusten Richtlinie sind „die Verhütung schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen und (…) die Begrenzung der Unfallfolgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt (…), um (…) in der ganzen Union ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten.“ (so in Auszügen Art. 1 der Richtlinie). Hintergrund für die neue Richtlinie war zum einen das Bestreben der Europäischen Union, das bereits bestehende hohe Niveau eines Schutzes von ← 8 | 9 → Mensch und Umwelt vor Industrieunfällen zumindest zu erhalten beziehungsweise noch zu verbessern.47 Wurde dieses Schutzniveau mit der Richtlinie 96/82/EG zwar bereits angehoben, da mit ihrer Hilfe Wahrscheinlichkeit und Folgen von Industrieunfällen reduziert werden konnten, war erschreckende Bilanz einer Überprüfung der Richtlinie 96/82/EG aber, dass die Häufigkeit schwerer Unfälle konstant blieb.48 Insbesondere mit Fokus auf die Verhinderung schwerer Unfälle schien es der EU daher „angebracht, die Richtlinie 96/82/EG zu ersetzen, um sicherzustellen, dass das bestehende Schutzniveau erhalten bleibt und weiter verbessert wird (…)“.49 Ein anderer zentraler Grund für den Änderungsbedarf ist eher formal-technischer Natur: Die im Anhang I der Richtlinie 96/82/EG befindliche Auflistung gefährlicher Stoffe musste angepasst werden an ein mit der Verordnung (EG) Nr. 1272/200850 einhergehendes geändertes Klassifizierungssystem.51

II.  Struktur und Inhalt der Richtlinien – von Seveso I bis III

Anders als die nachfolgenden Richtlinien verfolgte die Seveso-I-Richtlinie noch einen „anlagenbezogenen Regelungsansatz“52 in dem Sinne, dass – so ist es Art. 1 Abs. 2 a) i. V. m. Anhang I beziehungsweise II der Richtlinie zu entnehmen – nicht ← 9 | 10 → auf einen ganzen Betrieb sondern nur auf die einzelne Anlage abgestellt wurde. Der Anwendungsbereich der Seveso-I-Richtlinie zielte vorwiegend auf Mitteilungs- (z. B. Art. 5, Art. 10 Abs. 1 b, Art. 11 Abs. 2 und 3), Unterrichtungs- (z. B. Art. 6, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 a, Art. 11 Abs. 1) und Nachweispflichten (z. B. Art. 4) der Betreiber von Industrietätigkeiten. Im Schwerpunkt zeichnete sich in Richtlinie 82/501/EWG damit noch eine Konzentration auf die Gefahrabwehr durch Betreiberpflichten (vor allem sicherheitstechnische Vorkehrungen) und unterstützende Informationspflichten ab.53

Inhaltlich baute die Seveso-II-Richtlinie – also die durch die Richtlinie 2003/105/EG geänderte Richtlinie 96/82/EG – freilich auf ihrer Vorgänger-Richtlinie 82/501/EWG auf. Mitunter als „fundamentaler Systemwechsel“54 im Vergleich zur Richtlinie 82/501/EWG wird es aber gesehen, dass in Richtlinie 96/82/EG nicht mehr nur auf die einzelne Anlage, sondern auf den „Betrieb“ im Ganzen (siehe Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 96/82/EG) abgestellt wurde, dessen Bestandteil im Sinne einer „technischen Einheit“ die einzelne Anlage nur ist (Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 96/82/EG). Jedoch war der – im Vergleich zur Richtlinie 82/501/EWG erweiterte55 (Betrieb statt Anlage56) – Anwendungsbereich der Richtlinie erst eröffnet, wenn in diesen Betrieben bestimmte Mengen/Schwellenwerte bestimmter im Anhang I der Richtlinie genannter gefährlicher Stoffe (siehe zum Begriff Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 96/82/EG) erreicht oder überschritten waren, vgl. Art. 2 Abs. 1 UAbs. 1 der Seveso-II-Richtlinie. Diese Mengenschwellen wurden zum Ausgleich für den erweiterten Anwendungsbereich gegenüber der Richtlinie 82/501/EWG weit heraufgesetzt.57 Im Anwendungsbereich der Seveso-II-Richtlinie kann grob untergliedert werden: Erstens – präventiv wirkende Anforderungen in Bezug auf die jeweiligen Störfallbetriebe58, namentlich allgemeine (Art. 5) sowie besondere (Art. 6 ff.) Betreiberpflichten. Erhalten blieb ← 10 | 11 → insbesondere die „grundlegende“59 Pflicht der Betreiber, schwere Unfälle zu verhüten und deren Folgen zu begrenzen (vormals Art. 3 der Richtlinie 82/501/EGW, dann Art. 5 der Richtlinie 96/82/EG). Weitergehend sollte aber ein „System [i. Orig.: -s] zum Sicherheitsmanagement“60 errichtet werden. Art. 9 verlangte daher unter der Überschrift „Sicherheitsbericht“ dazu von unter die Richtlinie fallenden Betreibern die Erstellung eines Sicherheitsberichts, in dem unter anderem dargelegt werden muss, dass ein Unfallverhütungskonzept (im Sinne des Art. 7) umgesetzt wurde und zu seiner Anwendung ein Sicherheitsmanagement gemäß Anhang III der Richtlinie vorhanden ist, siehe Art. 9 Abs. 1 a) der Seveso-II-Richtlinie. Zweitens – Vorgaben bezüglich der „Überwachung der Ansiedlung“ (Art. 12), insbesondere der Abstandswahrung zwischen diesen Betrieben auf der einen und schutzbedürftigen Nutzungen auf der anderen Seite (Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2).61

