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Die Freie Wohlfahrtspflege als politischer Akteur im modernen Sozialstaat

Ein Beitrag zum Wandel der Inkorporierung von Wohlfahrtsverbänden in die staatliche Sozialpolitik

von Sebastian Vaske (Autor:in)
©2016 Dissertation IX, 337 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch thematisiert die neuen Anforderungen, denen die wechselseitige Interaktion von Wohlfahrtsverbandswesen, Sozialverwaltung und Sozialpolitik(-ern) ausgesetzt ist. Infolge gesellschaftlicher und politischer Veränderungen zeigt sich seit Mitte der 1990er Jahre ein Wandel innerhalb der wohlfahrtsverbandlichen Funktionen. In einer qualitativen Policy-Analyse untersucht der Autor für die Sozialverwaltung und einen Wohlfahrtsverband eines Bundeslandes exemplarisch, wie die beiden sozialen Akteure aktuell miteinander interagieren, wie sich ihr Verhalten in jüngerer Vergangenheit verändert hat und welche (innerverbandlichen) funktionalen Wechselwirkungen dabei entstanden sind. Er kann feststellen, dass die Wohlfahrtsverbände weiterhin als protagonistische Akteure in der sozialpolitischen Interessenvermittlung auftreten und legt ihre Bemühungen dar, der Neuordnung der Beziehung zum Staat Rechnung zu tragen, um auch in Zukunft eine starke sozialpolitische Lobbyarbeit zu praktizieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • II. Forschungsdesign – Methodik – Datenmaterial
  • III. Hauptteil
  • Kapitel A: Verbände in modernen Demokratien
  • 1. Begriffsdefinition
  • 1.1 Interesse
  • 1.2 Verbände
  • 1.3 Einfluss
  • 1.4 Heranführung an den Politikbegriff
  • 2. Theoretische Grundlagen
  • 2.1 Entwicklungsphasen von organisierten Interessen
  • 2.2 Klassifizierungen des Verbandswesens
  • 2.3 Theorien der Verbändeforschung
  • 2.3.1 Der (Neo-) Pluralismus
  • 2.3.2 Die Neue Politische Ökonomie
  • 2.3.3 Der (Neo-)Korporatismus
  • 2.3.4 Die Konflikttheorie
  • 2.3.5 Die Theorie der kritischen Masse
  • 2.3.6 Die Dritter Sektor Theorie
  • 2.3.7 Die Netzwerktheorie
  • 2.4 Verbandssektoren in der Bundesrepublik Deutschland
  • 3. Funktionen von Verbänden im politischen System
  • 3.1 Klientelzentrierte Verbandsfunktionen
  • 3.2 Gesellschaftszentrierte Verbandsfunktionen
  • 3.3 Verbände im politischen Prozess
  • 4. Zwischenfazit
  • Kapitel B: Wohlfahrtsverbände – ein deutsches Spezifikum im Überblick
  • 1. Grundstrukturen des deutschen Sozialstaates
  • 1.1 Grundlegende Feststellung
  • 1.2 Grundprinzipien der Deutschen Sozialpolitik
  • 1.3 Grundlagen des Sozialstaates
  • 1.3.1 Historischer Kontext
  • 1.3.2 Sozialstaat zwischen Kontinuität und Wandel
  • 1.3.3 Zukunftsperspektiven des Sozialstaates
  • 2. Systematisierung der Akteure auf dem Wohlfahrtsmarkt
  • 2.1 Träger und Organe des sozialpolitischen Systems
  • 2.2 Träger von Organisationen der sozialen Arbeit
  • 2.3 Subsidiarität und Sonderstellung
  • 3. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege
  • 3.1 Merkmale und Profile der Wohlfahrtsverbände
  • 3.1.1 Arbeiterwohlfahrt
  • 3.1.2 Deutscher Caritasverband
  • 3.1.3 Diakonische Werk
  • 3.1.4 Deutsches Rotes Kreuz
  • 3.1.5 Paritätische Wohlfahrtsverband
  • 3.1.6 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
