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Luthers Lehre

Doctrina Christiana zwischen Methodus Religionis und Gloria Dei

von Wichmann von Meding (Autor:in)
©2012 Monographie 440 Seiten

Zusammenfassung

Zwanzig Autoren haben seit 1862 in ihren Arbeiten und Studien Luthers Lehre geschildert und kamen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Dieses auf zwei Teile angesetzte Werk untersucht nun erstmals, wie Luther selbst Theologie entfaltet wissen wollte. Dazu nutzt der Autor keine neue Methode. Eine, die sich bei Germanisten und Exegeten bewährt hat, stößt auf Luthers Denken in Verben und gibt von daher einem der sechs bisherigen Ansätze recht. Das trotzdem überraschende Konzept führt in große Eindeutigkeit gerade wegen Luthers bekannter Differenzierungskunst: Gott wertet menschliche Werte um.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Luthers Lehre, historisch gesehen
  • 1. Skizze der theologischen Existenz Luthers
  • 2. Sechs Konzepte der Theologie Luthers
  • II. Luthers Lehre, literarisch erforscht
  • 3. Luther als Beter
  • 4. Luther als Bibelübersetzer
  • 5. Luther als Dogmatiker
  • 6. Luther als Eristiker
  • 7. Luther als Historiker
  • 8. Luther als Katechet
  • 9. Luther als Liturgike
  • 10 Luther als politischer Autor
  • 11 Luther als Prediger
  • 12 Luther als Priester
  • 13 Luther als Professor
  • 14 Luther als Seelsorger
  • 15 Luther als Theologe
  • Luthers Gattungen zeigen Grund und Gestalt der Lehre
  • Ausblick auf Teil 2

| 7 →

„Bös zu leben ist nicht sehr schädlich außer sich selber,

[schreckt es doch Andere meist ab,]
aber böse Lehre ist das größte Übel auf Erden,
das die Seelen haufenweise gen Hölle führt“1.

Einleitung

Wer „den bedeutendsten Universitätsprofessor überhaupt“ verstehen will2, sollte Bahnen meiden, auf denen alle Welt fährt. Schon der traditionelle Obertitel dieser Arbeit greift fehl. „Lehren gebührt alleine Gott“3. Selbst Jesus lehre nicht aus sich4. „„Lehren’ ist, wenn man den Grund des Glaubens legt“5. Viele Menschen aber „predigen was man gern hört und der Vernunft gemäß ist“6. Luther trug so wenig seine Lehre vor wie Anglisten ihr eigenes Englisch. Dankbar hätte er erwiesene Irrtümer widerrufen. Nur Gott sei unfehlbar. „Gottes Wort [wird] in der Lehre … angezeigt“7. „Christliche Kirche hat keine andere Lehre als Gottes Wort“8. Auch Päpste dürften nur lehren, was der sagt und tut. Rund 5000 Belege zeigen: diese (!) „meine Lehre ist das Hauptstück“. So wird das nächste Kapitel zitieren. ,Hauptstück’ deutet an, neben der Lehre stehe die Redekunst, die bewegt und ergötzt. Schon damit kippt die Klage, er habe „die Botschaft des Evangeliums vom Leben in die Lehre verlegt“ durch das „Gewissen eines überempfindlichen Menschen“9. Ein Verzweifelter rief Jesus zu „ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk 9,24), gib mir Lehre für mein Heil. In Not hilft es nicht, sich auf schnell Plausibles wie das Leben zu stürzen. Falsche Lehre schadet ihm10. Man muß die hören, die hören lernten, auch Luther.

Der sei „für unser heutiges religiöses Bewußtsein weniger denn je zuvor eine Größe der Vergangenheit, … um ihn brandet das aus der Spießbürgerlichkeit der Vorkriegszeit aufgeschreckte religiöse Leben unserer Tage, abgestoßen und wiederum mächtig angezogen, unruhig und stets wechselvoll, immer neue Fragen aus der Tiefe holend und nach ihrer Beantwortung dürstend, und in dieser … Unruhe stets nach Luthers Frömmigkeit greifend, als sei er der Mann, der auf alle Fragen unserer Tage die rechte Antwort wüßte. Luthers Theologie darstellen heißt … eine Fülle von Fragen berühren, die uns heute tief bewegen und erschüttern“11. Gilt das noch, lange nach 1927? Freiherr von Münchhausen meinte 1935: „Seit mehr ← 7 | 8 → als drei Jahrhunderten ist keine Seite eines Buches geschrieben, ohne daß Luther die Worte oder Wendungen geliefert hätte!“12. Ein Lieferant für alle? Der war auch fünfzig Jahre später Spitze: „Der Glaube als unbedingt vertrauende Hingabe an Gott ist unvertretbar. Damit hat Luther … das philosophische Gewißheitsproblem des Descartes vorweggenommen, und insofern ist Luther der „Theologe der Neuzeit’, der die Frage des einzelnen Menschen nach sich selbst zum Schicksal geworden ist“13. Lehrte er nicht, Gottes Hingabe anzunehmen? Ökumenisch trägt seine Theologie durchaus14, doch wird das kirchlich selten relevant. 2004 soll gar „die Rechtfertigungslehre Luthers in dieser [anthropologischen] Perspektive höchste Aktualität“ besessen haben15. War der Wittenberger immer allem voran, was aktuell ist?