Die Strukturierung der neuesten – die bisherige Seveso-II-Richtlinie nicht nur abändernden (insoweit siehe nur Art. 30 der Seveso-III-Richtlinie), sondern komplett ersetzenden (vgl. nur Art. 31–33 der Seveso-III-Richtlinie) – Seveso-III-Richtlinie ähnelt ihrer Vorgängerin: Nach den einleitenden Vorschriften zu Gegenstand, Anwendungsbereich und Begrifflichkeiten (Art. 1 ff. der Seveso-III-Richtlinie) folgen in den Art. 5 ff. wie schon bisher hauptsächlich Betreiberpflichten. Den Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie zur „Überwachung der Ansiedlung“ ersetzt der neue, gleichnamige Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie. Dies bestätigt die Entsprechungstabelle in Anhang VII zur Seveso-III-Richtlinie, auf welche in Art. 32 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie auch eigens verwiesen wird. Art. 13 folgen im Wesentlichen Vorschriften zum Thema „Information“ (Art. 14–23 der Seveso-III-Richtlinie). Diverse Neuerungen sowie die „üblichen“ Regelungen zu Umsetzungsfrist, Aufhebung von Vorgänger-Richtlinien, Inkrafttreten und Adressatenkreis finden sich schließlich in den Art. 24 ff. der Seveso-III-Richtlinie.

Insgesamt bleibt trotz der Novellierung zwar Vieles weitgehend gleich, zum Beispiel stellt Art. 2 der Seveso-III-Richtlinie – in der Sache, wenn auch nicht im genauen Wortlaut, entsprechend der Vorgängerrichtlinie – klar, dass die Richtlinie (nur) „für Betriebe im Sinne von Artikel 3 Nummer 1“ gilt, also für Betriebe, ← 11 | 12 → in denen gefährliche Stoffe im Sinne des Anhangs I Teil 1 oder 2 (vgl. hierzu auch Art. 3 Nr. 10 der Seveso-III-Richtlinie) vorhanden sind (vgl. zu Letzterem Art. 3 Nr. 12 der Seveso-III-Richtlinie). Einige inhaltliche Neuerungen fallen jedoch ins Auge, so insbesondere die Regelungen zur Öffentlichkeitsbeteiligung in Art. 15 der Seveso-III-Richtlinie62 sowie die in Art. 24 der Seveso-III-Richtlinie vorgesehenen „Leitlinien“, welche die Kommission zum Sicherheitsabstand ausarbeiten kann63.

