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Aberglaube und Unverstand in der Lehre von Versuch und Rücktritt

von Martina Oberhofer (Autor:in)
©2016 Dissertation 335 Seiten
Reihe: Criminalia, Band 59

Zusammenfassung

Die Autorin analysiert Unterschiede und Parallelen zwischen grob unverständigen und irrealen Versuchs- bzw. Rücktrittshandlungen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die gegenwärtige Ungleichbehandlung solcher Irrtümer sachwidrig ist und das geltende Recht keine befriedigende Lösung bietet. Deshalb unterbreitet die Autorin einen eigenen Vorschlag einer Gesetzesänderung, in dem sie sich für eine Entkriminalisierung beim Versuch ausspricht. In der gegenteiligen Rücktrittssituation führt die Gesetzesauslegung zur Versagung einer Strafbefreiung bei beiden Irrtumsarten. Auf diese Weise entwickelt sie ein stimmiges Konzept bei der Strafbegründung und Strafaufhebung, welches zudem mit Blick auf eine künftige Europäisierung des Strafrechts mit einem europäischen Gesamtkonzept kompatibel ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Problemstellung und Ziel der Arbeit
  • B. Gang der Untersuchung
  • 1. Teil: Der grob unverständige Versuch
  • A. Die geschichtliche Entwicklung
  • I. Die Entstehung des § 23 Abs. 3 StGB
  • 1. Der frühere Rechtszustand
  • 2. Reformentwicklung von 1909 bis 1966
  • 3. Das Strafgesetzbuch von 1975
  • 4. Die dem StGB zugrunde gelegte Versuchstheorie
  • II. Kritik an der Regelung
  • 1. Abgrenzungsprobleme
  • 2. Verstoß gegen Bestimmtheitsgrundsatz
  • 3. Fehlendes Strafbedürfnis
  • 4. Fazit
  • B. Bedeutung der Regelung
  • C. Die Ratio des § 23 Abs. 3 StGB – Grund der Besserstellung
  • I. Der Meinungsstand
  • 1. Gesetzesmaterialien
  • 2. Die Sicht der Rechtsprechung und der Strafrechtslehre
  • a) Ungefährlichkeit
  • b) Minderung des Unrechts- und Schuldgehalts
  • c) Generalpräventive Erwägungen
  • II. Analyse und Kritik
  • a) Ungefährlichkeit
  • b) Minderung des Unrechts- und Schuldgehalts
  • c) Generalpräventive Erwägungen
  • d) Fazit
  • III. Die eigene Sicht – „Strafzumessungstheorie“
  • 1. Strafwürdigkeitsaspekte
  • 2. Strafbedürftigkeitsaspekte
  • 3. Zusammenfassung und Ergebnis
  • D. Anwendungsvoraussetzungen des § 23 Abs. 3 StGB
  • I. Nichtvollendbarkeit
  • 1. Untauglicher Versuch
  • a) Analoge Anwendung bei Untauglichkeit des Tatsubjekts
  • (1) Objektbedingte Subjektuntauglichkeit
  • (2) Echte Sonderdelikte
  • b) Analoge Anwendung bei untauglichen Tatmodalitäten
  • c) Fazit
  • 2. Qualifizierte Untauglichkeit?
  • a) Abgrenzungskriterien
  • (1) Die objektiven Versuchstheorien
  • (2) „Realtaugliche“ und „wahntaugliche“ Versuche
  • b) Fazit und Bedeutung des Merkmals
  • II. Der „grobe Unverstand“
  • 1. Begriff
  • 2. Gegenstand des groben Unverstandes
  • a) Nomologische und ontologische Irrtümer
  • (1) Begriffe
  • (2) Meinungsstand
  • (3) Auslegung
  • aa) Grammatikalische Auslegung
  • bb) Historische Auslegung
  • cc) Teleologische Auslegung
  • dd) Ergebnis der Auslegung
  • (4) Rechtsdogmatische Gründe
  • (5) Fazit
  • b) Qualitative und quantitative Irrtümer
  • (1) Können „Quantitätsirrtümer“ grob unverständig sein?
  • (2) Unverstandskomponente im „Insektengift“-Fall
  • (3) Fazit
  • c) Grob unverständige Rechtsbeurteilung
  • d) Grob unverständige Motivation des Täters – das Merkmal der Konnexität
  • 3. Weit verbreitete Irrtümer
  • 4. Ergebnis
  • E. Rechtsfolge des § 23 Abs. 3 StGB
  • I. Fakultative oder obligatorische Rechtsfolgenanordnung?
  • 1. Gesetzestext und Meinungsstand
  • 2. Historische Auslegung
  • 3. Teleologische Auslegung
  • II. Absehen von Strafe
  • III. Strafrahmen bei der Milderung nach Ermessen, § 49 Abs. 2 StGB
  • IV. Die Rechtsfolgenwahl – eingeschränkte Ermessensentscheidung
  • V. Zusammenfassung und Ausblick
  • F. Erweiterter Anwendungsbereich des § 23 Abs. 3 StGB
  • I. Versuch der Beteiligung, § 30 StGB
  • II. Teilnahme an einem grob unverständigen Versuch, §§ 26, 27 StGB