  • 3.1.7 Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
  • 3.2 Aufgaben und Funktionen der Wohlfahrtsverbände
  • 3.3 Bedeutungsgrad der Wohlfahrtsverbände
  • 3.3.1 Der quantitative Bedeutungsgrad
  • 3.3.2 Der politische Bedeutungsgrad
  • 3.4 Freie Wohlfahrtspflege und Sozialwirtschaft – aktuelle Situation
  • 4. Zwischenfazit
  • Kapitel C: Wohlfahrtsverbandliche Rationalität im Kontext der Synergetik von sich wandelnden Wohlfahrtsprozessen
  • 1. Wohlfahrtsprozesse im Spannungsfeld neuer Rahmenbedingungen
  • 1.1 Globalisierungsmechanismen
  • 1.2 Ökonomisierungstendenzen
  • 1.3 Soziokulturelle Veränderungen
  • 1.4 Auswirkungen auf die wohlfahrtsverbandliche Rationalität
  • 2. Theoretische Konzepte zur Bestimmung von Wohlfahrtsprozessen
  • 2.1 (Neo)Korporatismus – Umkehr einer Beziehung
  • 2.1.1 Hinführung zum Gegenstand
  • 2.1.2 Wohlfahrtsstaatlicher Korporatismus
  • 2.2 Dritter Sektor Forschung – Leitbild einer Beziehung
  • 2.2.1 Hinführung zum Gegenstand
  • 2.2.2 Wohlfahrt im Dritten Sektor
  • 2.3 Netzwerkforschung – Wunschbild einer Beziehung
  • 2.3.1 Hinführung zum Gegenstand
  • 2.3.2 Netzwerke der Wohlfahrt
  • 2.4 Hybridität – Neuordnung einer Beziehung
  • 2.4.1 Hinführung zum Gegenstand
  • 2.4.2 Social Entrepreneurship in der Wohlfahrt
  • 3. Wohlfahrtsverbandliche Interessenvermittlung im Wandel
  • 3.1 Interessenvermittlung – Überblick und Rahmenbedingungen
  • 3.2 Über den Einfluss und seine Wirksamkeit
  • 3.3 Mehr als Lobbyismus – wohlfahrtsverbandliche Besonderheiten
  • 3.4 Funktionaler Dilettantismus als Eigenschaft der wohlfahrtsverbandliche Interessenvermittlung
  • 4. Zwischenfazit
  • Kapitel D: Neue wohlfahrtsverbandliche „politics“ – Detektion eines Reaktionsmechanismus
  • 1. Ausgangspunkt der Detektion
  • 2. Wohlfahrtsverbände im politischen System Deutschland – am Beispiel einer Landesebene
  • 2.1 Interaktionen im Kontext des wohlfahrtsverbandlichen Selbstverständnisses
  • 2.2 Wohlfahrtsverbandliche Lobbyarbeit
  • 3. Wohlfahrtsverbandliche Interessenvermittlung im Kontext politikwissenschaftlicher Theorien
  • 3.1 Korporatistische Verknüpfung von Staat und Verbänden
  • 3.2 Andere Erklärungsversuche
  • 3.2.1 Dritter Sektor Merkmale
  • 3.2.2 Netzwerkausführungen
  • 3.2.3 Hybride Charakteristiken
  • 4. Wohlfahrtsverbände im Wandel
  • 4.1 Mechanismen des Wandels
  • 4.2 Merkmale des Wandels
  • 4.2.1 Hinterfragung von gesellschaftlichen & politischen Rahmenbedingungen
  • 4.2.2 Entstehung von neuen Organisationsstrukturen
  • 4.2.3 Veränderte Interaktionsmuster von Staat und Verbänden
  • 4.2.4 Ambivalente Beziehungsverständnisse innerhalb des Sozialen Sektors
  • 4.3 Erwartung an das „tomorrow-welfare-land“
  • 4.3.1 Resilienzen und Risiken
  • 4.3.2 Chancen und Möglichkeiten
  • 4.3.3 Vernetzung und Lobbyarbeit
  • 4.3.4 Gesellschaftliche Begleitumstände
  • 5. Zwischenfazit
  • Kapitel E: Folgerungen im Kontext der Erhebung und der theoretischen Konzepte
  • 1. Strukturprobleme der Wohlfahrt
  • 2. Der hybride Wohlfahrtssektor
  • 3. Die Netzwerke der Wohlfahrtspflege
  • 4. Wohlfahrt als politische Funktion
  • 5. Zukunftsfähigkeit der Wohlfahrt
  • IV. Allgemeine Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Darstellungsverzeichnis
  • Anhang

