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Gernika / «Guernica» als Erinnerungsort in der spanischsprachigen Literatur

von Benjamin Inal (Autor:in)
©2015 Dissertation 361 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch befasst sich mit der Repräsentation des Erinnerungsortes Gernika in der spanischsprachigen Literatur. Die Bombardierung der baskischen Kleinstadt im Jahre 1937 stellt ein herausragendes Ereignis des Spanischen Bürgerkriegs dar. Für die Künste lässt sich an Pablo Picassos Gemälde Guernica (1937) und dessen Rezeptionsgeschichte ablesen, zu welchem Politikum die Bombardierung mit der Zeit avancierte. Der Autor untersucht erstmalig und umfassend die Repräsentation des Ereignisses in spanischsprachigen Dramen- und Prosatexten. Seine Analysen machen weite kulturgeschichtliche Kontexte zugänglich und illustrieren, inwiefern die Zerstörung Gernikas für die Zeit von 1937 bis heute einen wirkungsvollen Erinnerungsort für baskische, spanische und transnationale Bezugsgruppen darstellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Kapitel 1: Einleitung
  • Kapitel 2: Theoretische Perspektiven: Erinnerungen, Diskurse, Divergenzen und das Medium Literatur
  • 2.1 Künstlerisch erzeugte Welten und Wirklichkeiten
  • 2.2 Erinnerungskulturelle Konfliktpotentiale
  • 2.2.1 Gedächtnisse – Erinnerungen
  • 2.2.2 Identitäten
  • 2.2.3 Über den Zusammenhang von Erinnerungen und Identitäten
  • 2.2.4 Erinnerungskonkurrenzen – Zur Frage nach Regionalität, Nationalität und Transnationalität von Erinnerungskulturen
  • 2.2.5 Kosmopolitische Erinnerungen
  • 2.3 Literarisches Wissen von der Vergangenheit. Zur Bedeutung des Erinnerungsmediums Literatur
  • Kapitel 3: Der Erinnerungsort Gernika zwischen regionaler und transnationaler Bedeutung
  • 3.1 Die baskische Unabhängigkeits- und Sonderrechtssymbolik Gernikas
  • 3.2 Auf der Suche nach der ‚historischen Wahrheit‘. Deutungskämpfe um die Bombardierung Gernikas in der Historiographie
  • 3.3 Zur Universalisierung des Erinnerungsortes Gernika. Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Picassos Guernica
  • 3.4 Fazit: Die kosmopolitische Dimension des Erinnerungsortes Gernika
  • Kapitel 4: Der Erinnerungsort Gernika in Texten der spanischsprachigen Literatur
  • 4.1 Sombra de héroes (1937) von Gérman Bleiberg. Theater in Zeiten des Krieges
  • 4.2 Exilliteratur im Zeichen der Komik des Absurden: Fernando Arrabals Guernica (1959)
  • 4.3 Luis de Castresanas El otro árbol de Guernica (1967). Eine regimekonforme Enttabuisierung des Tabus
  • 4.4 Guernica (1969) von Jerónimo López Mozo. Anti-Franquismus transmedial
  • 4.5 ‚Yo quería llevarle aquel fuego porque era suyo…‘ Erinnerungen des baskischen Nationalisten Joseba Elosegi in Quiero morir por algo (1971)
  • 4.6 Antonio Saura: Contra el Guernica (1981; 1992; 1997)
  • 4.7 Wenn die Vergangenheit kritisch die Gegenwart beleuchtet. Gernika, un grito. 1937 (1994) und El chófer del Teniente Coronel von Richthofen toma decisiones (2003) von Ignacio Amestoy
  • 4.8 Das Verschwinden der Zeitzeugen und die Weitergabe von Erinnerungen. El canto de los grillos (2003) von Edorta Jiménez
  • 4.9 Bernardo Atxaga: De Gernika a Guernica. Marcas (2007). Essayistische Reflexionen über 70 Jahre Erinnerungsgeschichte
  • Kapitel 5: Fazit
  • Abkürzungen
  • Literatur

← 8 | 9 → Kapitel 1: Einleitung

Also kann ich immer nur von etwas sprechen, das von
etwas anderem spricht und so weiter, während das
letzte Etwas, das wahre, niemals da ist?