Andere erklärten ihn für obsolet. 1838 hieß es, „dass Dr.Martin Luther nie existiert hat, vorgetragen in der deutschen Gesellschaft vom Prof.v.d. Hagen“16. Das hatten Viele seit 1517 gewünscht. Nietzsche sah ihn als Verhängnis. 1975 war auch die „sogenannte Lutherrenaissance … wieder in Luthervergessenheit umgeschlagen. Die Erinnerung an ihn stößt auf Widerwillen, jedenfalls im Protestantismus, während man sich im Katholizismus für diese verachtete Hinterlassenschaft zunehmend interessiert“17. Auch stört sein „Pfui, welche heillose Leute, ja Säue und wilde Tiere sind doch wir Deutschen“18, positives Denken. Kritisch suchte er „des ganzen Deutschen Lands Glück und Heil“19. Er sah „der Möglichkeit ins Auge, daß es dem deutschen Volk einmal gehen könne wie vorher den Juden. Das Geschick des Volkes wird bestimmt durch sein Verhältnis zum Worte Gottes: ob dieses in den Kirchen gehört … und … wahrhaftig geglaubt und in wahrer Liebe im Dienst am Nächsten bewährt wird“20. Das erreichte er nicht. Man predigt wieder mittelalterlich: „Was jedermann sich träumte, ist auf die Kanzel gekommen“21. Wünsche verdecken Gottes Wort.

Deutsche kennen einen der berühmtesten Deutschen so schlecht, daß ein Film Protest auslöste, in dem kein Tintenfaß den Teufel traf. Theologiestudenten wissen von seinen 95 Thesen, aber nicht, was in der ersten steht. Legenden, Zahlen blieben, sein Thema nicht. Bischöfe sehnen statt des Evangeliums das Gesetz ethisch zurück, das doch verdammt. Die Leistungsgesellschaft steht dem mittelalterlichen „System einer leistungsorientierten Gerichtsfrömmigkeit“22 näher als sie ahnt. Sie lädt Informationen herunter, ohne Zugang zu Luthers Verben. „„Gebot’ ← 8 | 9 → heißt eigentlich, daß geboten und erfordert wird … ,Wort’ ist … vom Reden gesagt“23, das Sakrament sei nicht anzubeten, sondern zu nehmen. Sprache dient dem aktiven Gott gegen Subjektivierung wie Versächlichung. „In der heutigen Situation scheinen wir eingespannt zu sein in die Alternative von abschwächender Anpassung an den Zeitgeist und fundamentalistischer Theologiefeindlichkeit. Angesichts dessen stellt Luthers Auffassungsweise jedenfalls eine ungewöhnliche Provokation zu weiterem Nachdenken dar“24.

Doch man warnt, ihn zu vereinnahmen, da er kaum „als Vorläufer der Moderne und nur sehr bedingt als moderner Mensch anzusprechen“ sei25. Ist er also die „Antithese von allem …, was vor ihm war, und nahezu allem, was nach ihm kommt’’26, „der fremde Reformator …, der weder mittelalterlich gewesen noch neuzeitlich geworden ist“27? Ein Irrlicht? Überspitzt gesagt lebte sein im blühenden Bergbau erfolgreicher Vater moderner als er, der so viel aus dem. Jahrhundert bündelte28. Falls gilt: „Von der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts an wurde die Kunst des Mittelalters zum Rätsel“29, prägte es ihn. Und tat es doch nicht. Daß Jesus beim Abendmahl neben Judas sitzt (Schlußbild Kapitel 25) fällt nur dem auf, der weiß, sonst habe man sie weit auseinander gemalt. Luthers biblische Präzision (Jesus nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen: Lk 15,2) trennt sich von Gotik, Renaissance wie jetziger Spontaneität. Der kritisch Unzeitgemäße paßt nicht. Nur die ziehen zu diesem Rufer in die Wüste (Mt 3,3), die das Elend der positiv geredeten Welt spüren.

Obwohl der Berühmte gut erforscht ist, Werkausgaben Regale füllen, Sekundärliteratur sich türmt, lastet, was gut ankommt. „Luthers Beitrag zur Demo-kratie“30 sagt, wie er auch lauten mag, wenig über ihn. 1931 schrieb Obendiek: „Luther hat die Welt als die Schöpfungsordnung Gottes bejaht … Würde man nur diese Linie … in falscher Weise betonen, so könnte man aus Luther einen Renaissancemenschen, einen Bahnbrecher des Lebensgefühls der Aufklärung, einen Verfechter ästhetischer und optimistischer Naturbetrachtung machen. Dieser Abweg wird unmöglich, wenn Luthers Beurteilung der Welt als Stätte des Teufels zu ihrem Recht kommt“31. Bis 1971 sei nichts „wahrscheinlich so häufig untersucht worden wie seine Abendmahlslehre", nur hat man deren „Exegese nicht ein einziges Mal untersucht“32. Kirchen stießen im 16.Jahrhundert den treuen Sohn, im 20. den verehrten Vater aus. Im Lutherjahr 1996 durfte er Fremdenverkehr anheizen. Einst kritisierte er, die Geld im Kasten haben wollten, jetzt muß er helfen, daß ← 9 | 10 → Geld im Kasten klingt. Spaßbürgertum steht seiner Glaubensgewißheit fern. Propagierte man 1935, das Ziel liege „im ständigen Neuaufbruch“33, so heute, der Weg sei das Ziel, da ein Ziel (Christus) fehle, Wahrheit und Leben allemal (Joh 14,6). Alles habe seine Zeit, nichts sei fehl am Platz. Verlust von Übersicht, Kreisen um eigene Identität sind Trumpf.

Nicht der Parteien Haß und Gunst, Ratlosigkeit überformt, was er zu sagen hat. Naive Friedlichkeit tut ab, daß er „die Suprematie des Sittlichen über den Glauben bis in die Wurzel“ zerbrach. Wenige rufen: „Nur ein theologisches Denken, das ihm darin zu folgen vermag, ist den Fragen, die heute an uns gestellt sind, gewachsen“34. Er war nicht unbedingt friedlich, stellt vor Probleme, die man kaum empfindet bis strikt verwirft, obwohl sie unumgänglich sind. Immerhin fällt der Tote da auf, wo an Karriere, Knete und Konsum (kirchenamtlich verkaufter Segenskoffer) orientierte Geistlose abstoßen. Schrieb Conrad Ferdinand Meyer von ihm, „Das Größte tut nur, wer nicht anders kann!“35, kann man heute alles und tut zugleich auch anders. Wenn es nur neu ist. „Der Verstand hört gern Neues und wird des alten überdrüssig“36.