  • III. Weitere Vorschläge in der Literatur
  • G. Ergebnisse des ersten Teils
  • 2. Teil: Der abergläubische oder irreale Versuch
  • A. Begriff
  • I. Begriffsanalyse und Verwendung im Schrifttum
  • II. Begriff des „abergläubischen Versuchs“ in dieser Arbeit
  • III. Abgrenzung untauglicher – abergläubischer Versuch
  • B. Rechtsfolge, Dogmatische Ansätze zur Begründung der Straflosigkeit
  • I. Abergläubischer Versuch außerhalb der Versuchsregelung
  • 1. Fehlende Versuchsqualität – die subjektive Theorie
  • a) Die Rechtsprechung – RGSt 33, 321 ff.
  • b) Vorsatzlösungen
  • (1) Psychologische Erklärungen
  • (2) Normative Ansätze
  • aa) Kein verbrecherischer Wille
  • bb) Generelle Außerrechtlichkeit
  • (3) Beteiligungslehre
  • (4) Fehlende Kausalität bzw. Zurechenbarkeit
  • aa) Kausalität
  • bb) Objektive Zurechenbarkeit
  • (5) Ergebnis der Vorsatzlösung
  • c) Kein unmittelbares Ansetzen
  • d) Straflose Vorbereitungshandlungen und fehlende Verfügungsmacht
  • e) Wahndelikt
  • f) Fazit – subjektive Theorie
  • 2. Eindruckstheorie
  • 3. Strafzwecklehre
  • a) Der rechtspolitische Standpunkt – Schallenberg
  • b) Ergebnis der Strafzwecktheorie
  • 4. Historische Erklärung – Gewohnheitsrecht
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Abergläubischer Versuch als Unterfall des § 23 Abs. 3 StGB
  • 1. Modifizierte Rechtsfolge
  • a) Wortlaut
  • b) Gesetzesmaterialien
  • c) Abgrenzungsschwierigkeiten
  • 2. § 23 Abs. 3 StGB ohne Modifizierung
  • 3. Folgen der Begründungsrichtung
  • a) Rechtsfolge
  • b) Beteiligtenstrafbarkeit
  • c) Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB
  • III. Stellungnahme zum Meinungsstreit
  • 1. Argumente für und wider die jeweilige Begründungsrichtung
  • 2. Zusammenfassung und Ergebnis
  • C. Ergebnisse des zweiten Teils
  • 3. Teil: Gründe für Ungleichbehandlung, Konsequenz der Analyse
  • A. Unterschiedliche Strafwürdigkeit? – Unverstand und Unrecht
  • I. Gesetzesmaterialien
  • II. Strafbedürftige Fälle?
  • III. Unrechtsgehalt grob unverständiger und abergläubischer Versuche
  • 1. Strafgrund des Versuchs
  • 2. Teleologische Erwägungen – „Strafzumessungstheorie“
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Teilnahmestrafbarkeit
  • B. Unterschiedliche Sozialerheblichkeit? – Aberglaube und Gesellschaft
  • C. Folgerungen für den Untersuchungsgegenstand
  • I. Bisherige Erkenntnisse
  • II. Mögliche Lösungswege
  • III. Ein Vorschlag de lege ferenda
  • D. Ergebnisse des dritten Teils
  • 4. Teil: Aberglaube und Unverstand in der Rücktrittssituation und im Rechtsvergleich
  • A. Auswirkungen auf den Rücktritt vom Versuch, § 24 StGB
  • I. Die erforderliche Rücktrittsleistung
  • 1. Der unbeendete Versuch
  • 2. Der beendete Versuch
  • a) Die subjektive Ausgangsposition
  • b) Gegenwärtiger Meinungsstand
  • (1) „Ernsthaft“ als subjektiv-objektiver Begriff
  • (2) Die Gegenmeinung – subjektive Sichtweise
  • aa) Die herrschende Auffassung – „strenge“ Subjektivierung
  • bb) „Abgeschwächte“ Subjektivierung
  • (3) Zusammenfassung und eigene Ansicht
  • c) Auslegung
  • (1) Wortlaut des § 24 Abs. 1 S. 2 StGB
  • (2) Entwicklungsgeschichte
  • (3) Systematik und strukturelle Parallelität
  • (4) Sinn und Zweck der Regelung
  • (5) Ergebnis der Auslegung
  • d) Strafwürdigkeitserwägungen und Missbrauchsanfälligkeit
  • (1) Unrechtsgehalt des Gesamtgeschehens – „Strafzumessungstheorie“
  • (2) Missbrauchsgefahr im Prozess
  • e) Fazit und abschließende Stellungnahme
  • II. Freiwilligkeit des Rücktritts
  • III. Ergebnis
  • B. Abergläubische und unverständige Versuche in fremden Rechtsordnungen
  • I. Die einzelnen Regelungsmodelle
  • II. Wertende Rechtsvergleichung
  • C. Ergebnisse des vierten Teils
  • 5. Teil: Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit
  • Anhang: Gesetzestexte
  • Literaturverzeichnis
  • Quellenverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