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I.  Einleitung

In der Bundesrepublik Deutschland genießen die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, welche zumeist unter dem Terminus „Wohlfahrtsverbände“ zusammengefasst werden, ein hohes Maß an Ansehen und Bekanntheit. Dieses haben sie sich vor allem durch ihre praktische und karitative Tätigkeit im Bereich der Sozialen Arbeit erworben. Folglich werden die Wohlfahrtsverbände von der breiten Öffentlichkeit, zumindest auf den ersten Blick, mit der Umsetzung von sozialen Dienstleistungen (wie dem Betreiben von Kinderheimen, Pflegediensten oder Essen auf Rädern) in Verbindung gebracht. Diese Betrachtung beinhaltet jedoch eine unzulässige Reduzierung der Untersuchungsobjekte. Wohlfahrtsverbände definieren sich selber als „dritter Sozialpartner“ (Spiegelhalter 1990), welcher „ein wesentlicher Erfolgsfaktor im Hinblick auf die Durchsetzung sozialpolitischen Fortschritts in Deutschland“ (Stadler 2014. 5)1 ist. Neben der Funktion eines sozialen Dienstleisters erweist sich die Funktion des politischen Interessenverbandes als bedeutsam. Bestätigung erfährt diese verbandliche Selbsteinschätzung durch Aussagen von Spitzenpolitikern. So resümiert Bundeskanzlerin Angela Merkel im April 2013, in einem Video-Podcast zum Jahresempfang des Deutschen Caritasverbandes, wie folgt: „Die großen Wohlfahrtsverbände (…) sind nicht wegzudenken aus der Vielfalt unserer Landschaft, in der Sozialleistungen erbracht werden“ (Merkel 2013).

Die derzeit für die Wohlfahrtspflege zuständige Bundesministerin Manuela Schwesig konkretisierte diese Aussagen bei der Jubiläumsfeier zum 90-jährigen Bestehen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Dabei ließ sie keinen Zweifel an der gesellschaftlichen und der politischen Bedeutung der sechs Spitzenverbände:

Es ist staatliche Aufgabe, soziale Unterschiede auszugleichen, Teilhabe zu ermöglichen und den Menschen soziale Sicherheit zu gewährleisten, die dazu mit eigenen Mitteln nicht in der Lage sind. (…) Was nicht heißt, dass der Staat alles selbst machen sollte. Unser Sozialstaat folgt neben den Prinzipien der Solidarität und der Gerechtigkeit auch dem Prinzip der Freiheit. Freie Wohlfahrtspflege wird nicht von oben verordnet, sondern vor Ort von freien Trägern geleistet. (…) So sind die Wohlfahrtsverbände nicht nur Hilfsorganisationen, sondern auch Anwälte des Sozialen. Sie setzen sich politisch für Menschen ein, ← 1 | 2 → die Unterstützung brauchen, sie vertreten die Interessen derjenigen, die sonst keine Lobby haben. (…) Aber Sie wissen, dass wir dieses Modell verteidigen müssen gegen diejenigen, die in Europa nur Markt und Wettbewerbsfreiheit sehen“ (Schwesig 2014. Ohne Seite).

