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Vorträge und Aufsätze zur lateinischen Literatur der Antike und des Mittelalters

von Jürgen Blänsdorf (Autor:in)
©2015 Sammelband 445 Seiten

Zusammenfassung

Der Band vereinigt die zwischen 2000 und 2014 entstandenen Untersuchungen zur lateinischen Literatur der Antike und des Mittelalters: Komödie und Epos, Philosophie und Geschichtsschreibung. Weitere Themen sind außerdem die Methoden der Textinterpretation, Metrik, römische Philosophie, Staatstheorie, Geschichte, Religion und Fachschriftsteller. Das Buch wendet sich an Interessenten in Universität und Gymnasien und weitere Leserkreise. Öffentliche Diskussionen über den Wert des Lateins berücksichtigen oft nur die Mühen des Spracherwerbs. Hier stehen Literatur und Geistesgeschichte im Vordergrund.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Witz – Würde – Wucht
  • Überlegungen zu einer Übersetzung des Plautus
  • Die Methoden der Textlinguistik
  • Eine Komödie der Hoffnungen und Enttäuschungen
  • Cicero erklärt dem Volk die Agrarpolitik
  • Ciceros Anthropologie und Sozialtheorie
  • Römische Staatstheorien
  • Biographische Exkurse in der antiken Geschichtsschreibung
  • Die Friedensdebatte in Vergils Aeneis
  • Erzähltechnik und psychologische Darstellungskunst in Ovids ‘Metamorphosen’
  • Deutungsschichten in Ovids Sagenerzählungen
  • Hermeneutische Probleme der Fabeln des Phaedrus
  • Die Welt der Götter in der römischen Dichtung
  • Schwierigkeiten mit dem Glück
  • Lebensgenuss oder Pflichterfüllung?
  • Petrons literarische Universalität
  • Kollektive Unterwürfigkeit und stoischer Widerstand bei Tacitus
  • Nero im 15. und 16. Buch der Annales des Tacitus
  • Götterkult und Verehrung Gottes
  • Alte und neue Inschriften des römischen Mainz
  • Drei römische Dichter über Straßenbau und Reiseverkehr
  • Der Ruodlieb
  • Ein Kreuzzugsepos in Vagantenstrophen
  • Griechen – Römer – Araber
  • Senecas Thyestes-Tragödie in Eiderstedt
  • Stichwortverzeichnis

← 6 | 7 → Vorwort

Dieser Sammelband vereinigt einige der seit dem Jahr 2000 verfassten Vorträge und Aufsätze, die bisher nicht oder an abgelegener Stelle oder in anderen Sprachen publiziert waren. Sie spiegeln die Gebiete wider, die mein Interesse an der lateinischen Literatur und Kultur der Antike und des Mittelalters seit Beginn meiner philologischen Tätigkeit fesselten. Jedoch auch neue Zugangsweisen wie die Textlinguistik und die Erzählforschung und weniger bekannte Texte sollten vorgestellt werden.

Die Themen dieses Sammelbandes sollen auch dazu beitragen, die Engführung der öffentlichen Diskussion über den Wert des Lateins zu überwinden. In polemischen, aber selbst auch in wohlmeinenden Stellungnahmen beschränken sich die Verfasser auf die lateinische Sprache und die Methoden ihres Erwerbs, ihr Nachwirken in den romanischen Sprachen und im Englischen und auf die logische Schulung durch Grammatik und Stil. Wollte man das Kriterium des bloßen Spracherwerbs auf die modernen Fremdsprachen anwenden, könnte deren Unterricht auf wenige Jahre beschränkt werden. Vielmehr geht es wie im Unterricht des Englischen, Französischen und Spanischen um Literatur und ihre Formen, Inhalte, Probleme und ihre historische Einbettung. Erst wenn Catull, Vergil und Ovid, wenn Cicero, Seneca und Tacitus gelesen werden und das leistet der Gymnasialunterricht noch heute lohnt sich der Aufwand des Spracherwerbs. In dieser Absicht sind die Untersuchungen dieses Sammelbandes entstanden und in Gymnasien und Universitäten und vor weiterer Öffentlichkeit vorgetragen worden.

