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700 Jahre Boccaccio

Traditionslinien vom Trecento bis in die Moderne

von C. Bertelsmeier-Kierst (Band-Herausgeber:in) Rainer Stillers (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 321 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Band werden neue Ergebnisse vorgestellt, die anlässlich des 700. Geburtstages Giovanni Boccaccios 2013 im interdisziplinären Dialog zwischen Literaturwissenschaftlern, Historikern, Sozial- und Medienwissenschaftlern in Marburg ausgetauscht wurden. Vor allem sein Hauptwerk in Volgare, das Decameron (Zehntagewerk, eine geistreiche Anspielung auf das Hexameron, das Sechstagewerk der Schöpfungsgeschichte), hat die Literatur und Kunst Europas nachhaltig beeinflusst. Geprägt von zwei Kulturen, dem kommunalen Leben der Republik Florenz und der französischen Hofkultur Neapels, gelingt es Boccaccio, zuvor getrennte Welten, antike Philosophie und höfische Liebe, lateinische und volkssprachliche Diskurse zusammenzuführen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Boccaccios Welt – Dynamik inmitten allgemeiner Langsamkeit
  • Boccaccio und andere – Toskanische Berichte zur Pest von 1348
  • Boccaccios ‘Decameron’ – Versuch einer Annäherung
  • Parodierung und spielerische Umkehrung mittelalterlicher Erzählliteratur
  • Diana oder Venus: Funktionen der Landschaft im Erzählwerk Boccaccios
  • Der gestürzte Held. Zu Giovanni Boccaccios ‘Filostrato’
  • Boccaccio in Stein am Rhein
  • Stoische Philosophin – christliche Dulderin – brave Gattin. Die europäischen Metamorphosen von Boccaccios Griselda
  • Wahrheit und Erzählen. Boccaccios noveletta der drei Ringe und ihre Umbildung durch Lessing und Kleist
  • Rahmen und Erzählung. Vom ‘Decameron’ zu Hypertext und Computerspiel
  • Pier Paolo Pasolinis ‘Decameron’ (1971). Ein cinematographischer Beitrag zur Kulturkritik
  • Abbildungsnachweise
  • Anschriften der Autorinnen und Autoren
  • Register
  • Handschriften und Urkunden
  • Frühe Drucke
  • Personen
  • Reihenübersicht

Vorwort

Nur wenige Dichter haben die europäische Literatur so beeinflusst wie Giovanni Boccaccio, der 1313 in Certaldo (nahe bei Florenz) geboren wurde. Während die Zeitgenossen, vor allem nördlich der Alpen, besonders sein lateinisches Œuvre schätzten und Boccaccio hier, so etwa vom Nürnberger Frühhumanisten Hartmann Schedel in seiner viel gelesenen Weltchronik (1493), als hohberümbter poet und philozophus gerühmt wurde, hat die Neuzeit Boccaccio vorrangig als Dichter des ‚Decameron‘ wahrgenommen. Im 14. und 15. Jahrhundert erfreuten sich jedoch auch seine frühen italienischen Dichtungen namentlich in Frankreich und England einer größeren Wertschätzung. Erste literarische Einflüsse zeigen sich schon bei Geoffrey Chaucer, der Boccaccios Texte offenbar auf seinen Italienreisen 1372/73 und 1378 kennengelernt hatte. Um 1400 adaptierte Christine de Pizan bereits einzelne Novellen aus dem ‚Decameron‘ für ihr berühmtes Frauenbuch ‚La Cité des Dames‘, denen dann 1414 mit den ‚Cent Nouvelles‘ die erste französische Gesamtübertragung Laurents de Premierfait folgen sollte. Auch ins Deutsche (Erstdruck 1476) und Spanische (Erstdruck 1486) wurde Boccaccios ‚Decameron‘ übersetzt, sodass bis 1500 neben seinen lateinischen Werken zumindest auch sein Novellenzyklus – vollständig oder in Einzeladaptionen – in zahlreichen europäischen Sprachen zur Verfügung stand.