Umberto Eco Der Name der Rose

Gernika/Guernica1 ist (beinahe) überall. So könnte ein Fazit nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema lauten. Beispielsweise ist im Berliner Stadtteil Zehlendorf seit Ende 1998 der Guernica-Platz zu finden, eine Referenz auf die Zerstörung der für das Baskenland symbolträchtigen Kleinstadt im Jahre 1937, worüber ein Schild in deutscher Sprache vor Ort informiert. Für viele der Millionen Besucherinnen und Besucher der Hauptstadt ohne deutsche Sprachkenntnisse wäre dieser Ort jedoch höchtswahrscheinlich als Hommage an eines der bekanntesten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts zu verstehen, nicht aber als Form der Erinnerung an die Bombardierung der baskischen Kleinstadt. Ihnen würde wohl auch die Verbindung zur Spanischen Allee entgehen, an deren Kreuzung zur Breisgauer Straße sich der Guernica-Platz befindet. Die ehemalige Wannseestraße wurde im Juni 1939 in Spanische Allee umbenannt, als (zu damaliger Zeit inoffizielle) Kriegsheimkehrer der ‚Legion Condor‘ während einer Siegesparade feierlich in Berlin empfangen wurden. Hitlers ‚Legion Condor‘ kämpfte aufseiten der Aufständischen in Spanien und war unter anderem für die Bombardierung Gernikas am 26. April 1937 mitverantwortlich, als knapp drei Viertel der ← 9 | 10 → Stadt in Schutt und Asche gelegt wurden. Erst seit Mitte 2009 informieren an einer dem Guernica-Platz gegenüberliegenden Bushaltestelle zwei umfangreichere Informationstafeln über den Zusammenhang zwischen der Intervention Nazi-Deutschlands in Spanien während des Bürgerkriegs, der Zerstörung des emblematischen baskischen Ortes und der Entstehung von Pablo Picassos monumentalem Gemälde Guernica.

Was sagt dies über den Erinnerungsort Gernika aus? Zum einen treten Aspekte wie Konkurrenzen und das Ringen um diskursive Hegemonie im Zusammenhang von Erinnerungskulturen und insbesondere im Zusammenhang von Gernika zutage: Die Spanische Allee als (heute freilich größtenteils funktionsloses) Relikt einer nationalsozialistischen Erinnerungskultur findet durch die Einweihung des Guernica-Platzes ihre Erwiderung; ihrer ehemaligen Funktion einer erinnernden Überhöhung von Kriegsteilnehmenden wird ein Gegen-Erinnern zur Seite gestellt, das die Interventionen als Kriegsverbrechen brandmarkt.

Anhand des Platzes verdeutlicht sich außerdem, dass es sich im Falle Gernikas um einen binationalen Erinnerungsort handelt, schließlich waren es vor allem deutsche Kriegsverbände, die die baskische Stadt während des in ganz Spanien tobenden Bürgerkriegs bombardierten. Binational, heißt das jedoch spanisch-deutsch oder baskisch-deutsch? Dieser Frage nachzugehen, eröffnet auch einen Blick auf erinnerungskulturelle Einrichtungen und Akteure: Der Platz wurde in Zusammenarbeit mit dem in Berlin ansässigen ‚deutsch-baskischen Kulturverein Gernika‘ (offizieller Name heute: Euskal Etxea Berlin/Kulturverein Gernika) eingeweiht. Während von deutscher Seite neben dem Thema Gernika die gesamte Intervention Deutschlands während des Spanischen Bürgerkriegs als wichtiger vergangenheitspolitischer Bezugspunkt erscheint, ist aus baskischer Sicht das Thema so wichtig, weil nicht irgendeine baskische Stadt zerstört wurde, sondern die ‚heilige Stadt der Basken‘2, die wie keine andere baskische Tradition und Freiheit repräsentiert. Von einem binationalen Erinnerungsort zu sprechen, beinhaltet somit eine unbestreitbare Ambiguität.

