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«Holocaust-Industrie» und Vergangenheitspolitik

Norman G. Finkelstein und die Normalisierung des sekundären Antisemitismus in Deutschland

von Marc Schwietring (Autor:in)
©2014 Dissertation 124 Seiten

Zusammenfassung

Norman G. Finkelstein ist zu einer Schlüsselfigur deutscher Debatten um NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Israel geworden. Immer wieder wird er von Kritikern einer Shoah-Instrumentalisierung zum Beleg ihrer Thesen angeführt – oftmals mit Verweis auf seine Abstammung von Shoah-Überlebenden. Warum sein Buch Holocaust-Industrie in Deutschland ein Bestseller im Kontext der Zwangsarbeiterentschädigung wurde, was die deutsche von der US-Debatte unterscheidet und warum Finkelstein ein Kronzeuge für Antisemiten bis hin zur extremen Rechten ist – diese Fragen werden in der Arbeit untersucht. Dabei wird die Finkelstein-Debatte in den Rahmen der deutschen Debatten um Vergangenheitsaufarbeitung eingeordnet und aufgezeigt, dass sie einen Wandel der Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Normalisierung des sekundären Antisemitismus repräsentiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Norman G. Finkelsteins „Holocaust-Industrie“
  • I.1 Zur Person Norman G. Finkelstein und zu seiner Rolle in der Goldhagen-Debatte
  • I.2 Das Buch „Die Holocaust-Industrie“
  • I.3 Kritik und Einordnung der Thesen Finkelsteins
  • II. Die deutsche Debatte um Norman G. Finkelsteins „Holocaust-Industrie“
  • II.1 Verlauf der Debatte in der Bundesrepublik
  • Exkurs: Peter Novick in der deutschen Finkelstein-Debatte
  • II.2 Analyse der Finkelstein-Debatte in der Bundesrepublik Deutschland
  • II.2.1 Sekundärer Antisemitismus
  • II.2.2 Tabubruch
  • II.2.3 Bestreiten der Singularität der Shoah
  • II.2.4 Der Kronzeuge
  • II.2.5 Rezeption in der extremen Rechten
  • Schlussbetrachtung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Bibliographie

← 6 | 7 → Einleitung

„[…] Walsers Rede ist eigentlich steinalt, von damals nämlich, als ein Bürgermeister sagte, die Schonzeit für Juden sei vorbei. Und weil er eine doch sehr private Geschichte öffentlich bekanntgab, nämlich die, wenn er wegsieht, erzähl ich ihm eine andere Geschichte, nämlich darüber, wie ich hinsehe, sogar dann, wenn meine Schwester im Badezimmer ist, was mich ja eigentlich nichts angeht, […]

Warum sagt deine Schwester nicht aus? Warum? Sie ist doch eine Zeugin, eine wichtige Zeitzeugin? Meine Schwester sagt, sie muß erst schön werden und sich richtig anziehen dafür. Und wissen Sie, wie lange sich meine Schwester anzieht? Das kann ich gar nicht beschreiben. Meine Schwester zieht sich stundenlang an. Ich übertreibe nicht. Wirklich viele, viele Stunden. Das war schon früher so. Ich weiß nicht, was sie dann macht. Sie nimmt ihre Kleider in die Hand und schließt sich für zwei bis drei Stunden im Badezimmer ein. Seit Jahren. Da kann man davorstehen und dringend pinkeln müssen, das hat sie nie gerührt. Manchmal hatte ich Angst, weil man nichts hörte. Sie kommt dann irgendwann heraus und ist nicht geschminkt. Meine Schwester schminkt sich nicht. Heute glaube ich, sie zieht sich so lange an, damit sie sich einschließen kann. Wenn sie eingeschlossen ist, ist es wie damals, als sie sie einschlossen. Kleine Kinder haben Angst, wenn sie lange allein sind und eingeschlossen, ich weiß. Vielleicht geht sie da hinein in das Badezimmer für diese langen Stunden, damit sie weiß, daß sie jetzt aufschließen darf. Nie habe ich meine Schwester darüber reden hören.[…]“1

Um die Deutung von Geschichte und Interpretation der Vergangenheit für die Gegenwart gibt es auch im 21. Jahrhundert entschieden geführte politische Auseinandersetzungen. „Geschichte wurde und wird als Waffe, als politisches Kampfmittel gegen innere und äußere Gegner eingesetzt.“2 Denn die Deutung der Geschichte ← 7 | 8 → dient der Legitimation des eigenen Handelns, der Konstruktion von Vergangenheit nach politischen Interessen.3 Dieser Deutungskampf um den Inhalt und die Funktion von Geschichte wird seit einigen Jahren in politikwissenschaftlichen Publikationen als „Geschichtspolitik“ bezeichnet.4