In der frühen Neuzeit haben z. B. La Fontaine, Cervantes und Shakespeare Boccaccio rezipiert, aber auch deutsche Dichter ließen sich immer wieder vom ‚Decameron‘ inspirieren. Gotthold Ephraim Lessing schrieb seine berühmte Ringparabel nach der dritten Novelle des ersten Tages; ebenso zeigt Goethes ‚Unterhaltung deutscher Ausgewanderten‘ in der Rahmenerzählung deutliche Einflüsse des italienischen Vorbilds. Das hinderte Goethe aber nicht, seiner Schwester Cornelia am 6.12.1765 zu schreiben: Sonst lies italienisch was Du willst, nur den Decameron von Boccaccio nicht. Denn das Werk galt im 18. Jahrhundert – insbesondere für Damen – als unschicklich. Die erotischen Novellen, vor allem diejenigen, die am siebten Erzähltag unter der Herrschaft Dioneos in der valle delle donne erzählt werden, hatten das ‚Decameron‘ in Verruf gebracht. So ließ es der Papst bereits im 16. Jahrhundert auf den Index der verbotenen Bücher set ← 7 | 8 → zen, aber auch das puritanische England sowie die französische Aufklärung hatten Schwierigkeiten mit diesem Werk und seinem Dichter, der in einem Atemzug sowohl über erotische Eskapaden als auch erhabene Tugenden reden konnte.

Kaum ein anderer Autor hat in der Neuzeit so polarisiert wie Boccaccio: Den einen galt er als Verderber von Sitte und Moral, als „Machiavelli des Schlafzimmers“, andere wiederum schätzten die Eleganz, mit der Boccaccio auch erotischste Dinge literarisieren konnte. So verehrte Hermann Hesse Boccaccios natürliche Sinnlichkeit, bewunderte seine Libertinage und seinen Spott gegen Bigotterie und Heuchelei. Nicht verwundern kann daher, dass Boccaccio auch in der bildenden Kunst, in der Musik, in Drama, Oper und Operette sowie im Film bis heute gegenwärtig ist.

Der vorliegende Band, der anlässlich Boccaccios 700. Geburtstages auf eine Marburger Vortragsreihe im Wintersemester 2013/14 zurückgeht, versucht einige Facetten der immensen Wirkungsgeschichte einzufangen, die der Dichter vom Trecento bis in die Moderne entfaltet hat. Dies kann naturgemäß nur punktuell gelingen. Ausgeblendet bleibt in den elf Beiträgen weitgehend der lateinische Boccaccio; diese Entscheidung fiel umso leichter, als parallel zur Marburger Vortragsreihe die Universität Münster Boccaccios lateinische Werke und ihre Wirkung in einem internationalen Kolloquium Der lateinische Boccaccio / Il Boccaccio latino vom 7.-8. November 2013 vorgestellt hat.

Die nachfolgenden Beiträge versuchen, aus der Sicht verschiedener Fächerkulturen die vielfältigen Traditionslinien, die von Boccaccio bis in die Moderne gehen, sichtbar zu machen. Im Fokus steht hierbei Boccaccios Œuvre in volgare, vor allem das ‚Decameron‘, das am stärksten und nachhaltigsten die europäische Literaturlandschaft geprägt hat.

Eröffnet wird der Band mit zwei Beiträgen, die Boccaccio aus seiner Zeit, dem Trecento, heraus betrachten und hierbei zwei wichtigen kulturgeschichtlichen Fragestellungen nachgehen: PETER BORSCHEID analysiert Boccaccios Welt unter dem Aspekt „Dynamik inmitten allgemeiner Langsamkeit“, während KLAUS BERGDOLT die Rahmenerzählung des ‚Decameron‘ vor dem Hintergrund toskanischer Berichte zur Pest von 1348 untersucht.