Die Beiträge zur Erforschung der lateinischen Dichtung der Renaissance und die in Mainz, Köln, Rom, Barcelona und Zaragoza veröffentlichten Untersuchungen zu antiken Verfluchungsinschriften und weitere Inschriftenentzifferungen sind in den Monographien und Sammelbänden gut zugänglich (Schriftenverzeichnis im Internet: www.jueblaensdorf-mainz.de). Eine Aufnahme solcher Artikel in diesen Sammelband wäre schon wegen der zahlreichen Farbabbildungen und Graphiken nicht möglich.

Die äußere Form der einzelnen Artikel wurde soweit wie möglich einander angeglichen. Literaturhinweise finden sich am Ende der einzelnen Artikel. ← 7 | 8 →

← 8 | 9 → Witz Würde Wucht

Wirkungsqualitäten antiker, spätantiker und mittelalterlicher lateinischer Versarten1

Der Titel dieses Beitrages soll die vielfältigen Wirkungen andeuten, die die verschiedenen Gattungen lateinischer Verse trotz historisch nicht mehr vollständig rekonstruierbarer Vortragsart auf den Hörer auszuüben vermögen.

Metrik ist die einzige philologische Disziplin, die mathematische Regeln in sprachlichen Äußerungen zu entdecken imstande ist. Verständlich ist daher die Versuchung der Metriker, ihre Disziplin auf die zähl- und messbaren Phänomene: Metrum, Silbenquantitäten, Akzente und Strophenformen, zu beschränken und ohne Berücksichtigung des Textinhalts Aussagen über die poetische Form und ihre beabsichtigte Wirkung zu machen.

Doch nicht weniger bedenklich ist die Neigung der Textphilologie, Inhalt und Intention eines Textes in erster Linie aus dem rein sprachlichen Kontext zu erschließen, jedoch die vom Verfasser gewählte metrische oder rhythmische Form als Mittel der Aussage zu vernachlässigen. Beiden den Metrikern wie den Textphilologen gemeinsam ist der Fehler, die lautliche Realisierung des Textes, die erst alle Sinne anspricht, d.h. die performance, antik: die actio, als eher überflüssige Kunstreproduktion geringzuschätzen.

Dass Versdichtung ihr Publikum nicht erreicht, weil sie nicht zu Gehör gebracht wird, war der Anlass für den amerikanischen Dichter und Pulitzer-Preiträger Galway KINNELL, für Robert BLY und den U.S.-Poet Laureate Robert PINSKY, Anfang April 1999 in New York ein Peoples Poetry Gathering zu veranstalten, bei dem in Cafés, Parks und Sälen öffentliche Dichterlesungen, auch unter freiem Himmel stattfanden. Die Reihe der Dichter reichte von Robert Burns bis zu populärer Gegenwartsdichtung; Edgar Allan Poes The Raven wurde auf einem Friedhof rezitiert. Dagegen galt den Initiatoren dieses Poetic-Festivals die deutsche Rezeptionssituation als abschreckendes Beispiel akademischer Austrocknung der Poesie. Robert BLY sagte in einem Interview2: I took a tour of Germany recently and found that poetry never really got out of the university there. There are no poetry readings in Germany. But here weve had a very healthy tradition of bringing poetry outside the university and off the page.

← 9 | 10 → Eine Interpretation also, die sich nicht auf die litteralen Aspekte, also hier vor allem Metrum und Inhalt, beschränkt, sondern alle Bereiche sprachlicher Äußerung erfasst und besonders auch die oralen Aspekte poetischer Texte analysiert, muss, beginnend bei der Struktur der Sprache, die Klangphänomene, die metrischen und rhythmischen Strukturen, den Stil und die willkürlich gewählten Mittel des rhetorischen Ornatus analysieren und bis zur Inhaltsseite der Texte reichen und schließlich das erzielte Textverständnis durch eine alle Aspekte realisierende Performanz erproben.3

Erst eine so erreichte Evidenz vermag auch das Postulat der Arbitrarietät des Zeichensystems zu überwinden.

Aber heute ist in der Tat die stille Lektüre des einsamen Lesers die verbreitetste Rezeptionsform gerade der Versdichtung geworden. Dagegen antike Dichtung, die immer Versdichtung war, war für die szenische Aufführung vor sehr großen Zuschauerzahlen oder für chorischen oder Sologesang vor größerem Publikum oder das gesellige, von Musikinstrumenten begleitete Singen bestimmt. Verspoesie war ein soziales Ereignis. Auch wenn wir die sozialen Voraussetzungen der Dichtungsrezeption nicht reproduzieren können, sollten wir doch wenigstens ihre Oralität in unsere Analysen einbeziehen oder sogar selbst erproben.