Die beiden Zitate verdeutlichen, welch hohe Wertschätzung die Politik der Freien Wohlfahrtspflege entgegenbringt. Allerdings lässt das Verhältnis von Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden zahlreiche Wandlungsformen erkennen, die zu einer Neuordnung der bisherigen Beziehungsform führen. Zentrales Merkmal dieser Neuordnung ist die Erosion von etablierten korporatistischen Strukturen, welche über viele Jahre die wechselseitige Interaktion von Staat und Wohlfahrtsverbänden geprägt haben. Diese Strukturen wurden noch bis in die Anfänge der 1990er Jahre (Aufbau der sozialstaatlichen Strukturen in den neuen Bundesländern) ausgebaut und gefestigt. In Folge eines sozialpolitischen Umdenkens ist allerdings seit Mitte der 1990er Jahre ein Aufbrechen der korporatistischen Verflechtungen zu beobachten. Kennzeichnend dafür ist die Aufhebung der Privilegierung der Wohlfahrtsverbände, indem der Soziale Sektor für neue (gewerbliche) Träger geöffnet und (kostenpolitisch) verändert wurde. Offenkundiges Ziel des Staates war es dabei, die bestehenden ritualisierten Verzahnungen im Sozialen Sektor zu liberalisieren und (zu Gunsten eines freien Wettbewerbs) Marktmechanismen einzubeziehen. National sollte so das Leitbild eines aktivierenden und investiven Sozialstaates umgesetzt werden. Mit Blick auf die supranationale Ebene wurde zudem der Lissabon Erklärung der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 Rechnung getragen, in der die Modernisierung der sozialen Systeme zum europäischen Projekt bestimmt wurde.

Das Aufkündigen der korporatistischen Strukturen hat markante Auswirkungen auf die (multiplen) Funktionen der Wohlfahrtsverbände. Obgleich die oben stehenden Zitate der Bundeskanzlerin und der Ressortministerin keine Relativierung der wohlfahrtsverbandlichen Wertigkeit erkennen lassen, so erweist sich dennoch, mit Blick auf die Bedingungen der Praxis, eine Veränderung im politischen Bedeutungsgrad der Freien Wohlfahrtspflege (unter den sozialen Akteuren) als wahrscheinlich. Dies soll im weiteren Verlauf der Arbeit näher untersucht werden, wobei die Umsetzung der politischen Spitzenverbandsfunktion (im Sinne der wohlfahrtsverbandlichen Interessenvermittlung) den Kern des Forschungsinteresses bildet2. Die politische Arbeit der Wohlfahrtsverbände wurde in der Vergangenheit insbesondere von der (interdisziplinären) Sozialpolitikforschung verfolgt und untersucht, wobei das Forschungsinteresse zumeist ← 2 | 3 → auf die politische Beteiligung der Wohlfahrtsverbände (im Verlauf der sozialen Implementationsprozesse) und die Bewertung von Einflussmerkmalen gerichtet war (vgl.: Pabst 1997, Ullmann 1988, von Alemann 1989 oder von Winter u. Willems 2007). Auf diesen Erkenntnissen wird in den folgenden Kapiteln aufgebaut. Dabei widmet sich diese Arbeit jedoch einem neuen Schwerpunkt und präzisiert die Erforschung der wechselseitigen Interaktion von Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden. So sollen die (sich wandelnden) Beziehungsmuster der beiden Akteure erklärt und bestimmt werden. Diese Untersuchung hat sowohl für die wissenschaftliche Theoriediskussion als auch für die umsetzende Berufspraxis eine hohe Relevanz, da die Beziehung zu (führenden) Sozialpolitikern und (leitenden) Mitgliedern der Sozialverwaltung maßgeblich darüber (mit-) entscheidet, ob und in welchem Umfang die Wohlfahrtsverbände ihre Ziele erreichen können. Im Verlauf der Arbeit wird deutlich, dass die Mitwirkung der Wohlfahrtsverbände bei der Implementation von Sozialgesetzen nach wie vor gegeben ist. Allerdings offenbaren sich hierbei deutlich atmosphärische Störungen zwischen den Vertretern aus Politik und Verwaltung3 auf der einen und den Vertretern des Verbandswesens auf der anderen Seite. Diese Störungen haben markante Auswirkungen auf die Strukturen im Sozialen Sektor, wie die Anpassungen und Veränderungen zeigen, welche die wohlfahrtsverbandlichen Formationen vornehmen müssen.