Brachte er überhaupt „sein neues Evangelium“37, rief er „zum neuen Glauben", zu „reformatorischen Aufständen“ gegen den „alten Glauben“38? Diesem „Grundthema der Flugschriften“ nach dem Wormser Reichstag39 entgegnete er: „Nichts Neues predigen wir, sondern immer den selben Mann Christus“40. „Johannes sagt [2,24]: ,Bleibt in dem, was von Anfang an war’. Hütet euch vor neuer Lehre“41. 1544 bestritt er, „daß wir neue Meinungen und Dogmen säen", denn „jedem muß sein Glaube an GOTTES Wort reichen“42. Und doch liest man von „der neuen Lehre“ aus Wittenberg. Sie habe „Altgläubige und Neugläubige“ ge-trennt43. Wie er wurde auch „Paulus als Begründer einer neuen Religion darge-stellt“44. Falsch ist es trotzdem. Luther schalt Päpstliche, daß ihr „eine neue Kirche angerichtet habt wider die alte Kirche“45. Konzilien seien „schuldig neue Artikel des Glaubens zu dämpfen und verdammen“46. Christus „will nicht, daß neue Predigten errichtet würden“47. Ist „meine Lehre aus Gott“48, gelte: „Unsre ← 10 | 11 → Lehre ging nicht aus unseren Gedanken hervor, sondern ist die alte Stiftung Gottes, nämlich das Amt des Evangeliums, Taufe, Eucharistie, Absolution. Die haben wir abgewischt und gereinigt, den Dreck abgewischt, den der Papst dran geschmiert“49. 1525 bat er Antwerpens Christen, „daß ihr alles verachtet und fahren laßt, was sich neu und seltsam erhebt, und nicht nötig ist zur Seelen Seligkeit“50. Eine späte Predigt betont, „daß unser Glaube an diesen HErrn, den wir bekennen wahrhaftigen Gott und Mensch, der rechte, erste und älteste Glaube ist“51. Der Papst leite eine „Neue, abtrünnige, verlaufene Kirche“52.

Nicht einmal eine „Erneuerung des geistlichen Amtes“53 schwebte dem Reformator vor. Er stellte das Predigtamt wieder her. Römische Ketzermacher straften sein altes Christuslob seit 1519. Er schrieb 1538: „Wenn wir aber sonst einen neuen, andern Orden angefangen hätten, wie ihre Orden sind, das hätte keine Neuerung geheißen. Flugs hätte es der Papst bestätigt und die andern hätten es gern angenommen und neben sich geehrt und gefördert mit aller Stille und Frieden. Aber da wir den allgemeinen Orden Christi wieder preisen, daß er der beste und heiligste, ja allein der rechte heilige Orden sei, treten wir der Schlange auf den Kopf“54. Selbst 1817 wußte ein protestantischer Prediger Österreichs, die Reformation habe „keine neue Lehre“ eingeführt, sei, „streng genommen, keine neue Kirche“55. Nun aber sind neue Dogmen telegen, päpstliche, psychologische. Luther wußte, sein Insistieren auf Gottes Wort werde selten Wirkung zeigen: „Wenn etwas nicht neu ist, gilt es nie. Was von Gott kommt, sieht die Natur drei Stunden an“56. Sie ist neuerungssüchtig. Er war es nicht.

Hinterm Mond noch weniger. Seine Orthographie hat sich „dem Neuen gegenüber … geöffnet“57. Im Glauben stecke „eine neue Grammatik und Dialektik, eine neue Sprache und neues Denken und Weisheit, das heißt: Er macht alles neu“58 (Apc 21,5). „Ich bewege mich dialektisch immer im gleichen Stand, rhetorisch variieren kann jeder“59. Wahres sei stets neu, Falsches eh veraltet. Christus philosophisch, nicht sein Tun erörternde Scholastiker hätten dem heiligen Geist vorchristliche Dialektik übergestülpt. „Philosophie irrt sich in der Theologie“60. „Ich will nichts neues als den Gekreuzigten Christus predigen“61. Wer diese Umkehr ← 11 | 12 → „neue Lehre“ nennt62, wirft ihm Häresie vor: „Wir werden der Häresie und als Autoren einer neuen Lehre angeklagt“63, schrieb er 1539. Wer die Glauben vom Unglauben scheidende Reformation „Glaubensspaltung“ nennt64, als ließe Glaube sich teilen, verwechselt ihn mit Gegnern, „die meine Antilogien zusammenklauben und lassen die Ursachen aus, ja verdunkeln sie mit Fleiß“65. Die Schrift leidet „nicht solch Spalten des Buchstabens und Geistes …, ist nur ein einfältiges Priestertum und ein einfältiger Sinn darin“66.

Da Christus eher als der Papst lehrte, erklärte er 1545: „Wir predigen das reine Evangelium, das greuliche Abgötterei nicht leiden kann. Sie aber heißen es Ketzerei … und sagen, ihr Menschentand sei der alte Glaube. Wie alt ist er denn? Wohl zweihundert Jahre? ist denn der nicht älter, der 1545 Jahre Bestand hatte?“. Der Druck dieser Predigt dehnt päpstlichen Irrglauben auf „Zwei oder dreihundert Jahre“67. Die sind auch kunsthistorisch belegbar: In „alten Zeiten stellte man gern Paulus [auf den Ehrenplatz] zur Rechten und Petrus zur Linken von Jesus, um anzudeuten, daß das Heidentum an die Stelle des Judentums getreten war. Diesen Grund gibt noch im 12.Jahrhundert Petrus Damianus in einer Abhandlung an“. Dann kam Petrus nach rechts fürs Papsttum68. Andernorts stehen „über 400 Jahre“69, ja „diese vergangenen (will nicht zu weit rechnen) sechshundert Jahre“70. Keine Kirche habe „ungewissern Anfang … als … die Römische“71. Im Abendmahlskontext beklagte Luther die seit „sechshundert Jahren“ gezimmerte Teufelskirche, zwischen erstem und zweitem Abendmahlsstreit. Räuberische Bischöfe hätten „vor tausend Jahren schon angefangen“. Gleitend, ohne fixes Datum kam das Unheil: „Rom hat anfangs das Evangelium lauter gehört, ist aber hernach abgetreten und auf Menschenlehre gefallen“72, ohne es ganz ausschalten zu können. Luther unterschied „Altes“ und „Neues“ als „Das Gesetz“ und „Das Evange-lium“73. Da christlicher Glaube beide umschließt, lehrte er Altes neu, das spannungsreiche Wort Gottes.