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Einleitung

Teufelsbeschwörungen, Voodoo-Rituale, Hexentötungen, Hellseher und Wunderheiler, Menschenopfer für den Katzenkönig, Abtreibungen mittels heißer Senfkornbäder, Verleiten zur Selbsttötung durch Bewohner des Sterns „Sirius“ oder als Sachverständige im Prozess bestellte Parapsychologen – entgegen dem ersten Anschein handelt es sich hierbei nicht um eine bloße Lehrbuchkriminalität und -kriminalistik. Über all diese Fälle haben unsere Strafrichter verhandelt. Wenn es auch nicht allzu häufig geschieht, dass sich Strafgerichte mit Fragen aus dem Bereich der Phantasie und des Absurden befassen müssen, dennoch sind solche Fälle auch in unserer modernen Zeit ein Teil der forensischen Realität. Praktisch bei allen Arten von Straftaten und auf jeder Stufe des Deliktsaufbaus kann es vorkommen, dass über einen in diesem Sinne irrationalen Sachverhalt zu entscheiden sein wird. Diese Abhandlung richtet ihren Fokus auf einen Teil dieser breit gefächerten Problematik, und zwar auf irrationale Vorstellungen und darauf basierende Handlungen in der Lehre von Versuch und Rücktritt. Es wird sich zeigen, dass es nicht immer einfach ist, das Irreale bzw. Irrationale mit rechtlichen Regeln zu bewältigen und zu einem verstandesgerechten Ergebnis zu gelangen.

A.  Problemstellung und Ziel der Arbeit

In unserer Strafrechtspraxis und Strafrechtslehre werden grob unverständige und abergläubische Versuche unterschiedlich behandelt.

Grob unverständige Versuche, bei denen der Täter – beurteilt nach allgemeinem Erfahrungswissen – in völlig abwegiger Weise verkannt hat, dass seine Tathandlung den angestrebten Erfolg nicht bewirken kann (etwa bei einem Vergiftungsversuch mit Vitamin C), sind grundsätzlich strafbar (§§ 22 f. StGB). § 23 Abs. 3 StGB eröffnet jedoch eine außerordentliche Privilegierungsmöglichkeit auf der Rechtsfolgenseite: Das Gericht kann von Strafe absehen oder dem Täter eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 2 StGB gewähren.

Abergläubische („irreale“) Versuche, bei denen der Täter durch übernatürliche, d. h. wissenschaftlich nicht nachweisbare Kräfte eine Straftat verwirklichen will (zum Beispiel durch Zauberei, Telepathie oder ein Voodoo-Ritual), werden hingegen vor deutschen Gerichten nicht bestraft. In der Strafrechtsdogmatik hat man mit verschiedenen Konstruktionen versucht, diese Fälle aus der Versuchsstrafbarkeit auszuklammern. Das Reichsgericht bestätigte durch eine ← 19 | 20 → Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1900 diese Sichtweise und gab so für nachfolgende Gerichtsverfahren den Weg zumindest im Ergebnis vor (RGSt 33, 321 ff.). Die Straflosigkeit des abergläubischen Versuchs ist heute die fast einhellige Meinung in der Strafrechtswissenschaft. Die erstaunliche Vielfalt an unterschiedlichen Begründungsmodellen macht jedoch deutlich, dass sich dieses Ergebnis nicht leicht begründen lässt. Immerhin werden auch die abergläubischen Versuche vom Wortlaut der Versuchsvorschriften erfasst.