Als der seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland wohl umstrittenste und vielfache, im Laufe des gesellschaftlichen Wandels sehr unterschiedliche geschichtspolitische Debatten zeitigende Teil der deutschen Vergangenheit ist der Nationalsozialismus und der Massenmord an den europäischen Juden, die Shoah5,← 8 | 9 → zu bezeichnen. Deren Deutung, der öffentliche wie auch private Umgang und die Erinnerung an die Verbrechen und die Opfer gehören zu den am stärksten umkämpften Themen der Bundesrepublik.6 Denn hierbei geht es um die „nationale Identität“, den Wunsch nach einer positiven Identifizierung mit der deutschen Nation, deren vermeintliche „Normalität“ durch die Geschichte widerlegt wird. So wurde und wird versucht, die Bedeutung des Nationalsozialismus und der Shoah zu relativieren, umzudeuten oder zu leugnen, um ein von der Vergangenheit unbelastetes Deutschland konstruieren zu können.

Die Entwicklung der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen verlief dabei keineswegs gleichförmig. Lange Zeit schien eher das Schweigen über die Verbrechen öffentlich zu dominieren.7 In den 1990er Jahren wurde „die Vergangenheit des Nationalsozialismus dagegen so präsent wie noch nie in der Bundesrepublik“8, es gab etliche energisch geführte Debatten um den Nationalsozialismus und die Aufarbeitung der Vergangenheit.9 Diese folgten auch aufgrund bedeutsamer Jahrestage (wie etwa dem 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag des Kriegsendes) zusehends schneller aufeinander. In den Medien, den wissenschaftlichen und staatlichen Institutionen, aber auch in der Bevölkerung fanden diese geschichtspolitische Debatten um den Nationalsozialismus breite Resonanz.

Mit dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin und dem Regierungswechsel zur rot-grünen Koalition veränderte sich Ende der 1990er Jahre der politische Rahmen für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in fundamentaler Weise. Aus der Bonner wurde die „Berliner Republik“, deren historisch fundiertes Selbstverständnis von dem der Bonner Jahre abrückte, „die Negativfixierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit“ zugunsten „einer Neubewertung der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949“ gelockert wurde, ← 9 | 10 → wie es der Politikwissenschaftler Frank Brunssen bezeichnete.10 Somit ist eine der Thesen dieser Arbeit, dass infolge dieses Wandels auch eine Veränderung der Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Gegenwart in der „Berliner Republik“ stattgefunden hat.

Im Frühjahr 2000, knapp anderthalb Jahre nach dem Sieg der rot-grünen Regierungskoalition bei den Bundestagswahlen 1998, begann erneut eine geschichtspolitische Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Verursacher war der US-amerikanische Politikwissenschaftler Norman G. Finkelstein, der in den USA und Großbritannien im Herbst 2000 ein Buch unter dem Titel „The Holocaust-Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering“ veröffentlichte.11 Darin wirft dieser US-amerikanischen, jüdischen Überlebendenorganisationen unter anderem vor, bewusst mit falschen Überlebendenzahlen zu arbeiten, um von Deutschland höhere Entschädigungsgelder zu erlangen als es gerechtfertigt sei. Die deutschen Medien berichteten über diese Thesen, daraus entspann sich eine breite öffentliche „Finkelstein-Debatte“ in der Bundesrepublik, die bis ins Jahr 2001 anhielt, als das Buch in einer deutschen Fassung veröffentlicht wurde.12 Eine Analyse dieser Debatte will sich diese Arbeit vornehmen.

Dabei sind die die Analyse leitenden Fragen: Was ist die Besonderheit der „Finkelstein-Debatte“? Was hat sich im politisch-gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus, mit der Erinnerung an die Shoah in der „Berliner Republik“ und unter der rot-grünen Bundesregierung im Vergleich zu den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der Vorjahre in der Bundesrepublik geändert? Worin manifestiert sich dieser Wandel, was sind seine öffentlichen Erscheinungen? Welchen Anteil hatte die „Finkelstein-Debatte“ daran? Lässt sich dieser konkreter identifizieren?

Denn obwohl, soviel sei an dieser Stelle bereits erwähnt, nahezu alle Akteurinnen und Akteure der Debatte mit Ausnahme derjenigen vom extrem rechten Rand des politischen Spektrums Finkelsteins Buch kritisierten, lohnt es sich, die Argumentationen, die „Rahmung“ der Kritik und die Nuancen der Debatte genauer zu betrachten. Trotz der Kritiken wurde das Buch „Die Holocaust-Industrie“ nämlich keineswegs als nicht diskutierenswert abgetan. Eine konträr und ausgiebig geführte Debatte fand hingegen statt.