Die nachfolgenden Beiträge erhellen, dass Boccaccio nicht nur ein literarischer Repräsentant der età comunale, sondern zugleich ein ausgesprochen ← 8 | 9 → europäischer Dichter war, der ebenso aus der französischen Hofkultur wie der antiken Philosophie vielfache Impulse erhielt. Während CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST diese kulturelle Transformation an der Gesamtstruktur des ‚Decameron‘ aufzeigt, führt BODO GUTHMÜLLER sie exemplarisch an der Novelle Nastagios (Dec. V,8) aus, zu der er auch den berühmten Bilderzyklus Sandro Botticellis heranzieht.

Mit dem italienischen Frühwerk beschäftigen sich intensiver FRIEDRICH WOLFZETTEL, der die „Funktionen der Landschaft“ in Boccaccios italienischen Dichtungen analysiert, und RAINER STILLERS, der Boccaccios Bearbeitung einer Episode des Troja-Romans untersucht und nach den Ursachen für die Dekonstruktion des Heldenbildes im ,Filostrato‘ fragt.

Verwandlung und Gebrauch von Boccaccios Novellen in der frühen Neuzeit stellen drei Beiträge näher vor: MICHAEL CURSCHMANN zeigt auf, wie um 1520 im Bildmedium, der Fassadenmalerei am Haus „Zum weißen Adler“ in Stein am Rhein, zwei Novellen des ‚Decameron‘ (IV,7 und V,6) genutzt werden, um als positive Exempel der Gerechtigkeit in der politischen Auseinandersetzung mit Kaiser Maximilian öffentlich wirksam zu werden. MARIO ZANUCCHI geht den Deutungen der ultima storia des ‚Decameron‘, der viel diskutierten Griselda-Novelle (X,10), nach. Während bei Boccaccio u. a. Einflüsse der Stoa nachzuweisen sind, verwandelt Francesco Petrarca seine lateinische ‚Griseldis‘ in ein geistliches exemplum. Seine Fassung, die sich rasch in ganz Europa verbreitete, hat ein enormes Wirkungsspektrum entfaltet: vom Predigt-Traktat, über Chaucers ‚Clerk’s Tale‘ bis zur Tradierung als Ehelehre, die sich vor allem im Reformationszeitalter als vorherrschendes Deutungsmuster etablierte. Der Rezeption einer nicht minder berühmten Novelle geht BERNHARD GREINER nach. Er analysiert Lessings Ringparabel vor dem Hintergrund der dritten Novelle des ersten Tages aus Boccaccios ‚Decameron‘.

Die letzten beiden Beiträge sind schließlich der Moderne vorbehalten: ANGELA KREWANI und ANN-MARIE LETOURNEUR stellen die Struktur des ,Decameron‘ in den Kontext der digitalen Medien, insbesondere des Hypertextes; INGO HERKLOTZ behandelt die wohl berühmteste Verfilmung des 20. Jahrhunderts, Pier Paolo Pasolinis ‚Decameron‘ von 1971, und geht hierbei besonders auf die Bezüge zur Kunstgeschichte ein.

Wir danken allen, die an dem Gelingen der Vortragsreihe mitgewirkt haben, insbesondere den Referentinnen und Referenten sowie dem Mar ← 9 | 10 → burger Universitätsbund, mit dessen finanzieller Unterstützung Reise- und Druckkosten bestritten werden konnten. Bedanken möchten wir uns auch bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere bei Robin Kuhn und Sinnika Heims, die den Band für den Druck vorbereitet haben.

Marburg und Berlin,
Mai 2015Christa Bertelsmeier-Kierst u. Rainer Stillers

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Peter Borscheid

Boccaccios Welt – Dynamik inmitten allgemeiner Langsamkeit

Schriftsteller sind Kinder ihrer Zeit und ihrer unmittelbaren Umgebung. So hat auch das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld, in dem Boccaccio groß geworden ist und sich bewegte, den angehenden Literaten nicht unberührt gelassen, hat ihn bis zu einem gewissen Grad geformt, zumal er in Florenz, in der wirtschaftlich dynamischsten Region des damaligen Europas lebte und zwar als Sohn eines Kaufmanns, des dynamischsten und innovationsgierigsten Berufs der damaligen Zeit. Der Dynamik, Innovationsbesessenheit und der Beschleunigungslust des näheren und weiteren Umfeldes von Boccaccio gelten die folgenden Betrachtungen.