Eine Parallelproblematik besteht in der Rücktrittssituation, allerdings mit genau umgekehrten Rechtsfolgen. Eine Erfolgsabwendungsbemühung mit Hilfe übersinnlicher Kräfte (abergläubischer bzw. „irrealer“ Rücktritt) soll für eine Strafbefreiung nach § 24 StGB nicht genügen; grob unverständige, also völlig abwegige, aber weltliche Rücktrittshandlungen sollen nach der herrschenden Auffassung rücktrittsrelevant sein und die Rechtsfolge der Straflosigkeit gem. § 24 StGB nach sich ziehen können.

Es ist das Anliegen dieser Arbeit, Unterschiede und Parallelen zwischen grob unverständigen und abergläubischen Versuchs- bzw. Rücktrittshandlungen zu analysieren, um zu klären, ob sie die divergente Behandlung rechtfertigen.

Außer Betracht bleiben dabei Erörterungen zur Schuldfähigkeit des Täters. Der abergläubische bzw. grob unverständig handelnde Versuchstäter hat regelmäßig das Unerlaubte seines Tuns erkannt und sein Aberglauben bzw. Unverstand beeinträchtigt seine Steuerungsfähigkeit normalerweise nicht. Gestört ist nur die Fähigkeit, die Unwirksamkeit der Tathandlung zur Erfolgsverwirklichung zu erkennen.1 Auf die in forensischer Hinsicht bedeutsame Frage, unter welchen Voraussetzungen die Tätervorstellung ausnahmsweise einen Schuldausschluss bzw. eine verminderte Schuldfähigkeit zur Folge hat (denkbar vor allem bei schizophrenen Wahnvorstellungen oder bei Schwachsinn), soll hier nicht näher eingegangen werden.

Für eine erste grobe Unterscheidung zwischen abergläubischen und grob unverständigen Versuchs- bzw. Rücktrittshandlungen ist nach dem oben geschilderten Begriffsverständnis also auf eine „Jenseits-“ bzw. „Diesseitsbezogenheit“ der Tätervorstellung abzustellen. Ein abergläubisches Vorgehen betrifft den Bereich der Magie, des Zaubers, des mit den Gesetzen der Logik Unfassbaren und mit bekannten Naturgesetzen nicht Erklärbaren. Bei grob unverständigen Handlungen bewegt sich der Irrtum des Täters im Bereich der irdischen Zusammenhänge, wenngleich ← 20 | 21 → diese völlig verkannt werden. Diese kurze Beschreibung und Abgrenzung sollte für eine erste Begriffsklärung ausreichen. Im Rahmen dieser Arbeit werden beide Begriffe ausführlich erörtert und konkretisiert.

Zur Problematik der strafrechtlichen Behandlung abergläubischer und grob unverständiger Handlungen im Rahmen der §§ 22 – 24 StGB gibt es nur äußerst wenige ausführliche Untersuchungen. Die Probleme werden zumeist nur fragmentarisch und häufig nur zur Bekräftigung der eigenen Rechtsmeinung angesprochen. Bei grob unverständigen Versuchen wird in der Regel nur auf die gesetzliche Wertung verwiesen, wonach solche Versuche weniger strafwürdig sind. Warum dem so ist, wird nicht näher untersucht. Im Hinblick auf die heute nahezu einhellig anerkannte Straflosigkeit abergläubischer Versuche wurde zwar seit ca. Mitte des 19. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Vielfalt an unterschiedlichsten Begründungsmodellen entwickelt. Gleichwohl bildete diese Problematik nur in zwei Untersuchungen den Kern der Erörterungen: bei Schallenberg (1951) und Kuhrt (1968). Beide Arbeiten wurden jedoch vor der Einführung des § 23 Abs. 3 StGB verfasst und haben dementsprechend nicht das geltende Recht zur Grundlage. Neuere rechtsdogmatische Analysen zu diesem Thema sind selten.2 Die Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts zum abergläubischen Versuch bedeutete zwar einen großen Fortschritt, doch tat dies der heftig geführten Diskussion um die strafrechtliche Behandlung dieser Fälle mit guten Gründen keinen Abbruch.