1999 schrieb der Katholik Brosseder: die „Begriffe ,Altgläubige’ und ,Neu-gläubige’ stiften eher Verwirrung als Erhellung …, denn die sogenannten ,Neu-gläubigen’ waren die wahren ,Altgläubigen’, während die sogenannten ,Altgläu-bigen’ die eigentlichen ,Neugläubigen’ waren“74. Luthers Bibel verdeutlicht das. ← 12 | 13 → Sie unterscheidet in Dt 13,2 und 18,22 Profeten, die Lehre abschaffen oder ergänzen. Die Leute aber trotzen auf „Gewohnheit/ alt Herkommen/ Landessitten/ … und sagen/ Ei lieber/ die alte Weise war die beste/ Unsere Vorfahren sind auch nicht Narren gewesen“. Er erwiderte „ihr sagt/ Weisheit sei bei den Großvätern/ Ich aber sage/ sie sei bei Gott“. Der geht seine Wege, schafft aber nie sich ab. Da solle man Profeten erster Art ablehnen, Letztere um Zeichen bitten75. Ob Luther zu ihnen gehört? Er lieferte eins: romtreue Theologen hätten „zu Augsburg auf dem Reichstage bekannt …, unsere Confessio sei mit der heiligen Schrift nicht umzustoßen“76. Die studierte er, während der Papst abriet. Luther rief zum stets redenden Gott. Zunächst reicht diese Entgegnung.

War er also Profet77? „Ich bin Deutschlands Prophet, mein Vaterunser [dient euch, wo Gott sagt:] ihr habt mein Wort verfolgt, ausgehungert, also will ich die tägliche Predigt wegnehmen und Hunger, Krieg, Blutvergießen“ senden78. Die „Selbstbezeichnung als Prophet ist ein locus classicus der Jubiläumsliteratur des Jahres 1933“79. Wie aber? Predigten biblische „von künftiger Gesetzeserfüllung“80, so war er keiner. Christus erfüllte das Gesetz. Dem gebührt der Titel. Er aber sei, neben neuen Profeten seiner Zeit, „nicht ein Prophet“. Gott rede wohl durch ihn, aber wie durch den Esel des zum Fluchen geholten Profeten Bileam81. Er müsse gar „(wie Hosea sagt) euch ein Bär und Löwe sein im Wege“82. Der Titel meint sein Aufstören, denn „die lieben Propheten waren der Welt Narrenspie-gel“83. Den hielt auch er ihr vor, sah darin aber nicht sein Amt. Er sei „kein Prophet, nur ein ,Schreiber’, ein Ausleger der Schrift. Wie die Schreiber im Alten Testament, Doktoren der Theologie … und die Leviten“84.

Ebeling zog wie Andere85 den Evangelistentitel vor86. Luther zeichnete brieflich „von Gottes Gnade Evangelist zu Wittenberg“87. Nun sei „das Evangelium an den Tag gekommen“88. Gott brachte es, nicht er. Davon lenkt der Begriff ab. Er ergänzte biblische Evangelien nicht durch ein fünftes. Als Volksmissionar agierte er auch nicht. Läßt er sich dann in die Reihe der Apostel aufnehmen? Er habe das Amt, „die Schrift apostolisch zu interpretieren“89. Von Worms zurückreisend ← 13 | 14 → schrieb er 1521 an Kaiser Karl V. unüblich unter der apostolischen Formel „Gnade und Friede’. So trat der Geächtete „der kaiserlichen Autorität durch Aufnahme des paulinischen Grußes gewissermaßen mit apostolischer Autorität gegenüber“90. 1522 pries Hieronymus Schurpff den „zu dieser Zeit wahrhaftigen Apostel und Evangelisten Christi“91. Der verglich sich 1536 gar mit Paulus. Doch Vorsicht! „Wenn jemand mir das gesagt hätte vor 30 Jahren, damals war ich auch fromm, und wenn jemand mir das Evangelium gepredigt hätte, das ich nun weitergebe, Ich hätte S.Stephan auch helfen verfolgen“92. Er sei ein Saulus gewesen. Anders 1541: „Ich bin ein Apostel und Prophet Jesu Christi gewesen in dieser Predigt", die erklärte, „ein rechter Prediger … muß …mit S.Paulo, allen Aposteln und Propheten trotzig sagen: Das hat der Herr gesagt“93. So die Botenformel. 1545 erklärte er der Gemeinde, er leide für die Kirche, „weil ich Christus gepredigt habe und ihr meine Lehre angenommen habt als die eines Apostels Christi“94. Trotzdem dürfe niemand sich „nach den Aposteln diesen Titel anmaßen“95.