Wenn der Historiker von Dynamik spricht, dann meint er Beschleunigung und Fortschritt. Er hält Ausschau nach jenen Kräften, die für diese Beschleunigung des Wirtschaftens sowie der Lebens- und Arbeitswelten verantwortlich sind. Dieser Ansatz eröffnet in erster Linie für die Zeit seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine Fülle an Erkenntnissen, als die Industrialisierung eine Vielzahl an Beschleunigungskräften freisetzte und die moderne Welt auf Beschleunigung umprogrammierte. Ihre Antriebskräfte oder auch Agenten waren und sind bis heute die Technik, die den Personen-, Güter-, Nachrichten- und Waffentransport beschleunigte, ebenso die Produktion mit Hilfe von Produktionsmaschinen, Katalysatoren und Rechenmaschinen. Zweitens erfolgte die Beschleunigung durch Organisation, d. h. durch Arbeitsteilung und eine ausgeklügelte Betriebsorganisation, und drittens durch Psychologie, d. h. durch Platzierung von Beschleunigungsimperativen in der Lebens- und Arbeitswelt oder im Verkehrssektor. Seit dem 19. Jahrhundert entfalten diese Beschleunigungsagenten ihre Wirksamkeit in einem kulturellen Umfeld, das immer mehr in Richtung einer Kultur der Beschleunigung tendierte. Bezeichnend dafür sind der Aufstieg des Rekordsports, die gewaltigen Investitionen in ihn sowie die Hochbewertung von Rekordhaltern, ← 11 | 12 → obwohl deren Leistungen nach den Zielvorgaben der Arbeitsgesellschaft ohne jeden praktischen Wert sind.1

Dieser Ansatz liefert aber auch für die Zeit vor der Industrialisierung gewichtige Erkenntnisgewinne. Mit ihm lässt sich der Weg hin zur Industrialisierung ebenso analysieren wie die weitgehend andersartige Welt des Mittelalters, die im Vergleich zur Moderne als eine Welt der Langsamkeit erscheint, durchsetzt und geprägt von einer Kultur der Langsamkeit, Behäbigkeit und des Zeitvergessens. Mit Blick auf die Lebenswelt von Boccaccio lässt sich aber auch zeigen, wie sehr diese sich abhob von der im übrigen Europa weitverbreiteten Windstille und Innovationsfeindschaft, wie sehr diese Welt Norditaliens mit ihren Fernkaufleuten sich unterschied von der zumeist agrarischen Welt des übrigen Kontinents.

I.Inmitten einer Welt der Langsamkeit

Für die große Masse der Bevölkerung im spätmittelalterlichen Europa versprachen Langsamkeit und Konstanz viel mehr Vorteile als Schnelligkeit und Dynamik. Warum durch das Land hasten, wenn die Widerspenstigkeit des Raums jede Beschleunigung mit Entkräftung bestrafte? Warum schneller arbeiten, wenn die Qualität darunter litt und die Nachfrage mit der vermehrten Produktion nicht Schritt hielt? Es war die Natur, die mit Tag und Nacht und der Abfolge der Jahreszeiten den Rhythmus vorgab. Sie war es, die mit ihrem gemächlichen Wachstumstempo den Menschen als das große Vorbild diente. Das Getreide benötigte Monate, um reif zu werden, das Vieh sogar Jahre, um schlachtreif zu werden. Die Kinder benötigten noch länger, um erwachsen zu werden. Der Aufgang der Sonne wurde als Aufforderung verstanden, mit der Arbeit zu beginnen, das Erwachen von neuem Leben im Frühjahr als Zeichen, bestimmte Feldarbeiten in Angriff zu nehmen.