Eine Bestandsaufnahme der bestehenden Beziehungseigenschaften bildet die Grundlage für die im Folgenden vorzunehmende wissenschaftliche Neuinterpretation des Interaktionsfundamentes von Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden, welche mit Unterstützung von ausgewählten politikwissenschaftlichen Theorien und einer eigenen Praxiserhebung begründet und definiert wird. Das hier zur Anwendung kommende Forschungsdesign enthält diesbezüglich weitere Erläuterungen. Hierbei wird die Fragestellung dezidiert aufgezeigt und die methodische Grundlage der Erhebung transparent veranschaulicht und (kritisch) reflektiert.

Im Kapitel A werden zunächst die theoretischen, politikwissenschaftlich geprägten, Grundlagen der Verbändeforschung herausgearbeitet. Dies beginnt mit einer Bestimmung von zentralen Begriffen dieser Arbeit. Der darauf folgende Blick auf den historischen Kontext und die Klassifizierung der Interessenorganisationen ermöglicht ein Verständnis zur Entwicklung des Verbandswesens in Vergangenheit und Gegenwart. Mit der Vorstellung von ← 3 | 4 → ausgewählten Theorieansätzen erhalten zentrale Leitfragen der Verbändeforschung (insbesondere zur gesellschaftlichen Ordnung, der Organisationsfähigkeit von Interessen und deren Einflussmöglichkeiten) eine Antwort. Durch eine konkrete Bestandsaufnahme der einzelnen Verbandssektoren in der Bundesrepublik bekommen die theoretischen Ausführungen erstmals ein empirisches Gesicht. Eine adäquate Analyse der Funktionen von Verbänden innerhalb des politischen Systems rundet das theoretische Wissen zur Beteiligung dieser Interessenorganisationen an politische Entscheidungen ab.

Das Kapitel B konkretisiert die Ergebnisse des Eingangskapitels zum verbandlichen Wirken und stellt den Sozialstaat und „seine“ Wohlfahrtsverbände4 als zentralen Forschungsrahmen vor. Das erste Untersuchungsintervall wird auf grundlegende Strukturen und Eigenschaften des Sozialstaates gerichtet. Hier wird deutlich, dass das (deutsche) Politikfeld „Soziales“ von Kontinuität geprägt ist, aber zugleich an die stetig wachsenden (gesellschaftlichen) Herausforderungen angepasst werden muss. In einem zweiten Schritt werden die Akteure auf dem deutschen Wohlfahrtsmarkt systematisiert. Mit Blick auf die Subsidiarität wird die Sonderrolle der Freien Träger deutlich. Daher werden in einem dritten Schritt die Spitzenverbände dieser Träger vorgestellt und hinsichtlich ihrer Aufgaben, Funktionen und Bedeutung beleuchtet.

Kapitel C grenzt den Forschungsgegenstand dieser Arbeit weiter ein und widmet sich den Ursachen des hier vermuteten Wandlungsphänomens. Ebenso werden (erste) Auswirkungen auf die wohlfahrtsverbandliche Rationalität beschrieben. Mit Hilfe von vier ausgewählten Theorien wird versucht, das wohlfahrtsverbandliche Wirken der Gegenwart zu bestimmen. Der Korporatismus verliert dabei an Bedeutung und die „Dritt-Sektor-Forschung“ erfährt Grenzen ihres Erklärungsgehaltes. Mit der Netzwerkforschung erhält ein lange unterschätzter Theoriezweig eine neue Bedeutung und mit hybriden Charakteristiken offenbart sich ein neues Ordnungsprinzip im Sozialen Sektor. Mit einer abschließenden Fokussierung auf die sich wandelnden Interessenverbandsfunktionen der Wohlfahrtsverbände schließt das Kapitel C. Die zentrale Methode der Erkenntnisgewinnung wird bis zu diesem Punkt durch Theorie- und Literaturdiskussionen gebildet. Dies ändert sich im folgenden Kapitel.