Karl Barth nannte ihn „Lehrer der christlichen Kirche“96. Schon Nürnbergs Schusterpoet Hans Sachs ließ in einem Dialog den Schuster, sich, der Frage eines Chorherrn antworten: „Ich halt ihn für einen christlichen Lehrer, welcher (scheint mir) seit der Apostel Zeit nie gewesen ist“97. Der schrieb 1541 nach Wolfenbüttel, er müsse sich „bekennen als einen der vornehmsten Lehrer zu dieser Zeit“. Gegner machten ihn dazu. Es tue ihm „in der Kniekehle und Ferse [nicht im Herzen] sanft, wenn ich merke, daß durch mich armen, elenden Menschen Gott der Herr die höllischen und weltlichen Fürsten so erbittert und unsinnig macht, daß sie vor Bosheit … bersten wollen“98. Ins Lehramt habe man ihn „berufen und gezwungen, daß ich Doktor werden mußte … aus lauter Gehorsam. Da hab ich das Doktoramt annehmen müssen und meiner allerliebsten heiligen Schrift schwören und geloben, sie treulich zu predigen und lehren“99. Das sagen alle biblischen Titel. Katholische Theologen sprechen vom „Vater[s] im Glauben“100. Das bleibt blaß. Luther stellte sich 1522 als „Martinus Luther von Gottes Gnaden ein Prediger zu Witten-berg“101 vor, 1535 „mit Ernst als ein Papst“102. Da 1545 galt, „jedes Kind sei in der Taufe nicht allein als ein Richter über den Papst, sondern auch über seinen Gott, den Teufel, gesetzt", zählt jeder Titel ihn zu den Getauften, den „lebendigen ← 14 | 15 → Heiligen“103. „Wir ziehen die Leute nicht an uns, sondern führen sie zu Christus“ wie der Täufer104. „Böttcher müssen wir zuerst werden und neue Fässer machen, ehe die Weinernte angeht“105. Wie sein Narrentitel106 reagiert fast jeder leicht ironisch auf Lobredner. Die scherten auch Jesus nicht: als „Apostel/ Prediger/ Bote/ [wurde er] zu den Juden/ und nicht zu den Heiden persönlich gesandt“107. Heroisierungen lenken ab108. 1521 übertrumpfte seine Frage „Wie, wenn ich mich rühmte, daß ich ein Engel oder Magdalena bei dem Grabe gewesen wäre?“109, jede. Selbst der Reformator’ mit „reforming agenda“110 paßt zu Bugenhagen besser. Er sei nur „ein elend Stück … vom Gesinde des hohen rechten Richters, Und nun bei dreißig Jahren in seiner Kanzlei, nicht fern von der Tür [Christus] gesessen“111, ja: „Ich bin unsers Herr Gotts [giftiges] Quecksilber gewesen, das er in den Teich, das ist, unter die Mönche geworfen hat“112. Geworfensein prägt alle Selbstaussagen.

Das leugnen evangelische Kirchen, die seiner Kritik wie die römische unterliegen, aber verlangen, der Papst solle den Toten rehabilitieren. Das gleicht der Idee, Jesu Prozeß zu revidieren, also Gottes Willen (Mk 14,36). Wollen Kirchen Geschichte klittern, um ihn ganz zu verabschieden? Der katholische Theologe Fries schrieb 1963: „Die Erneuerung der Kirche gehört … zu ihren Wesensfunktionen und den ihr eigentümlichen Aufgaben. Der erste Satz der Thesen Luthers: ,Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: Tuet Buße, so will er, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll’, bringt diese Tatsache klar zum Ausdruck und enthält deshalb ein Selbstbekenntnis der katholischen Kirche. Er entspringt und entspricht der Tatsache, daß die Kirche die Kirche der Sünder ist und deshalb ecclesia paenitens [büßende Kirche], ecclesia orans [betende Kirche]. Der Ruf zur reformatio, … war … ein notwendiger und heilsamer Ruf. Der Ruf zur reformatio war indes möglich und gegeben innerhalb der bestehenden Kirche“113. Genau darum bat Luther 1517: Selbstkorrektur der bestehenden Kirche. Doch sie bannte ihn. Statt das zu vertuschen sollten selbstgewisse Kirchen ihn neu hören.

Was ,innerhalb der Kirche’ bedeutete, ist jetzt Vielen fremd. Augustin bekannte, er würde dem Evangelium nicht glauben ohne ihre Autorität114. Luther entgegnete: „Ich würde weder Augustin noch des Magisters Schriften glauben, ← 15 | 16 → wenn nicht altes und neues Testament diesen Trinitätsartikel mit größter Bestimmtheit begründeten“115. Er bestritt kirchliche Autorität übers Evangelium. Daher erteilte sie seinem Ruf zur reformatio, dessen Recht Fries bestätigt, das Ketzereizertifikat, bannte den, der Notwendiges und Heilsames nicht widerrufen konnte. Dies zeige, kursiv gesetzt, einen „Willen, der entschlossen war oder dazu … getrieben wurde, sich schließlich, wenn auch unter Schmerzen, gegen die bestehende Kirche durchzusetzen, oder an der bestehenden Kirche soviel preiszugeben und in Frage zu stellen, daß diese Kirche die Reformatoren ausschloß“116. Lob für Luthers Ruf hebt den Irrtum nicht auf, er habe sich von der trauernden Mutter getrennt. Weder der tote Luther noch jene, die sich an den unfehlbaren Gott statt der irrenden Kirchen halten, ersehnen ein nachträgliches Einbauen des Verstoßenen. Päpstlicher Bann und Roms Tridentinum zeigen: bestehende Kirchen haben stets Recht und kaum Platz für Sachkritik.

Der Berühmte war und blieb Außenseiter. Die Geschichte seines Predigens zeigt, wie Wenige dem Vielgehörten wirklich folgten. Er sei „verhümpelt“ worden117. Im Grunde konnte er sich kaum auf engste Mitarbeiter stützen. Die Reformationsgeschichte oft früh dem Evangelium zugefallener Kulturmetropolen bietet ein ähnliches Bild. Die jüngst vorgelegte erste Kirchengeschichte eines spät reformatorisch gewordenen Herzogtums118 bestätigt: auch dort nötigten Adel und Ratsmehrheit der kleinen Städte den kaisertreu bleibenden Fürsten, widerwillig die Reformation zuzulassen. Was Luther aufgrund seines Bibelstudiums lehrte, hatte für Regenten und Kirche kaum Anziehendes, ob man sie als Hierarchie versteht oder als zeittypisches Kirchenvolk.