Diese Naturorientierung fand ihren Niederschlag u. a. in den Zeit- und Entfernungsangaben: bei Sonnenaufgang, bei Einbruch der Nacht, eine ← 12 | 13 → Tagesreise weit. Sie führte zudem zu einer zyklischen Zeitvorstellung entsprechend dem Kreislauf der Jahreszeiten – alles kehrt wieder, Sommer wie Winter, die mageren und die fetten Jahre. Das Leben glich einer Tretmühle. Wer schneller lief, verschwendete lediglich seine Kraft, kam seinem Ziel aber nicht näher. Die Welt des Mittelalters ließ sich von der Natur Rhythmus und Schnelligkeit diktieren, weil diese Natur die eigentliche Ernährerin der Menschen war. Sie gab allen das Notwendigste, und das konnten letztlich weder Arbeit noch größere Eilfertigkeit allein garantieren. Auch mit ihrer Zeitgliederung ordnete sich die Gesellschaft der Natur unter und versuchte nicht, sich zum Herrn der Zeit aufzuschwingen. Die Menschen bemühten sich nicht, die Zeit als ausbeutbare Ressource zu nutzen.

In der Landwirtschaft strebten die Menschen nicht danach, durch schnelleres Arbeiten die anstehende Arbeit zu beenden, da Arbeit niemals endete oder niemals zu enden schien. Der Handwerker seinerseits hatte seine Arbeit so gut wie möglich zu machen, nicht so schnell wie möglich. So ist denn auch die Aufteilung des gesamten Gewerbes in einzelne Zünfte nicht als Arbeitsteilung zu verstehen, nicht als Beschleunigungsinstrument, sondern als Spezialisierung, um das jeweilige Handwerk so gut wie möglich, meisterlich zu beherrschen. Das heißt aber nicht, dass die Menschen ihr Tun niemals beschleunigten. Bisweilen zwang die Natur sie dazu, wenn Sturm und Gewitter aufzogen und die Ernte noch nicht im Trockenen war. Hier ging es ums Überleben. Bei dieser Temposteigerung wurde die Zeit nicht als ein knappes Gut erlebt, sondern als Orientierung an zu erledigenden Aufgaben. Der französische Historiker MARC BLOCH hat das mittelalterliche Zeitverständnis als “weitgehende Gleichgültigkeit der Zeit gegenüber” charakterisiert.2

Das im Spätmittelalter allgemein verbreitete Credo der Zeitlosigkeit und Langsamkeit fand seinen Niederschlag in Lebensregeln, Normen und Gesetzen, also in Institutionen. Gemäß dem ewigen Kreislauf der Natur wurde nur dem gesellschaftliche Achtung zuteil, der beharrlich und beständig agierte und an den Rezepten der Väter festhielt, nicht dem forschen, unberechenbaren Neuerer. Gleichzeitig nahmen die Zunftordnungen die unruhigen Innovatoren an die Kandare. Kein Meister sollte sich mit verän ← 13 | 14 → derten Produktionsmethoden oder gar technischen Apparaten einen Vorteil zu Lasten der übrigen Zunftmitglieder verschaffen. Zünfte und Stadtoberste glaubten, mit dem Verzicht auf arbeitssparende Technik das Problem der Arbeitslosigkeit und Armut besser in den Griff zu bekommen.3 Ansehen genoss der Einheimische, der fest in seiner Heimat verwurzelt war, nicht der rastlos durch die Welt ziehende Fremde, der Vagabund. Langsamkeit verlieh geradezu eine feierliche Würde. Der Geschäftsmann der Renaissance schritt bedächtig dahin, niemals mit eiligen Schritten. WERNER SOMBART zitiert einen Unternehmer aus dem Florenz des 15. Jahrhunderts, der meint, er habe noch nie einen fleißigen Menschen anders als langsam gehen sehen.4