I. Ebenen der Motiviertheit antiker Metra

1.1 Gattungsbezug der Metra

Dass in der antiken Verskunst das Metrum nicht ein der Sprache willkürlich übergeworfenes Kleid bedeutete, das mit mathematischen Regeln die Verteilung von Längen und Kürzen im Vers regelte, sondern aufgrund traditionell entwickelter Konventionen dem Inhalt, dem Stil und der Vortragsart zugeordnet war, geht schon aus der fast ausschließlichen Verwendung der metrischen Hauptgattungen für die einzelnen literarischen Gattungen hervor: der Hexameter ist dem Epos, dem Lehrgedicht und der Satire zugeordnet, die lyrischen Versmaße der monodischen und der chorischen Lyrik, die Sprechverse dem Drama, das elegische Distichon der Elegie und dem Epigramm.

1.2 Metra innerhalb der Gattungen

Diese inhaltliche Motiviertheit des Metrums galt auch innerhalb der Gattungen. Im Drama waren Sprechvers, Recitativo und Chorlied nur in bestimmten Metren möglich, und noch spezieller: die Komödie erlaubte metrische Freiheiten, die in der Tragödie verpönt waren. Aber während im griechischen Drama die metrischen Gattungen durch die obligaten Formelemente wie Dialog, Einzugslied des Chores, Wechselgesang von Chor und Schauspielern festgelegt waren, bot das römische Drama mangels fester Formtraditionen mehr Freiheit in der Wahl der Metren: der ← 10 | 11 → Monolog und der ruhige Dialog erhielten den einfachsten jambischen Sprechvers, melodramatische Auseinandersetzungen trochäische oder jambische Langverse, die von Gesangspartien abgelöst wurden, während derer die Handlung stagnierte. In den Komödien des Terenz wechselt mehrfach das Metrum innerhalb einer Szene, in der Regel motiviert durch den Übergang von emotionaler Auseinandersetzung zu ruhigerem Berichten, Planen oder Argumentieren.

Schwieriger ist der Charakter der lyrischen Metra zu beurteilen. Denn welcher Ausdruckswert der sapphischen oder asklepiadeischen Strophe zukommt, scheint mehr von den persönlichen Vorlieben der Dichter bedingt, und selbst Horaz verwendet offenbar dasselbe Metrum für verschiedene Inhalte und Stimmungen. Hier entschied wohl in erster Linie die Melodie über den Charakter des Vortrags doch Melodien sind nur zu ganz wenigen Texten, und nur zu griechischen, erhalten, und von der ganzen antiken Musik sind zu wenige Fragmente erhalten, als dass wir uns aus ihnen ein ästhetisches Urteil bilden könnten.

1.3 Variable Handhabung der Metra: Silbenquantitäten

Die nächste Ebene der Motiviertheit sind die Variationsmöglichkeiten der antiken Verssysteme, die nicht nur die Kongruenz der Sprache mit dem metrischen Schema ermöglichten, sondern als Ausdrucksmittel genutzt werden konnten. Denn die strikte Einhaltung gleicher Silbenzahlen und Quantitäten also Isosyllabie und Isometrie verlangten wegen der Bindung strophenweise genau zu wiederholender Musiknotenwerte nur die lyrischen Metra. Alle anderen Metra erlauben mit gattungsbedingten Beschränkungen die Ersetzung einer langen Silbe durch zwei kurze oder umgekehrt. In diesen Fällen herrscht zwar nicht Isosyllabie, aber doch Isometrie: der daktylische Hexameter kann zwar von 13 bis 17 Silben gebildet werden, doch seine effektive metrische Länge ist stets die gleiche, weil zwei kurze Silben durch eine lange ersetzt werden können. Aber in den Jamben und Trochäen der Dramenverse kann sogar eine Kürze durch eine Länge und diese konsequenterweise durch zwei Kürzen ersetzt werden, so dass im Grunde auch die Isometrie des Verses nicht mehr besteht. Um dennoch die ästhetische Dimension des Verses einigermaßen konstant zu halten, müssen besonders lang realisierte Verse mit leicht erhöhtem Tempo gesprochen. werden.