Aus Unwahrheit befreien noch so sympathische Versuche nicht, einen stets präsenten Professor zu präsentieren. Einer mit dem Untertitel „Eine Vergegenwärtigung“ erschien 2003. Er erwies „Luthers Aktualität“ aus seiner Apokalyp-tik119. Das überzeugt weniger als Rothens Notiz von 1990: „Nicht zurück, sondern vorwärts zu Luther gelte es sich zu suchen, soll der Begründer der schwedischen Lutherrenaissance, Einar Billing, seinen Studenten gesagt haben“120. Ähnlich lautet der Titel eines Buchs vom hannoverschen Landesbischof Hirschler: „Luther ist uns weit voraus“121, nicht aktuell. Eine bedrückende Zeitanalyse. Sein Nein zur aristotelischen Substanzontologie, sein verbales Denken in Relation hätte, festgehalten und fortentwickelt, nicht derart hilflos gemacht wie das Ausschalten des Substanzbegriffs durch die Quantenphysik. Seine Kirche fiel zurück von Gottes Wort in spätmittelalterliches Quodlibet. Spontane Selbstbedienung mit ethischen Idealen wirkt der Orientierungslosigkeit nicht wie Luthers „Protest gegen den ← 16 | 17 → Frömmigkeitsbetrieb seiner Zeit“ entgegen122. „Unserem technischen Zeitalter ist es ja eigen, im Bereich des Berechenbaren und Manipulierbaren zwar das Äußerste an Kompliziertheit mit selbstverständlicher Anerkennung … hinzunehmen, in Hinsicht auf den Geist dagegen, also … auch in Hinsicht auf die denkende Entfaltung des Glaubens Primitivität, Anspruchslosigkeit und billige Schablone für selbstverständlich erlaubt, ja, sogar für … angemessen zu halten“123. Geplapper gräbt Gottes harte Herrlichkeit ab. Luther kritisierte nicht nur ein paar Mißbräuche. Er hat „Antworten gefunden …, die unseren Fragen weit voraus sind“124. Was gültig ist wie Hebelgesetze, muß nicht aktualisiert, nur klargemacht werden.

Die versuchte Lageskizze verlangt wissenschaftliche Kritik. Wer sich unfehlbar wähnt, hat Luther nicht verstanden. Kompetente Korrekturen dienen der Sache. Manche Polemik quittierte er mit Esels- und anderen Tiernamen. Die wird eine (längst) tolerante, (nun) unterhaltsam offene und drittens (das fehlte noch) multireligiöse Zeit kaum dulden. Multireligiosität ist ein Wechselbegriff für Polytheismus. Dessen Vertreter werden nun kaum weiterlesen. Schade eigentlich, daß Luthers Zeit die neue geistliche Methode, sich des substantiellen Geistes zu entledigen, noch nicht kannte. Der Preis eines Cranach-Bilds, das den Papst plaudernd zu Luthers Linker zeigt, wäre immens. Dennoch soll dessen ungescheut beibehaltener Papistenbegriff niemanden ärgern. Er bezeichnet, sachgerecht wie Polizisten, Posaunisten, Pietisten, Liebhaber eigenen Tuns, gaukelt nichts vor wie die Rede von ,Altgläubigen’, macht nichts verächtlich wie Ecks erfundener Begriff ,Lutheraner’. Gut signalisiert er Abstand zur heutigen katholischen Konfession wie „von der katholischen Kirche Christi", die ein lutherunterschriebenes Ordina-tionszeugnis nennt125. Still deutet er an, allerlei einst Verketzertes sei „in der gegenwärtigen katholischen Ekklesiologie präsent“126.

„Wie Luther selbst ist auch die Zeit, in der er gewirkt und gelebt hat, ver-gangen“127. Doch seine gottorientierte Kritik trifft weiter unangenehm, sein Zorn auf Habsucht rüde Geschäftemacher wie Vertreter einer weltfremd-positiven Religion. Er spießte altes und neues Christentum ohne Christus auf. Kein mühsamer Transfer einer frühneuzeitlichen Theologie zur Gegenwart tut da not, herrscht doch weiter, was nicht auf Christi Thron gehört. Direkt erfüllt sich, was der Wittenberger gegen Kirchenfürsten hoffte, „daß ich auch, wie Samson, mehr Unglücks ihnen tu im Tod als im Leben“128. Das verlangt, die längst formulierte, bislang jedoch nur hypothetisch beantwortete Frage nach Struktur und Gestalt seiner Lehre aufzugreifen und zu enträtseln. Nicht einmal sein Theologiebegriff ist laut ← 17 | 18 → Seminarbericht von 2004 geklärt129. Unverständlich wirkt das 2009 abgegebene Votum, seine Königreichspredigt sei „not so much a doctrine as a reason for believers“130. Erstrecht erschreckt die Notiz eines katholischen Theologen von 1990, trotz sonst massenhafter Arbeiten sei „die Literatur zur Christologie Luthers noch recht gut zu überblicken“131. Ist minder wichtig, was ihm entscheidend war? Da keine Gesamtdarstellung seine Christus hervorhebende Bibelausgabe und biblischen Bucheinträge letzter Jahre konsequent einbezog, erweist sich seine ganze Lehre als archäologisches Gelände, das zwar eifrig umgegraben, aber nie recht vermessen wurde.

Es reicht nicht, seine Verwurzelung „im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus“132 so zu ergänzen: „Zu … einer wirklich historisch arbeitenden Reformationsforschung gehört der Grundsatz, daß man die Reformation nur vom Mittelalter her verstehen kann, und zwar nicht nur von seinen letzten Jahrzehnten her“133. Einzeluntersuchungen bestätigten es und sind hier vorausgesetzt. Er sprach Hörer auf „Legenden der Heiligen“ an134. Er wünschte sogar gute Heiligenlegenden135 (als Lebensläufe136), nannte andere „Lügenden“137. Satan „hat die Geschichten oder was sie die Legenden der Heiligen nennen weitgehend vernichtet. Die aber, die er hinnahm (zweifellos unwillig), hat er mit dummen Fabeln und gottlosen Lügen derart entstellt, daß einige Fabeln der Heiden wahrscheinlich viel nützlicher sind“138. Rang besaß damals die ,Legenda aurea’. Forscher rezipieren sie kaum139, da Luther sie nicht zitierte, doch kannte140. Das Werk eines Erzbischofs im 13.Jahrhundert repräsentiert, was das Kirchenvolk zu hören bekam141. Da in scholastischen „Systemen die Gottesliebe als religiöses Prinzip nicht so leicht zu erkennen ist wie in anderer religiöser Literatur“142, eröffnet die widerspruchsvolle Sammlung Erkenntnisgewinne. Sie zeigt von Luther bekämpfte Vorstellungen und ebenso, daß das Mittelalter nicht alles verdrängt hatte, was er sagen mußte. Der Legendenklassiker kann seine glaubensorientierte Lehre143 konkretisieren und weiter zu forschen anregen. ← 18 | 19 →