Die Ausführungen von Kapitel D stellen die Ergebnisse der vorgenommenen Erhebung dar. Acht Experteninterviews, mit unterschiedlichen Funktionsträgern ← 4 | 5 → von Wohlfahrtsverbänden (einer Verbandsfamilie), Sozialpolitikern und Angehörigen einer Sozialverwaltung, werden durch eine qualitative Inhaltsanalyse aufbereitet und hinsichtlich weiterführender Erkenntnisse untersucht. Dabei wird das (politische) Agieren der Wohlfahrtsverbände, am Beispiel einer Landesebene5, durchleuchtet und die verbandliche Lobbyarbeit (kritisch) reflektiert. Hierauf folgt ein Abgleich der praktischen Erkenntnisse mit den theoretischen Ansätzen der Verbändeforschung. Die Ausführungen von Kapitel C bilden hierfür den Referenzrahmen. Abschließend werden ausführlich die Mechanismen und Merkmale des Wandels, so wie sie in der Praxis wahrgenommen werden, vorgestellt und weiterführend interpretiert. Ebenso werden Erwartungen der Experten an die Zukunft benannt und eingeordnet.

Im Schlusskapitel E werden die zentralen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengetragen. Es werden fünf Feststellungen benannt, die im Kontext der Erhebung und der Theoriediskussion detektiert worden sind. Dies geschieht durch die Formulierung von Eingangsthesen, die im weiteren Verlauf erklärt und begründet werden. Die erste (Schluss-) Folgerung beschäftigt sich dabei mit den Strukturproblemen der Wohlfahrtspflege, wodurch die (bestehenden) wohlfahrtsverbandlichen Formationen auch weiterhin angepasst und verändert werden müssen. In der zweiten und dritten Folgerung erhalten die theoretischen Erklärungsgrundlagen eine Neuinterpretation, wobei insbesondere der Korporatismus, die Dritt-Sektor-Theorie, die Netzwerktheorie sowie hybride Charakteristiken Beachtung erfahren. Mit den Folgerungen vier und fünf wird die politische Funktion der Wohlfahrtsverbände als zentrales Wesensmerkmal gewürdigt. In diesem Zusammenhang wird jedoch auch deutlich, dass die Multifunktionalität das Alleinstellungsmerkmal der Wohlfahrtsverbände bildet. Die Zukunftsfähigkeit der Freien Wohlfahrtspflege wird daher maßgeblich am (gelingenden) Zusammenspiel der unterschiedlichen verbandlichen Funktionen entschieden. ← 5 | 6 →


1 Wolfgang Stadler ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt und sprach im Jahr 2014, in seiner Eigenschaft als Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, für die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrt.

2 Die Fragestellung der Arbeit wird ausführlich im Forschungsdesign vorgestellt und erläutert.

3 Mit Verwaltung wird im Kontext dieser Arbeit die Sozialadministration (des Bundeslandes) gemeint, welche durch das Sozialministerium ausgeführt wird.

4 Diese Arbeit nutzt den Begriff „die Wohlfahrtsverbände“ als einen verallgemeinernden Terminus, um die sechs Spitzenverbände einheitlich zu erfassen. Ihre Ausformung ist jedoch sehr unterschiedlich, was in Kapitel B beschrieben und erklärt wird.

5 Das Bundesland kann aus datenschutzrechtlichen Gründen (um die Anonymisierung der Experten zu wahren) leider nicht offen benannt werden.

← 6 | 7 →

II.  Forschungsdesign – Methodik – Datenmaterial

Zur Fragestellung

Der Wandel der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrt hat in den vergangenen Jahren unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen beschäftigt. Folglich kann in der aktuellen Literatur eine Fülle an (zumeist thesenartig) formulierten Modifikationskonzepten und Neukonstellationen der wohlfahrtsverbandlichen Verbändelandschaft entdeckt werden. Insbesondere die Verbände-Soziologie (aber auch die Politikwissenschaft, die Wirtschaftswissenschaft und die Rechtswissenschaft) widmen sich der Wandlung sowie der wechselseitigen Interaktion von Staat, Verbandswesen, Wirtschaft und Verwaltung (siehe Kap. C). Der Forschungsschwerpunkt liegt dabei zumeist in der Auswertung von Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Akteuren, welche in der Regel an normativen Indikatoren wie sozialpolitischen Gesetzgebungsverfahren oder politischen Strategien und Konzepten festgemacht werden. Die Einschätzungen und Erfahrungen von politisch beteiligten Personen bzw. Institutionen sind hingegen unzureichend erforscht und gewürdigt worden. Diese Lücke soll mit dieser Arbeit geschlossen werden. Hierfür erweisen sich praxisnahe Zugangsarten (wie Experteninterviews) als unabdingbar auf.