Durch die von der Sprache bzw. ihrer ungeregelten Verteilung von langen und kurzen Silben erzwungene Variation des metrischen Schemas wird die sicher ästhetisch unerträgliche Monotonie des Metrums gebrochen. Wie nötig z.B. der Wechsel von daktylischen und spondeischen Versfüßen im daktylischen Hexameter ist, zeigen mittelalterliche Versuche ausschließlich daktylischer Hexameter.4 Aber ← 11 | 12 → über die rein ästhetische Funktion der Variation hinaus eröffnet diese Lizenz die Möglichkeit zu ausdrucksmotivierten Häufungen langer Silben, die eher getragen bis wuchtig wirken, oder kurzer Silben, die leicht oder aufgeregt wirken. Weitere ausdrucksmotivierte Variationsmöglichkeiten eröffnet die Häufung kurzer oder langer Wörter wenige mehrsilbige Wörter pro Vers erzeugen einen getrageneren Eindruck als viele ein- bis zweisilbige Wörter.

1.4 Variable Handhabung: Syntax

Auf der nächsten Stufe der Modifikation des metrischen Schemas können die Längen der Sätze und Satzteile variiert werden. In diesen Punkten unterscheidet sich der Hexameter Vergils signifikant von dem Horazens oder Ovids: letzterer erzeugt durch viele kurze Wörter und die Zerstückelung des Versablaufs durch mehrstufige Hypotaxe und Nebensatzeinschübe einen lebhaften, oft spielerischen Vers.

1.5 Variable Handhabung: Akzent

Im Dramenvers konnte auch die Möglichkeit genutzt werden, die Worte im Vers so anzuordnen, dass der Wortakzent überwiegend mit der Länge des Versfußes zusammenfiel. Der so erzeugte Eindruck eines zwanglosen Sprechens, in dem sich das metrische Schema kaum bemerkbar macht, wie schon Cicero tadelnd bemerkte5, konnte durch zunehmende Diskordanz von Wortakzent und Longum zu aufgeregtem oder leidenschaftlich erregtem Sprechen verschoben werden. In den Anapästen der römischen Komödie, die nur für den Ausdruck höchster Emotionalität verwendet werden, ist, wie die Textprobe aus der Aulularia des Plautus zeigen wird, diese Diskordanz zum Prinzip erhoben.

1.6 Performanz

Die oberste Ebene der Motiviertheit von Metrum und Rhythmus wird erst in der Performanz erfasst.6 Die vom metrischen Schema suggerierte Einförmigkeit, die schon durch die Variation des Grundmusters durchbrochen wird, kann durch eine den Sinn und die Emotion des Textes akzentuierende Vortragsweise weiter differenziert und mit Leben erfüllt werden. Anders als in der Musik regiert Maelzels Metronom nicht beim Versvortrag. Denn der erfahrene Rezitator oder Schauspieler wechselt ← 12 | 13 → ständig das Tempo, die Lautstärke, die Modulationskurve kurz, er hat dasselbe zu leisten wie der Musiker, der erst durch die Phrasierung aus Noten Musik werden lässt. Schon der Rhetoriker Quintilian systematisierte die Modulationsmöglichkeiten nach Tempo, Farbe, Intensität und Höhe der Stimme und beschrieb mit dieser Stimmphänomen-Analyse die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten rationalen oder emotionalen Sprechens. Seine für den Redner bestimmten Lehren illustrierte er mit Beispielen aus der Tragödie, deren Performanzmethoden jedem seiner Leser bekannt sein mussten.7 Dank seiner und Ciceros Vortragsangaben für den Ausdruck von Zorn, Angst, Klage, Freude, Misstrauen, Hass, gütigem Zureden oder kühlem Argumentieren8 können wir sicher sein, dass ein antiker Versvortrag uns überhaupt nicht fremdartig oder unverständlich erschienen wäre oder umgekehrt, dass wir antike Verse richtig vortragen, wenn wir uns der uns vertrauten Mittel des Gefühlsausdrucks bedienen und es wagen, alle Möglichkeiten der Stimme vom freundlichen Plauderton bis zum keuchenden Staccato zu nutzen.