Dass die angesprochenen Probleme nicht nur sehr interessant, sondern genauso umstritten sind, gab mir den Anreiz, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

B.  Gang der Untersuchung

Die ersten zwei Hauptteile bauen das Fundament für die eigentliche Fragestellung, indem die Strukturelemente sowie die begrifflichen und teleologischen Grundlagen grob unverständiger und abergläubischer Versuche herausgearbeitet werden.

Die Untersuchung beginnt im ersten Teil mit einem kurzen Abriss zur geschichtlichen Entwicklung des § 23 Abs. 3 StGB. Außerdem wird hier erörtert, welcher Strafgrund eine tragfähige Grundlage der geltenden Versuchsregelung bietet. Sodann wird auf die Bedeutung der Unverstandsregelung eingegangen. Einen ersten Schwerpunkt der Arbeit bildet die Frage, was eigentlich der Grund ← 21 | 22 → der in § 23 Abs. 3 StGB geregelten Besserstellung ist. Hierzu gab es bisher keine näheren Untersuchungen. In dieser Arbeit wird ein eigener Erklärungsansatz entwickelt. Mit der Bestimmung des Grundes der Privilegierung in Unverstandsfällen erfolgt eine dogmatische Grundlegung für die weitere Untersuchung, auf die in schwierigen Auslegungsfragen zurückgegriffen wird. Daneben wird untersucht, wann ein Versuch als grob unverständig im Sinne des § 23 Abs. 3 StGB anzusehen ist und welche Irrtumsarten der Privilegierung zugänglich sind. Auf die Weise sollen diese Fälle von den „normal“ untauglichen Versuchen abgegrenzt werden. Schließlich werden die möglichen Rechtsfolgen grob unverständigen Versuchshandelns analysiert und der Anwendungsbereich der Norm abgesteckt.

Im Zweiten Hauptteil wird erläutert, welche Konstellationen als abergläubischer Versuch bezeichnet werden und wie diese von grob unverständigen Versuchen abzugrenzen sind. Außerdem erfolgt eine eingehende Analyse der Begründungsmodelle, welche in Theorie und Praxis für die Straflosigkeit dieser Versuchsart angeführt werden.

Erst wenn insoweit Grund für die Erforschung der Kernfrage gelegt ist, werden in dem zentralen dritten Teil mögliche Unterschiede und somit Gründe für eine Ungleichbehandlung grob unverständiger und abergläubischer Versuche ermittelt und analysiert, um schließlich festzustellen, ob sie die ungleichen Rechtsfolgen tragen. Dabei wird vor allem die Strafwürdigkeit des grob unverständigen Versuchs auf den Prüfstand gestellt. Am Ende dieses Hauptteils wird die Frage nach der strafrechtlichen Behandlung beider Versuchsarten beantwortet.

Der vierte Teil befasst sich mit Unverstand und Aberglauben in der Rücktrittssituation sowie in ausländischen Rechtsordnungen. Durch die Untersuchung der Auswirkungen grob unverständiger und irrealer Vorstellungen auf den Rücktritt vom Versuch nach § 24 StGB wird ein Gesamtkontext hergestellt, welcher die hier vertretene Meinung unterstützt: Es wird sich zeigen, dass die vorgeschlagene Lösung geeignet ist, die Unverstandsproblematik im Rahmen der Versuchs- und der Rücktrittsregelung gerade auch in ihrem Verhältnis zueinander stimmig zu erklären. Im letzten Kapitel werden mögliche europarechtliche Einflüsse analysiert. Dabei wird in gebotener Kürze erörtert, wie andere europäische Länder die Unverstands- und Aberglaubensfälle behandeln und wie sich die hier entwickelte Lösung in das europäische Gesamtkonzept – auch mit Blick auf eine „Europäisierung des Strafrechts“ – einfügt.

Schließlich werden im 5. Teil die wichtigsten Untersuchungsergebnisse zusammengefasst.


1 Gössel, GA 1971, 225, 230. Zur Schuld(un)fähigkeit bei abergläubischen Versuchen Schallenberg, S. 10 ff. und 31 f. (unter Zugrunderlegung des § 51 StGB a. F.). Stooß, S. 218 will in diesen Fällen immer Unzurechnungsfähigkeit des Täters annehmen; krit. dazu Germann, Versuch, S. 61 und Kohler, Studien I, S. 10 Fn. 1.