Die Kultur der Langsamkeit wirkte sich zudem auf die Gestaltung des öffentlichen Raums aus, der bewusst so angelegt war, dass er jeden Beschleunigungsversuch abbremste und erstickte. Die Architektur der mittelalterlichen Stadt gebot mit ihren verwinkelten Gassen und Stadtmauern Stillstand. Wie die Städte war auch die Landschaft auf Bremsung angelegt, und die Bevölkerung nutzte die hohen Reibungskräfte des Raumes als Schutzwall. Unwegsames Gelände bot eine gewisse Sicherheit vor marodierenden Söldnern, plündernden Heerscharen und diebischen Vagabunden. Dagegen zeigten gut ausgebaute Straßen Räubern und Banditen lediglich, wo etwas zu holen war und wie sie am schnellsten wieder verschwinden konnten. Noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein sahen einige Staaten in schlechten Wegeverhältnissen den besten Schutz vor dem schnellen Vordringen feindlicher Truppen. Im Mittelalter und auch noch später ließen Obrigkeit und Bevölkerung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das gut ausgebaute Straßensystem des Römischen Reiches verfallen. Je schlechter die Straßen und je weniger Brücken, umso mehr verdienten die Einheimischen an den Durchreisenden mit Übernachtungen, Reparaturen, Dienstleistungen und Zöllen. Der erfahrene Reisende nahm sich Balken, Reisigbündel und Stricke mit auf den Weg, um die in Sand oder Schlamm versunkene oder umgekippte Kutsche wieder flott zu machen, und er ließ vor Beginn der Reise ← 14 | 15 → eine Messe lesen. Zu Wasser und zu Land verlängerten die zahlreichen Zollstellen die Reise zusätzlich. Ende des 14. Jahrhunderts zählte man am Rhein 46 Zollstellen, an der Donau in Niederösterreich ganze 64 und an der Loire zwischen Roanne und Nantes sogar 77.5 Auf den Straßen und Flüssen des Mittelalters kam der Reisende nur entsetzlich langsam voran.

Kurzum: Im Vergleich zu der Zeit seit Beginn der Industrialisierung suchte die agrarische und gewerbliche Welt des Mittelalters in Tradition und Bedächtigkeit ihr Heil. Bodenständigkeit und Langsamkeit sind älter als Mobilität und Hast.

Dennoch verzeichnete auch das Mittelalter einzelne zeitlich begrenzte Beschleunigungsphasen, verbunden mit technischen und organisatorischen Neuerungen. Dies gilt u. a. für das 13. und frühe 14. Jahrhundert bis zum Ausbruch der großen Pest, die seit 1347 Europa heimsuchte. Sie wiederum unterbrach die wirtschaftliche Fortentwicklung des Kontinents und war der Auslöser für einen tiefgreifenden Umschwung von Wachstum zu Schrumpfung. Manche Historiker sprechen von der “Depression der Renaissance”, ausgelöst durch den drastischen Bevölkerungsrückgang, der wiederum in Hungersnöten und der Beulenpest seine Ursache hatte. Gleichzeitig führte die Erschöpfung der Silberbergwerke Europas zu einer Verknappung der Zahlungsmittel und Kredite.6

Details

Seiten
321
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059809
ISBN (ePUB)
9783653950939
ISBN (MOBI)
9783653950922
ISBN (Hardcover)
9783631666395
DOI
10.3726/978-3-653-05980-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Renaissance Humanismus Rahmenerzählung Europäische Rezeption
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 321 S., 17 farb. Abb., 11 s/w Abb.

Biographische Angaben

C. Bertelsmeier-Kierst (Band-Herausgeber:in) Rainer Stillers (Band-Herausgeber:in)

Christa Bertelsmeier-Kierst studierte Germanistik, Anglistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn; es folgten Promotion und Habilitation. Nach ihrer Lehrtätigkeit in Köln und Bonn ist sie Professorin in Marburg (Schwerpunkt: Mittelalter u. Renaissance). Rainer Stillers studierte Romanistik und Germanistik in Düsseldorf; es folgten Promotion und Habilitation. Der Autor war Professor in Konstanz (Schwerpunkt: Italianistik/Neulatein) und Marburg (Schwerpunkt: Italienisch/Französisch) und ist Vorsitzender der Deutschen Dante-Gesellschaft.

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