II. Metrische Beispiele

In den folgenden Beispielen werden alle sechs Ebenen der Motiviertheit des Metrums analysiert.

In dem ersten, aus dem Beginn einer Komödie, dem Pseudolus des Plautus, genommenen Beispiel, in dem ein Sklave besorgt, aber in noch ruhigem Ton auf seinen Herrn einredet, hält sich der Ersatz langer durch kurze Silben in Grenzen; der Wortakzent fällt so regelmäßig mit der Länge des Jambus zusammen, dass man die Verse schon weitgehend richtig spricht, wenn man sie wie Prosa vorträgt. Zum Eindruck der Ruhe trägt auch die Länge der Sätze und die weitgehende Koinzidenz von Satz und Vers bei. Doch schon die Häufung der Alliterationen im Text durch Fettdruck hervorgehoben zeigt, dass die Verse mit einem gewissem Nachdruck zu sprechen sind.

Plautus, Pseudolus I 1 (v. 1-10): Pseudolus servus zu seinem Herrn Calidorus:

Si ex te tacente fieri possem certior,
ere, quae miseriae te tam misere macerant,
duorum labori ego hominum parsissem lubens,
mei te rogandi et tis respondendi mihi;
nunc quoniam id fieri non potest, necessitas
5
me subigit, ut te rogitem. responde mihi:
quid est quod tu exanimatus iam hos multos dies
gestas tabellas tecum, eas lacrumis lavis
nec tui participem consili quemquam facis?
eloquere, ut, quod ego nescio, id tecum sciam.
10

← 13 | 14 → Wenn ich von dir, Herr, aus deinem Schweigen erfahren könnte, welch Unglück dich so erbärmlich quält, könnte ich gern die Mühe zweier Menschen sparen: meine, dich zu fragen und deine, mir zu antworten. Da dies nun nicht geschehen kann, zwingt mich die Notwendigkeit, dich zu fragen. Antworte mir: Warum trägst du ganz von Sinnen schon so viele Tage die Schreibtafeln mit dir herum, wäschst sie mit Tränen und lässt keinen an deinen Plänen Anteil nehmen? Sag, damit ich, was ich nicht weiß, mit dir weiß.

Das zweite Beispiel stammt aus einer Schimpfszene der gleichen Komödie, die entsprechend dem Inhalt im melodramatischen trochäischen Langvers gehalten ist. Calidorus und Pseudolus machen zwar ihrer Wut auf den habgierigen Komödienbösewicht, den Kuppler Ballio, mit einer Serie von derben Schimpfworten Luft. Aber schon in der Bühnenfiktion betreiben sie die Schimpfkanonade wie einen sportlichen Wettkampf, zu dem sie der feixende Kuppler auch noch schadenfroh ermuntert. Aber dem Zuschauer wird die Schimpfkanonade durch die metrische Form und die geregelte Verteilung der Einwürfe auf den Vers, die das Staccato rhythmisieren, und schließlich durch die Klangrekurrenzen zum artistischen Vergnügen. Wie raffiniert die Verswirkung durch Klangstrukturen akzentuiert wird, zeigt die allein schon sechsmalige Alliteration des jeweils letzten mit dem vorletzten Einwurf (die Alliterationen sind wieder durch Fettdruck hervorgehoben):

Plautus, Pseud. I 3 (v. 359-369): Calidorus und Pseudolus beschimpfen den habgierigen Kuppler Ballio:

CAL. Ingere mala multa. PS. Iam ego te differam dictis meis
inpudice. BA. itast. CAL. sceleste. BA. dicis vera. PS. verbero.
359
360
BA. quippini? CAL. bustirape. BA. certo. PS. furcifer. BA. factum optume.
CAL. sociofraude. BA. sunt mea istaec. PS. parricida. BA. perge tu.
CAL. sacrilege. BA. fateor. PS. peiiure. BA. vetera vaticinamini.
CAL. legerupa. BA. valide. PS. permities adulescentum. BA. acerrume.
CAL. fur. BA. babae. PS. fugitive. BA. bombax. CAL. fraus populi. BA. planissume.
PS. fraudulente. CAL. inpure. PS. leno. CAL. caenum. BA. cantores probos!
366
CAL. verberavisti patrem atque matrem. BA. atque occidi quoque
potius quam cibum prae(hi)berem. num peccavi quippiam?
PS. in pertussum ingerimus dicta dolium. operam ludimus.
369