III.  Ziel und Vorgehensweise der Untersuchung

Doch auch mit der neusten der Seveso-Richtlinien hat sich die Thematik keinesfalls erledigt: Zum einen geschahen und geschehen „richtlinienrelevante“ Industrieunglücke in der Vergangenheit wie auch heute vielerorts. Zum anderen existierten bereits vor einigen Jahren allein in der Bundesrepublik Deutschland – freilich in unterschiedlicher Konzentrationsdichte – schon circa 8000 Anlagen, die der Seveso-Richtlinie unterfielen.64 Die noch weitaus größere Masse an störanfälligen Nutzungen in der jeweiligen Nachbarschaft dieser Betriebe sei hier hervorgehoben. Das lässt einen Rückschluss darauf zu, welches Gefahrpotential für die Zukunft der Thematik innewohnt. Die zahlreichen Unglücksfälle im Zusammenhang mit Industrieanlagen haben auf Unionsebene dazu geführt, dass immer neue und immer weitergehende Überlegungen angestellt wurden, wie man solche Katastrophen künftig verhindern könnte.65 Doch jenseits aller Regelungen auf Unionsebene muss man sehen, dass sowohl die in Rede stehenden Industrieanlagen, als auch die durch diese womöglich „bedrohten“ schutzbedürftigen Nutzungen sich doch stets auf dem Territorium der einzelnen (Mitglieds-) Staaten befinden. Dies birgt zum einen Herausforderungen bei der Ausweisung von Flächen zu unterschiedlichen Nutzungen und hat mithin auf nationaler Ebene einen deutlichen planungsrechtlichen Bezug. Ziel der ← 12 | 13 → vorliegenden Arbeit ist es jedoch, sich insbesondere mit den – sich aus dem europarechtlichen Abstandsgebot (Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie) ergebenden – Auswirkungen der unionsrechtlichen Vorgaben auf die Zulassung von Einzelvorhaben nach nationalem Recht detailliert zu befassen. Dabei steht im Fokus die aktuelle Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG im Verfahren „Mücksch“66 – und mithin die Frage nach den unionsrechtlichen Auswirkungen auf nationale Baugenehmigungsverfahren und -entscheidungen. Die rechtlichen „Schwierigkeiten“67 hierbei, welche vorliegend die tragende Rolle spielen, ergeben sich aus der Nähe eines Vorhabens (ein öffentlich genutztes Gebäude als von der Seveso-Richtlinie erfasstes Schutzobjekt) zu einem der Richtlinie unterfallenden Industriebetrieb. Zusammenhänge zwischen den nationalen Regelungen des Bau- und Umweltrechts in Deutschland und den Seveso-Richtlinien auf Unionsebene müssen daher untersucht werden. Dass diese Konstellation eine Vielzahl rechtlicher – und freilich auch tatsächlicher – Probleme birgt, ist keine wirklich neue Erkenntnis. Bereits 2001 war in einer Kommentierung zur 12. BImSchV zu lesen: „Insbesondere die Umsetzung des Art. 12 [Anm. d. Verf.: der Seveso-II-Richtlinie] erfordert in Deutschland die Kooperation verschiedener Rechtsbereiche, wie Immissionsschutzrecht, Wasserrecht, Baurecht etc. Hinzu kommen die auf die verschiedenen Ebenen der Verwaltung verlagerten Entscheidungsbefugnisse in Sachen Raumplanung/Flächennutzung. Neben bundesrechtlichen Vorschriften gelten eine Fülle landes- und kommunalrechtlicher Bestimmungen.“68 Die letztlich hinter der gesamten Untersuchung stehende zentrale Frage ist die, ob und wenn ja wie – zumindest im Zusammenspiel der unionsrechtlichen und nationalen Normen – den sich durch Betriebe im Sinne der Richtlinie ergebenden Gefahrpotentialen ohne weiteren gesetzgeberischen Handlungsbedarf auf der Grundlage des bestehenden Rechts ← 13 | 14 → in nationalen Baugenehmigungsverfahren beziehungsweise bei den jeweiligen Genehmigungsentscheidungen ausreichend Rechnung getragen werden kann. Die sich hinter dieser knappen Zielformulierung im Detail auffächernden Untersuchungsgegenstände sind zahlreich: Nach einem kurzen Blick auf die Genese des unionsrechtlichen Abstandsgebots soll zunächst ein Überblick über mögliche „Konstellationen eines Nebeneinanders“, welche im Kontext von nach nationalem Recht zu erteilenden Genehmigungen relevant werden können, verschafft werden (hierzu unter B). Ein Blick auf die Bedeutung des unionsrechtlichen Abstandsgebots für die nationale (Raum-)Planung und die planerische Bewältigung der unionsrechtlichen Einflüsse (Teil C) bildet sodann in der Darstellung den Gegenpol zum Bereich der Vorhabenzulassung im Einzelfall. Schwerpunkt der Bearbeitung ist demgegenüber die Klärung der Bedeutung des unionsrechtlichen Abstandsgebots für die Einzelvorhaben-Zulassung schutzbedürftiger Nutzungen im Baugenehmigungsverfahren (Teil D). Im Detail soll hierbei zunächst auf die Rechtsprechung im Fall „Mücksch“ (unter I.) sowie auf die Ausgangssituation im Rahmen baurechtlicher Genehmigungsentscheidungen nach nationalem Recht (unter II.) eingegangen werden. Zentral klärungsbedürftig ist sodann – losgelöst vom konkreten Fall „Mücksch“ – die Frage nach der Relevanz des unionsrechtlichen Abstandsgebots nach Art. 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie bei behördlichen Zulassungsentscheidungen über schutzbedürftige Nutzungen (unter III.). Schließlich wird – sofern eine Relevanz unter III. nachgewiesen werden konnte – noch zu klären sein, wie beziehungsweise an welcher Stelle die unionsrechtlichen Vorgaben im nationalen Recht bei der Genehmigung schutzbedürftiger Nutzungen Eingang finden können und müssen (unter IV.).