← 10 | 11 → Das Buch könne „für sich genommen […] wohl ohne Verlust ignoriert werden. Doch sich mit den Reaktionen auf diesen Text als Ausdruck der ideologisch-politischen Verfaßtheit in diesem Land auseinanderzusetzen, erscheint um so notwendiger.“13

In der politik- und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung kursieren drei Ansätze, die sich mit Politik bezogenen Zugriffen auf die Vergangenheit befassen: Geschichtspolitik, Vergangenheitspolitik und Erinnerungspolitik.

Nach Edgar Wolfrum wird

„in pluralistischen Gesellschaften […] ständig Geschichtspolitik betrieben, denn politische Eliten – als gewichtiger Teil der Deutungseliten – gestalten und definieren das für einen politischen Verband konstitutive Ensemble von grundlegenden Vorstellungen, Normen, Werten und Symbolen.“14

Ist diese Definition auf diverse historische politische Systeme anwendbar, war mit Vergangenheitspolitik zunächst der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1950er Jahren gemeint. Konkret benennt Norbert Frei drei Funktionen dieser Politik: die weitreichende Amnestierung nicht nur geringfügig belasteter NS-Täter, die Reintegration der zuvor im Entnazifizierungsverfahren „Ausgeschiedenen“ und schließlich die normative Abgrenzung von „Unbelehrbaren“ und „Ewiggestrigen“.15

Michael Kohlstruck weist darauf hin, dass die Begriffe „Geschichtspolitik“, „Vergangenheitspolitik“ und „Erinnerungspolitik“ recht jung sind und in „politikwissenschaftlichen Untersuchungen […] Erinnerung der Sache nach bereits sehr viel länger eine wichtige Rolle“ spiele.16 Die Einwerbung von Legitimität sei Zweck von Erinnerungspolitik, selbige „kann nur unter Einbeziehung der zugrunde liegenden Interessen und der legitimatorischen Funktionen angemessen untersucht werden.“17 Die politikwissenschaftliche Perspektive ziele „auf den ← 11 | 12 → sozialen Kontext von Erinnerung im Allgemeinen und auf die Berücksichtigung gesellschaftlicher Macht im Besonderen.“18

Die Analyse der Debatte um Norman G. Finkelsteins Buch „Die Holocaust-Industrie“ wird in dieser Arbeit auf die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik beschränkt bleiben und die diesbezügliche Debatte in den USA nur am Rande in vergleichender Perspektive, die Debatten in anderen Staaten dagegen nicht thematisieren, da hier der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der Thematik auf den geschichtspolitischen Wandel in der Bundesrepublik gelegt werden soll, in dem die „Finkelstein-Debatte“ verortet wird. Das Buch Norman G. Finkelsteins wurde aber auch in anderen Staaten (nach Kenntnis des Autors zumindest in Europa und Israel) veröffentlicht und dort in unterschiedlichem Ausmaß diskutiert.19

In einem ersten Abschnitt (Kapitel I) werde ich nach einer Darstellung der Person Norman G. Finkelsteins und seiner Biographie eine Zusammenfassung der Thesen seines Buches „Die Holocaust-Industrie“ unternehmen, wobei bereits hier eine systematisierte Form gewählt wird, die eine kritische Auseinandersetzung erleichtern soll. Daran anschließend werde ich die Thesen Finkelsteins einer Analyse und Einordnung in ihren gesellschaftspolitischen Entstehungsrahmen unterziehen. Dieser Abschnitt dient gleichsam als Einstieg und Basis der Analyse der Debatte, deren Akteurinnen und Akteure sich ohne Ausnahme auf die Thesen des Buches bezogen und durch dessen Erscheinen zur Debatte erst angeregt wurden.

Details

Seiten
124
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653042795
ISBN (ePUB)
9783653950212
ISBN (MOBI)
9783653950205
ISBN (Hardcover)
9783631584781
DOI
10.3726/978-3-653-04279-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Antisemitismus Zwangsarbeiterentschädigung Rechtsextremismus Nationalsozialismus Geschichtspolitik Vergangenheitsaufarbeitung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 124 S.

Biographische Angaben

Marc Schwietring (Autor:in)

Marc Schwietring, Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Hannover; Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Rechtsextremismusforschung und -prävention an der Freien Universität Berlin und Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten.

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