Die vorliegende Studie nutzt die Ergebnisse und Erkenntnisse der bisherigen Verbändeforschung als Kontextwissen – wählt jedoch selber explizit einen anderen Zugang, um den Gegenstandsbereich zu untersuchen und Erkenntnisse zu generieren. Hier wird aus politischer und administrativer Sicht der professionellen Sozialen Arbeit, im Bewusstsein ihrer interdisziplinären Prägung, der Fokus auf die Auswirkungen der als evident angesehenen und eingetretenen Veränderungen bei wohlfahrtsverbandlichen Organisationen gelegt.6 Dieser neue Zugang kann einen innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung der ← 7 | 8 → Sozialpolitikforschung, mit ihren wissenschaftliche Theorien und praktischen Ausformungen, leisten.

Vor diesem Hintergrund wurden drei Ausgangsfragen formuliert:

  1. Wie agieren aktuell die Wohlfahrtsverbände (in ihrer Funktion als sozialpolitischer Interessenverband) im politischen System Deutschland auf Landesebene?
  2. Wie stark sind die korporatistischen Strukturen und Prozesse der wohlfahrtsverbandlichen politischen Interessensvermittlung [noch] vorhanden?
  3. Zeigt sich aktuell ein praktischer Wandel in der Beziehung von Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden und wie kann dieser Wandel wissenschaftlich erfasst, bestimmt und bewertet werden?

Die erste Teilfrage kann deskriptiv, durch Analyse von Literatur und anderweitigen Dokumenten, mit recht eindeutigen und überprüfbaren Zugängen beantwortet werden. Die Teilfragen zwei und drei hingegen erfordern eine (ergänzende) eigenständige Erhebung, um Zugang zum Gegenstandsbereich zu erlangen. Dabei stehen die beiden folgenden (Unter-) Fragen im Zentrum der Experteninterviews:

In einer qualitativen Policy-Analyse wird untersucht, wie sich die beteiligten Akteure von Seiten der Wohlfahrtsverbände und der staatlichen Verwaltung aktuell verhalten, wie sich ihr Verhältnis in jüngerer Vergangenheit verändert hat und welche Auswirkungen dabei für die beiden Protagonisten, insbesondere für die Wohlfahrtsverbände, festzuhalten sind. Die Arbeit reflektiert die inhaltliche (policy) als auch die praktische (politics) Dimension der wohlfahrtsverbandlich geprägten Sozialpolitik. So soll ein Reaktionsmechanismus für eingetretene Veränderungen, im Verhältnis von Wohlfahrtsverbänden und der staatlichen Verwaltung, detektiert werden. Dabei steht nicht weniger als eine sozialpolitische Erosion der Wohlfahrtsverbände auf dem Prüfstand dieser Erhebung. Die augenscheinlich stattfindende Reduzierung der Wohlfahrtsverbände auf ihre Dienstleistungsfunktion, welche mit der Auflösung von korporatistischen ← 8 | 9 → Strukturen einhergeht, führt zu einer fundamentalen Revision in der bislang partnerschaftlichen Zusammenarbeit (auch hinsichtlich der politischen Interessenvermittlung) von Wohlfahrtsverbänden und Sozialstaat (vgl.: von Alemann 2000).

Details

Seiten
IX, 337
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653068979
ISBN (ePUB)
9783653956603
ISBN (MOBI)
9783653956597
ISBN (Paperback)
9783631678411
DOI
10.3726/978-3-653-06897-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Korporatismus Hybridität Wohlfahrtsstaat Sozialstaat
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. X, 337 S., 8 s/w Abb.

Biographische Angaben

Sebastian Vaske (Autor:in)

Sebastian Vaske studierte Sozialpädagogik an der Hochschule Vechta sowie Sozialpolitik an der Universität Bremen. Er ist Referent für politische Grundsatzfragen eines niedersächsischen Wohlfahrtsverbandes.

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