Für die vorliegende Arbeit sind wie schon gesagt insbesondere die Entscheidungen im Fall „Mücksch“ des BVerwG vom 20.12.2012 in der Revisionsinstanz sowie das – auf entsprechenden Vorlagebeschluss des BVerwG im Revisionsverfahren hin ergangene – Urteil des EuGH vom 15.09.2011 relevant. Ohne näher hierauf einzugehen, legen die genannten Entscheidungen als maßgebliche rechtliche Grundlage „Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9.12.1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen (Abl. 1997, L 10, S. 13) in der durch die Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2003 (ABl. L 345; S. 97) geänderten Fassung“69 ← 14 | 15 → zugrunde.70 Die gesamte dem Fall Mücksch zugrunde gelegte – durch Richtlinie 2003/105/EG geänderte – Richtlinie 96/82/EG wurde ihrerseits durch die bereits am 13.08.2012 in Kraft getretene Richtlinie 2012/18/EU abgelöst, deren Umsetzungsfrist am 31.05.2015 ablief. Die Seveso-II-Richtlinie (Richtlinie 96/82/EG in ihrer durch die Richtlinie 2003/105/EG geänderten Form) wurde nämlich gemäß Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2012/18/EU „mit Wirkung vom 01. Juni 2015 aufgehoben.“ Insbesondere die Jahre 2013 bis 2015 bilden daher eine Zeitspanne, in der sich Seveso-II-Richtlinie und Seveso-III-Richtlinie „zeitlich kreuzten“71. Die Richtlinienvorgaben zum unionsrechtlichen Abstandsgebot sind nun in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2012/18/EU normiert, ohne dass sich im vorliegend einschlägigen Bereich des Art. 13 Abs. 2 lit. a) der Seveso-III-Richtlinie gegenüber der Regelung in Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 der Seveso-II-Richtlinie relevante Änderungen ergeben hätten.72 Die Überlegungen zu vorliegender Arbeit legen zugrunde, dass die Umsetzungsfrist für eine in Geltung befindliche Richtlinie abgelaufen ist und nehmen – insbesondere mit Blick auf die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten – die dann aktuelle nationale Rechtslage in den Blick. Die Arbeit konzentriert sich auf die Rechts- und Gesetzeslage zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung (September 2015). Eine Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur konnte bis zu diesem Datum erfolgen. ← 15 | 16 →


1 Wettig/Porter, in: Kirchsteiger, Risk Assessment, S. 27 (27); ebenso Bernhard, Die Implementierung des EG-Rechts in Österreich, S. 3.

Details

Seiten
XVIII, 245
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653068467
ISBN (ePUB)
9783653957662
ISBN (MOBI)
9783653957655
ISBN (Hardcover)
9783631675120
DOI
10.3726/978-3-653-06846-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Genehmigungsentscheidung Zielbindung von Behörden richtlinienkonforme Auslegung Artikel 13 Absatz 2 der Seveso-III-Richtlinie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. XVIII, 245 S.

Biographische Angaben

Michaela Mühlmann (Autor:in)

Michaela Tauschek studierte Rechtswissenschaft in Erlangen. Nach der Zweiten Juristischen Staatsprüfung war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist aktuell in der Kommunalverwaltung tätig.

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Titel: Das Abstandsgebot in Richtlinie 2012/18/EU («Seveso-III-Richtlinie») und seine Auswirkungen auf die Erteilung von Baugenehmigungen
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