Um auf mögliche internationale Besucherinnen und Besucher zurückzukommen, an die sich die Erinnerungskultur ‚auf der Straße‘ im touristisch stark frequentierten Berlin selbstredend auch richtet: aus ihrer Perspektive entfaltet der Name ‚Guernica-Platz‘ Wiedererkennungswert und somit Sinnhaftigkeit wohl vor allen Dingen durch seine Referentialität auf das Anti-Kriegsbild des 20. Jahrhunderts schlechthin, Picassos Guernica. Und selbst wer lateinische Schriftzeichen nicht versteht, für die oder den ist schließlich das Gemälde, das auf den ← 10 | 11 → Tafeln an der Bushaltestelle umgeben von deutschsprachigenen Informationstexten abgebildet ist, ‚lesbar‘ und somit beispielsweise die verallgemeinerungsfähige Semantik der Gewaltanklage des Bildes rezipierbar.

Die wichtige Frage nach der Beziehung zwischen Inhalt und Form, die hier bereits anklingt, möge vorerst hintangestellt bleiben. Zunächst soll es um das Paradox gehen, das sich vermeintlich aufspannt, wenn einerseits der ausgewiesene Kenner baskischer Kultur- und Erinnerungsgeschichte Ludger Mees (2003, 62) schreibt, Gernika sei „der baskische Erinnerungsort par excellence“, und wenn andererseits etwa Gijs van Hensbergen (2005, 7) von Picassos weltweit bekanntem Gemälde Guernica als „universal symbol“ spricht.3 Paradox erscheinen die Äußerungen zunächst, wenn man der Überzeugung folgt, dass Erinnerungsorte – anschließend an Pierre Noras lieux de mémoire – stets an konkrete Kollektive gebunden sind und eine Abgrenzung zu anderen Kollektiven markieren, dass sie also einem ‚Entweder-oder‘ folgen.4 Eines der Ziele der vorliegenden Studie ist es in diesem Zusammenhang, diese Logik, welche die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung lange Zeit bestimmt hat, aufzubrechen und Gernika als einen Erinnerungsort zu verstehen, der nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene gruppenbezogene Sinnstiftungsbedürfnisse bedient, sondern auch auf regionaler und transnationaler Ebene; der sich – anders gesagt – durch Partikularisierungs- und Universalisierungstendenzen auszeichnet.5

← 11 | 12 → Diesem Verständnis folgend sollen in der vorliegenden Studie Dramen- und Prosatexte hinsichtlich ihrer Deutungsweisen des Erinnerungsortes Gernika untersucht werden, die mit sozialen Gruppen(interessen) auf den Ebenen des Regionalen, Nationalen und Transnationalen verwoben sein können. Dabei besteht kein Widerspruch zur Begrenzung des Textkorpus auf spanisch- und baskischsprachige Literatur – sofern letztere in spanischer Übersetzung vorliegt. Denn die Dialektik von Partikularisierungs- und Universalisierungstendenzen findet sich beispielsweise selbst innerhalb der baskischen Literatur.6 Es ist geradezu ein Beleg für die tiefgreifende Dialektik des Erinnerungsortes, dass es für die Veranschaulichung von Deutungsdiskrepanzen nicht notwendig ist, beispielsweise einen baskischen Text einem Text mit deutlich anderem Entstehungskontext gegenüberzustellen, beispielsweise dem Roman Guernica (2008) des US-amerikanischen Autors Dave Boling. Was die Textauswahl anbelangt, so liegt hiermit die erste umfassende Studie vor, welche Texte der spanischsprachigen Literatur aus der Zeit zwischen ← 12 | 13 → 1937 und 2007 in Hinblick auf deren Deutungen der Bombardierung Gernikas untersucht.7