CAL. Häuf viel Böses auf ihn! PS: Ich werde dich (=BA.) schon mit meinem Worten verschreien.
Unverschämter. BA. So ist es. CAL. Verbrecher. BA. Du sagst die Wahrheit. PS. Prügelbock.
BA. Warum nicht?. CAL. Grabräuber. BA. Sicher. PS. Galgenstrick. BA. Sehr gut gemacht.
CAL. Partnertäuscher. BA. Mein Beruf. PS. Mörder. BA. Mach du weiter.
CAL. Tempelräuber. BA. Ich gestehe es. PS. Meineidiger. BA. Alte Kamellen schwatzt ihr da.
CAL. Gesetzesbrecher. BA. Stark! PS. Jugendverderber. BA. Ganz scharf.
CAL. Dieb. BA. Bah PS. Entlaufener Sklave. BA. Donnerwetter. CAL. Volksbetrüger. BA. Ganz o.k.
PS. Rosstäuscher. CAL. Dreckskerl. PS. Kuppler. CAL. Scheiße. BA. Gesangsstars seid ihr.
← 14 | 15 → CAL. Geprügelt hast du Vater und Mutter. BA. Und sogar umgebracht
lieber als ihnen zu essen zu geben: habe ich irgendwas verbrochen?
PS. Wir tun Worte in ein Fass mit Löchern. Wir vertun unsere Mühe.

Als Beispiel geradezu ekstatischer Verzweiflung habe ich die Arie des bestohlenen Geizigen aus der Aulularia ausgewählt. Sie ist in dem hierfür passenden anapästischen Tetrameter gehalten, der, als die Empörung des alten Euclio in weinerliches Klagen umschlägt, in kurzatmigere anapästische Dimeter und deren Variationsformen übergeht. Unterstrichen wird die Erregung dieses stampfenden Verses durch das Staccato der Sätze, das die Verse in kleinste Einheiten zerlegt. Diese Verse lassen sich schon wegen der gewaltsamen Behandlung der Silbenquantitäten, wegen der häufigen Auflösung der Länge des Anapästs in zwei kurze Silben und der ständigen Diskordanz zwischen Wortakzent und Länge des Anapästs nicht in ruhigem Plauderton vortragen. Fast ebenso wirksam wie die nachdrücklichen Alliterationen im Text wieder durch Fettdruck hervorgehoben sind die zahlreichen Wortwiederholungen. Die im Text gesetzten Akzente, die behelfsmäßig die Lage der Länge des Anapästs signalisieren, zeigen die Abweichung dieses Verstyps vom Prosavortrag (in Klammern die hier besonders zahlreichen Elisionen).

Plaut. Aul. IV 9, 713-726: Euclio klagt über den Verlust seines Goldtopfes:

Peri(i) ínteri(i) óccidi. quó currám? quo nón currám? tene, téne. quem? quís?
nescío, nil vídeo, cáecus e(o) átqu(e) equidém quo e(am) áut ubi sim áut qui sím
nequeó c(um) animó certum ínvestígar(e). óbsecro égo vos, m(i) áuxilió,
715
or(o) óbtestór, sitís et hominém demónstretís, quis e(am) ábstulerít.
quid aís tu? tíbi credére certúm (e)st, nam essé bonum ex vóltu cógnoscó.
quid est? quíd ridétis? nóv(i) omnés, scio fúres éss(e) hic cómplurés,
qui véstit(u) ét cret(a) óccultánt ses(e) atque sedént quasi sínt frugí.
hem, némo habet hór(um)? occídistí. dic ígitur, quís habet? néscis?
720
heu mé miserúm, miseré perií,
male pérditus, péssim(e) ornátus eó:
tantúm gemit(i) ét mali máestitiáeque
hic díes m(i) optúlit, fam(em) et páuperiém.
perditíssimus égo s(um) omníum in terrá;
nam quíd mi opust víta: tántum aurí
perdídi, quod cóncustódiví
sedúl(o)? egomét me défraudávi
animúmque meúm geniúmque meúm;
725
nunc é(o) alií laetíficantúr
meo mál(o) et damnó. pati néqueo.
 