Der vorliegende wissenschaftliche Text soll auch kritische Christen ansprechen. Sie finden Luthers teils übersetzte, teils in moderne Orthographie (die er gegen Lebensende fast erreichte) und Satzstellung überführte Texte, während Sekundärliteratur unbearbeitet bleibt. Mißverständliche Worte sind durch heutige ersetzt (,fast’ bedeutet ,sehr’, ,schlecht’ ,schlicht’ usw). Nur ausnahmsweise erscheint der Originaltext. Kostengründe schließen den schönen Brauch aus, ihn sonst anzumerken. Fußnoten fordern schon so (zu) viel Raum. Sie bündeln, wo es anging, mehrere Voten. Deren Fundort läßt sich nur nach der Weimarana geben, da die Lesern vorliegende Ausgabe unbekannt ist. Auf Zeilenangaben wird verzichtet. Wer nachschlägt, soll auch den Kontext beachten. Der zeigt etwa, wie Luther ein in Kap.19 stehendes Zitat für die communicatio idiomatum nutzt. Jedes umfaßt Nebenaspekte, deutet Querverbindungen an und weist so aufs Ganze. Beigefügte Kurzhinweise helfen zu schneller Orientierung. Predigtstenogrammen ist der Name des Schreibers mitgegeben.

Im Dilemma „Gibt der Autor zu viele Belege, so wird sein Buch unlesbar, gibt er zu wenige, so schwächt er die Beweiskraft“144, wurde die erste Seite vorgezogen. Luther soll staunen machen, der Interpret möglichst wenig. Es wäre nicht gut, „vereinzelte Äußerung[en zu] … weittragenden Feststellungen]" auszubauen145. Junghans notierte 1998, „daß es heute auch für einen hingebungsvoll arbeitenden Lutherforscher kaum noch möglich ist, die weltweite Lutherforschung zu bündeln“146. Es geht zu, wie „auch Salomo selbst sagt …, des Bücherschreibens ist zu viel, wer kann sie alle lesen?“147 „Das gewaltige Gebirgsmassiv … der Werke Martin Luthers“148, seine Lehre auch aus ihren Interpretationen und Überlieferungen zu erfassen, lernte der Schreibende dankbar aus Gelesenem. Lächelndes Verzeihen erbittet er für seinen besserwisserischen Computer, der nicht eben selten heimlich Korrekturen vornahm, seine Streiche beglückt verschweigend. Daß alle erkannt und rückgeführt wären, ist unwahrscheinlich. Griechisch schreibt er, daß Gott erbarm. Da darf gelacht werden.

Heutiges Wissenschaftsethos legt nahe, angesichts divergierender Forschungsrichtungen den eignen Ort zu benennen. Die Weimarana beweist, ohne Zusammenarbeit von Germanisten und Theologen laufe nichts. Hier steht der Autor auf theologischer Seite, hat sich aber bei den Kollegen etwas eingemischt, auch profanhistorisch149. Ob der weit gezogene Horizont mangelnde Gründlichkeit nach sich zog, muß sich zeigen. Unter Theologen arbeiten historisch und systematisch orientierte Lutherforscher zusammen – manchmal gereizt, manchmal als „resignierende Historiker mit euphorischen Ökumenikern“150. Dieser Arbeit ← 19 | 20 → voraufgegangene Vorlesungen wurden als systematische gehalten. Und doch wurzelt sie in historischer Forschung. Da der Reformator auf der Höhe seiner Zeit lehrte, wenn auch nicht als moderner Exeget (er erkannte von Paulus abweichende Sprache in Phil 2, den Hebräerbrief als unpaulinisch, das ,Komma Johanneum’ Uoh 5,7f als Zusatz gegen Arius, Deuterojesajas Eigenart im Jesajabuch und mehr), besteht kein Grund, seine Lehre nun mit Aversion gegen die differenziertere, manchmal in Spezialgebiete zerfallende Wissenschaft nachzuzeichnen. Wie Historiker Luthers Abhängigkeit und Abstand vom Mittelalter erheben, dürfen Systematiker seine bisweilen überraschend aktuelle Sperrigkeit unterstreichen. Slenczkas gelungenes Wortspiel „Historisch geht es um das, was war und ist; dogmatisch geht es um das, was wahr ist und bleibt“151, bindet beides zusammen. Luthers gegliederte Lehre ist aus dem geschichtlichen Befund für lebende Leser zu erheben.

Das Wort profiliert sie. Simeon (Lk 2,25ff) „sah einen kleinen Knaben. Da kann die Vernunft nicht sagen, er sei ein König, sondern Kind des Bettlers. Simeon tut die Gestalt des Knaben aus den Augen und macht ihn zum König größer als alle Könige der Welt, weil er sagt, er sei König für alle Völker in der ganzen Welt. Der sieht in die ganze Welt … Wo immer Völker sind, dort ist Christus der Herr, und dieser Knabe ist es. So hast du in einem Moment gefaßt, was in der ganzen Schrift steht, und hängst dich an das Kind“152. Wort und Fakt reimen sich nicht. Ihr Gegensatz löst sich nicht durch Wahl einer Seite auf. Der redende Herr läßt verstehen, daß Gott paradox handelt. Ihn erkannte Luther im Horizont des Ganzen. Wie ein belichteter Film nur Bilder zeigt, wenn er entwickelt wurde, kommt es auf beides an. Luther war kein Schreibtischdogmatiker, aber ein „undogmatisches Christentum, mit dem bis heute immer wieder sympathisiert wird, [förderte er auch] nicht“. Wie die „Abfassung einer Biographie“ voraussetzt, „daß man ein aus den Quellen gewonnenes eigenes Bild von der Person hat, die es darzustellen gilt“153, verlangt eine Lehrdarstellung Quellenarbeit und ein rundes Bild. Historische Arbeit ergänzt die systematische nicht nur, sie wirft manchmal allerlei um. Historiker mögen das Pendant formulieren.