2 Z. B. Bloy, ZStW 113 (2001), S. 76–111; Heinrich, Jura 1998, S. 393–398; Hillenkamp, Schreiber-FS (2003), S. 135–152; Satzger, Jura 2013, S. 1017–1025.

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1.  Teil:  Der grob unverständige Versuch

„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ (Albert Einstein)

A.  Die geschichtliche Entwicklung

I.  Die Entstehung des § 23 Abs. 3 StGB

Die geltende strafgesetzliche Regelung des § 23 Abs. 3 StGB geht auf § 27 Abs. 3 des Entwurfs von 1962 zurück.3 Sie ist zusammen mit den übrigen Vorschriften dieses Abschnitts durch das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4.7.1969 (2. StrRG) in das Strafgesetzbuch eingeführt worden4 und mit Wirkung vom 1.1.1975 in Kraft getreten. Ihr Vorbild hat die Norm in Art. 23 Abs. 2 a. F. des schweizerischen Strafgesetzbuchs gefunden, welche auch den abergläubischen Versuch erfasste.5 In Deutschland ist es hingegen umstritten, ob die Unverstandsregelung auch den abergläubischen Versuch regelt.

Bis es zur Einführung dieser Strafrechtsvorschrift kam, musste ein langer Weg mit einer Vielzahl von Meinungsstreiten zurückgelegt werden.

1.  Der frühere Rechtszustand

Die Frage der Strafbarkeit grob unverständiger und abergläubischer Versuche wurde in der Rechtswissenschaft mindestens seit Feuerbach6 kontrovers diskutiert. Heftige Bestrebungen zur Begrenzung der Versuchsstrafbarkeit durch eine Unverstandsklausel lassen sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichnen.7 Der Weg zu einer weitgehenden Einigung zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Strafrechtslehre dauerte mehr als ein Jahrhundert. Die Ursache für die lange Annäherung lag in der theoretischen Kontroverse darüber, ob der Versuchsbestrafung eine objektive oder eine subjektive Theorie zugrundezulegen ← 23 | 24 → ist.8 Beide Strömungen führen zu unterschiedlichen Lösungen der Frage nach dem Grund und der Grenze der Versuchsstrafbarkeit. Die Anhänger der objektiven Versuchslehre erblickten das Unrecht einer versuchten Tat in der Gefährdung der geschützten Rechtsgüter bzw. in der Gefahr der Tatbestandsverwirklichung.9 Sie gelangten zur Straflosigkeit eines jeden untauglichen Versuchs, weil von einer zur Tatbestandsverwirklichung objektiv ungeeigneten Tathandlung eine solche Gefahr nicht ausgeht. Diese sog. „älteren objektiven Versuchstheorien“ haben in ihrer späteren Entwicklung zwischen absolut und relativ untauglichen Versuchen differenziert.10 Nur der absolut untaugliche Versuch sei (schon abstrakt) ungefährlich und deshalb straflos. Diese Versuchsart wurde bei „an und für sich und von vorneherein“ zur Vollendung untauglichen Mitteln bzw. Objekten angenommen (etwa bei einem Mordversuch mit einer ungeladenen Pistole). Eine strafbare relative Untauglichkeit liege demgegenüber dann vor, wenn ein „an und für sich“ zur Tatbestandsverwirklichung geeignetes Mittel verwendet wird, sich dieses aber in der konkreten Anwendung als untauglich erweist (zum Beispiel der Vergiftungsversuch mit einer unzureichenden Giftdosis).11 Die subjektive Theorie, welche schon die Betätigung des rechtsfeindlichen Willens als strafwürdig ansieht, führt grundsätzlich zu einer uneingeschränkten Strafbarkeit ← 24 | 25 → untauglicher Versuche.12 Dennoch hat sich die Mehrheit ihrer Vertreter für eine Einschränkung beim abergläubischen Versuch ausgesprochen.13

Details

Seiten
335
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653067446
ISBN (ePUB)
9783653950496
ISBN (MOBI)
9783653950489
ISBN (Hardcover)
9783631672228
DOI
10.3726/978-3-653-06744-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Grober Unverstand Irrealer Versuch Entkriminalisierung Ungleichbehandlung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 335 S.

Biographische Angaben

Martina Oberhofer (Autor:in)

Martina Oberhofer studierte Rechtswissenschaft an der LMU München und war dort am Lehrstuhl für Strafrecht tätig. Sie wurde an der juristischen Fakultät der LMU München promoviert.

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