Vernichtet, zu Grunde gerichtet, entseelt bin ich. Wohin soll ich laufen, wohin nicht laufen? Halt ihn, halt ihn! Wen, wer?
Ich weiß es nicht, ich sehe nichts, ich gehe blind, und wohin ich gehe oder wo ich bin oder wer ich bin,
kann ich mit dem Verstand nicht mehr ergründen. Ich flehe euch an, helft mir, ich bitte, ich beschwöre euch, ← 15 | 16 →
und zeigt mir den Menschen, der ihn weggenommen hat.
Was sagst du? Dir will ich vertrauen, denn dass du gut bist, erkenne ich aus deiner Miene.
Was ist, was lacht ihr? Ich kenne euch alle, ich weiß, dass hier eine ganze Menge Diebe sind,
die sich mit weißer Weste und Unschuldsgesicht verstecken und dasitzen, als wären sie Ehrenmänner.
He du, hats niemand von diesen hier? Du hast mich umgebracht. Sag also, wers hat. Du weißt es nicht?
Ach weh mir Armem! Erbärmlich bin ich vernichtet,
bös ruiniert, schlimm zugerichtet gehe ich dahin.
Soviel Seufzen und Unglück und Trauer
hat mir dieser Tag eingebracht, Hunger und Armut.
Der Vernichtetste aller Menschen auf Erden bin ich.
Denn was brauche ich das Leben noch: so viel Geld
habe ich verloren, das ich angestrengt
bewacht habe. Ich habe mich selbst betrogen
und mein Herz und meine Lebenskraft.
Jetzt freuen sich andere daran
zu meinem Unglück und Schaden. Ertragen kann ich das nicht.

Vergils Aeneis soll uns nun das Beispiel des epischen Hexameters bieten. Der Eindruck getragener Würde, den Vergil seiner Verwendung dieses Verstyps verleiht, beruht auf überwiegend vielsilbigen Wörtern und der entsprechend geringen Zahl von Wörtern pro Vers meistens sechs bis sieben, selten fünf oder acht , der weitgehenden Konkordanz von Satz und Vers und der Beschränkung versinterner Satzfugen auf wenige Caesurstellen, meist die Penthemimeres kurz vor der Versmitte. Selten greift ein Satz auf den Anfang des nächsten Verses über, und dann nur mit einem bedeutenden Wort, das effektvoll platziert wird. Auch die Versenden sind gewichtig mit ihrer sehr regelmäßigen Bildung aus zwei Wörtern mit drei und zwei Silben, seltener drei und drei oder vier und zwei Silben. Auch die Position der Wortakzente im Vers folgt einem Schema, das durch seine fast unwandelbare Wiederholung dem Vers einen getragenen Rhythmus verleiht: bis über die Versmitte hinaus steht der Wortakzent im Widerspruch zur Länge des Daktylus, danach fallen sie zusammen. Klangeffekte scheinen weniger gesucht zu sein als im altlateinischen Vers, denn Konsonantenrekurrenzen wie Alliterationen sind selten oder nicht direkt benachbart. Die würdevolle Getragenheit entspricht dem Inhalt des Textes.

Vergil, Aen. I, 223-241: Götterrat nach dem Seesturm

Et iam finis erat, cum Jupiter aethere summo
despiciens mare velivolum terrasque iacentis
litoraque et latos populos, sic uertice caeli
225
constitit et Libyae defixit lumina regnis.
atque illum talis iactantem pectore curas
tristior et lacrimis oculos suffusa nitentis
← 16 | 17 → adloquitur Venus: O qui res hominumque deumque
aeternis regis imperiis et fulmine terres,
230
quid meus Aeneas in te committere tantum,
quid Troes potuere, quibus tot funera passis
cunctus ob Italiam terrarum clauditur orbis?
certe hinc Romanos olim volventibus annis,
hinc fore ductores, revocato a sanguine Teucri,
235
qui mare, qui terras omnis dicione tenerent,
pollicitus quae te, genitor, sententia vertit?
hoc equidem occasum Troiae tristisque ruinas
solabar fatis contraria fata rependens;
nunc eadem fortuna viros tot casibus actos
240
insequitur. quem das finem, rex magne, laborum?  