Luthers Lehre und Lebenseinsicht, „viel genannt, aber wenig gekannt“154, wird in 25 Kapiteln aus der Geschichte ihrer Erforschung analysiert und dann in literarischen wie systematischen Durchgängen entfaltet. Seine Gott zuhörende Theologie stört jede natürliche Religiosität, auch die derzeit beliebte. Ihre Themen sind nicht in jeder Nuance vorzustellen. Das können Einzeluntersuchungen besser. Vielmehr lautet der Plan, ihre Einheit und Gliederung zu erheben und vielfach zu belegen. Am Ende wird sich alles in einem einzigen unzeitgemäßen, bereits oben aufgetauchten Wort bündeln und sehr direkt sein.

1 WA 7, 279 (Auf des Bocks zu Leipzig Antwort).

2 Gerhard Ebeling aaO 2010, 23.

3 WA 18, 112 (Wider die himmlischen Profeten).

4 WA 33, 354 (Wochenpredigten Joh 6-8: Joh 7,17).

5 WA 14, 24 (Die andere Epistel S.Petri).

6 WA 32, 352 (Wochenpredigten Mt 5-7).

7 WA 7, 886 (Antwort Luthers auf dem Wormser Reichstag).

8 WA 10.II, 244 (Antwort auf König Heinrichs Buch).

9 Lennart Pinomaa 1943 aaO 100.

10 WA 17.II, 259 (Festpostille).

11 Johannes von Walter aaO 1.

12 Hans Düfel aaO 81.

13 Otto Hermann Pesch 1982 aaO 102.

14 Marc Lienhard 1980 aaO 11.

15 Theodor Jorgensen aaO 132.

16 Börsenblatt 33/1838 Nr.1949.

17 Gerhard Ebeling 1975 aaO 173-174.

18 WA 19, 605 (Vier tröstliche Psalmen).

19 WA 15, 53 (An die Ratsherren).

20 Ole Modalsali aaO 107.

21 WA 34.I, 22 (Rörer).

22 Martin Brecht 1981 aaO 84.

23 WA 31.I, 3 (Der 119. Psalm).

24 Gerhard Ebeling 1977 aaO II.3, 44.

25 Max Josef Suda aaO 12.

26 James F.McCue in Manns-Meyer aaO 246.

27 Heiko A.Oberman 1981 aaO 72.

28 Volker Leppin aaO 258.

29 Emile Male aaO 11.

30 Hartmut Höwelmann 1996 aaO 95.

31 Harmannus Obendiek aaO 53.

32 Hartmut Hilgenfeld aaO 7. 10-11.

33 Wilfried Joest 1967 aaO 335.

34 Friedrich Gogarten 1967 aaO 171.

35 Conrad Ferdinand Meyer aaO 993.

36 WA 49, 345 (Rörer).

37 Reinhold Lewin aaO 15.

38 Klaus Schulte-van Pol DIE Zeit 7.2.2002.

39 Marc Lienhard 1978 aaO 77.

40 WA 37, 27 (Rörer), vgl. 40.I, 93 (Galaterkommentar).

41 WA 49, 346 (Rörer).

42 WA 54, 113-114 (Vorrede zu Spalatin).

43 Martin N.Dreher aaO 85. 80. 83.

44 Giorgio Agamben aaO 12.

45 WA 51, 479, weiter bis 524 (Wider Hans Worst).

46 WA 50, 607 (Von Konziliis und Kirchen).

47 WA 34.I, 319 (Rörer).

48 WA 7, 290 (Unterricht der Beichtkinder).

49 WA 46, 146 (Rörer).

50 WA 18, 549 (Sendschreiben nach Antwerpen)..

51 WA 51, 155 (Predigtdruck).

52 WA 51, 505 (Wider Hans Worst).

53 Bernd Moeller 1994 aaO 118.

54 WA 50, 272 (Die drei Symbola).

55 Wichmann von Meding 1998 aaO 47.

56 WA 17.I, 152 (Rörer).

57 Gerhard Kettmann aaO 52.

58 WA 39.II, 304 (Promotionsdisputation Major / Faber).

59 WATR 4 Nr. 4097.

60 WA 39.II, 12 (Disputation Joh 1,14).

61 WA 34.I, 118 (Nürnberger Codex).

62 O.Albrecht WA 15, 242; Martin Brecht 1990 aaO 83; Manfred Schulze aaO 40.

63 WA 39.II, 6 (Disputation Joh 1,14).

64 Martin Brecht 1986 aaO 340. 356, 1987 aaO 352 u.ö.

65 WA 50, 548 (Von Konziliis und Kirchen).

66 WA 7, 651 (Antwort an Emser 1521).

Details

Seiten
440
Jahr
2012
ISBN (PDF)
9783653055733
ISBN (ePUB)
9783653950151
ISBN (MOBI)
9783653950144
ISBN (Hardcover)
9783631594193
DOI
10.3726/978-3-653-05573-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Reformation Legenda aurea Evangelium
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2012. 440 S., 20 Abb.

Biographische Angaben

Wichmann von Meding (Autor:in)

Wichmann von Meding, geboren 1939 in Hannover; nach Studium in München, Heidelberg, Tübingen, Bonn und Göttingen Pastor mehrerer norddeutscher Gemeinden; 1986 promoviert, 1995 habilitiert; lehrte bis zur Emeritierung an der theologischen Fakultät Kiel.

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Titel: Luthers Lehre
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