Und schon war das Ende da, als Jupiter vom hohen Äther auf das segeltragende Meer und die liegenden Länder und die Strände und die weiten Völker schauend sich so im Scheitel des Himmels stellte und die Augen auf das Reich Libyens richtete. Und als er solche Sorgen in seinem Herzen bewegte, sprach ihn traurig und die glänzenden Augen von Tränen nass Venus an: Oh, der du die Geschicke der Menschen und Götter mit ewigen Befehlen lenkst und mit dem Blick schreckst, was konnte mein Aeneas gegen dich so Großes begehen, was konnten meine Trojaner begehen, denen nach Erleiden so vieler Tode der ganze Weltkreis wegen Italien verschlossen ist. Dass gewiss einst von hier die Römer im Laufe der Jahre die Anführer sein werden aus dem wiedererweckten Blut des Teucros, die das Meer, die die Länder alle mit ihrer Macht beherrschen sollten, versprachst du welche Meinung hat dich, Vater, verändert? Über diesen Untergang Trojas und die traurigen Ruinen tröstete ich mich, wenn ich Schicksal gegen Schicksal aufwog. Nun verfolgt dasselbe Schicksal die von soviel Unglück getriebenen Männer. Welches Ende der Mühen gibst du, großer König?

Anders gestaltet Horaz den Hexameter seiner Satiren, obwohl er denselben metrischen Grundregeln folgt. Aber dank häufiger Mono- und Disyllaba, die auch in Folge gehäuft auftreten, liegt die Wortfrequenz pro Vers bei sieben bis acht und kann bis zehn oder elf Wörter ansteigen, so dass umgekehrt die seltenen Fälle von fünf Wörtern pro Vers den Verdacht auf Epenparodie wecken. Viel lebhafter wirkt auch die syntaktische Gliederung des Verses, in dem bis zu fünf Sätze oder Nebensätze untergebracht werden können und für die Position der Satzfugen fast keine Beschränkungen zu gelten scheinen. Entsprechend häufig greifen Sätze auf den nächsten Vers über, ohne dass hiermit die Wörter am Versanfang besonders hervorgehoben zu werden verdienten. Auffällig ist die geradezu saloppe Gestaltung des Versschlusses: statt würdevoller Abrundung durch gewichtige Worte finden wir immer wieder zwei Monosyllaba oder die Kombination von einer und zwei, zwei und einer oder zwei und zwei Silben und als Wortmaterial belanglose Synsemantica wie die hartnäckigen Demonstrativa (ille!) und die Konjunktionen. Auch der würdevolle Wechsel zwischen Diskordanz und Konkordanz von Wortakzent und Länge des Daktylus, der den vergilischen Hexameter prägte, ist gestört: die Konkordanzen beginnen oft schon in der ersten Vershälfte, so dass der ← 17 | 18 → Vers sich der Prosa nähert. Klangrekurrenzen sind so selten und rein sprachbedingt wie trans Tiberim, dass eher schon der Verdacht besteht, sie seien absichtlich gemieden, um jeden Anschein von gravitätischem Nachdruck zu vermeiden. Horaz verwendet den Hexameter, aber gleichzeitig sucht er ihn mit allen Mitteln zu konterkarieren. Wenn wir den Vers nach syntaktischer Gliederung und Sinneinheiten vortragen wollen, müssen wir oft über die Versenden hinweg binden und so den Eindruck, Verse zu rezitieren, weiter unterdrücken. Denn Horaz berichtet hier in scheinbar alltäglichem Erzählton von einem eher unwichtigen, wenn auch ärgerlichen Alltagserlebnis.

Details

Seiten
445
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059892
ISBN (ePUB)
9783653950816
ISBN (MOBI)
9783653950809
ISBN (Hardcover)
9783631666487
DOI
10.3726/978-3-653-05989-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Geschichtsschreibung (römische) Philosophie (römische) Metrik (lateinische) Textinterpretation
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 445 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jürgen Blänsdorf (Autor:in)

Jürgen Blänsdorf lehrte als Professor der Klassischen Philologie / Latinistik an der Universität Mainz. Seine Forschungsgebiete sind: Lateinische Literatur, Sprache und Metrik von der Frühzeit bis zum Ende der Antike, lateinische Dichtung des Mittelalters und der Renaissance, lateinische Inschriften und Verfluchungstexte aus Mainz, Rom u.a.

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Titel: Vorträge und Aufsätze zur lateinischen Literatur der Antike und des Mittelalters
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