Was wird dabei unter Deutung verstanden und welches Erkenntnisinteresse wird im Rahmen der Analyse literarischer Deutungen des Erinnerungsortes verfolgt? Deutungen im Sinne spezifischer und historisch verankerter Zuschreibungen von (vor allem symbolischer) Bedeutung in Bezug auf die Bombardierung Gernikas sind aus gedächtnistheoretischer Sicht Bedingung für die anhaltende Funktionalität des Erinnerungsortes in gesellschaftlichen Kontexten.8 Mögen heute auch Geschichtsarchive hindernislos zugänglich oder Picassos Gemälde umfassend untersucht worden sein, es bedarf doch der ständigen diskursiven Reaktivierung von Erinnerungsbeständen, um diese ‚am Leben‘ bzw. ‚wach‘ zu halten.9 Das heißt, Vergangenheit wird immer wieder neu vergegenwärtigt, auf die Gegenwart bezogen und mit gegenwärtigen Sinnstiftungsbedürfnissen in Einklang gebracht. Damit geht unweigerlich die Wandelbarkeit von Erinnerungssemantiken einher, denn in dem Maße, wie sich Gruppenbedürfnisse ändern, müssen Erinnerungsversionen als dynamisch begriffen werden, als „palimpsestartig“ (Huyssen 2009, 31) in dem Sinne, dass die Bedeutungen von Erinnerungsbeständen einem permanenten Neu- und Umschreiben unterliegen und vormalige Semantiken mehr oder weniger deutlich hindurchschimmern lassen.

← 13 | 14 → Entscheidend für das Interesse dieser Arbeit sind jedoch nicht ausschließlich die sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen vermittels bestimmter literarischer Texte, sondern vielmehr, welche Prozesse, Strukturen und Faktoren für die Entstehung von Bedeutungen des Erinnerungsortes Gernika in historisch jeweils unterschiedlichen Momenten bedingend waren. Leitend für das Erkenntnisinteresse ist somit die Frage, welche gesellschaftlich-diskursiven Rahmenbedingungen spezifische Aussagen in Bezug auf Gernika jeweils präfiguriert und ermöglicht haben. Dieses nicht leicht zu fassende Verwobensein des literarischen Textes mit außerliterarischen Zusammenhängen, Wissensfeldern und Machtbeziehungen soll im Folgenden insbesondere mit Hilfe des Begriffs des ‚kulturellen Wissens‘ analytisch zugänglich gemacht werden. Wichtig ist zu betonen, dass Wissensbestände in diesem Zusammenhang weniger auf ihre Verifizier- oder Falsifizierbarkeit hin zu befragen sind, sondern vielmehr auf ihre Funktionalität im Kontext unterschiedlicher (konvergierender und divergierender) Diskurse. In diesem Sinne schreibt Joseph Vogl (2004, 15) im Anschluss an Foucault:

>Wissen< ist also weder Wissenschaft noch Erkenntnis, es verlangt vielmehr die Suche nach operativen Faktoren und Themen, die auf verschiedenen Territorien wiederkehren, jeweils eine konstitutive Position darin besetzen und doch keine Einheit und keine Synthese des Gegenstands unterstellen. Und dieses Wissen wäre also ein Bereich, auf dem unvergleichbare Redeweisen, Äußerungsformen und Textsorten miteinander korrespondieren.

Vermag die vorliegende Studie auch Momente der Kanalisierung und Lenkung von Wissen, der Strukturierung von Aussagemöglichkeiten oder der Subversion dominanter Vergangenheitsversionen zu konstatieren, so verwirft sie doch – entsprechend dem vorangehenden Zitat – die Annahme einer souveränen zentralen Schaltstelle der Macht. Es geht vielmehr um historisch jeweils konkrete ‚rhizomatische‘ Beziehungsgeflechte mit Überlagerungen und Konvergenzpunkten ohne übergeordnete Einheit – die freilich doch nie jenseits von Interessenkonflikten und Machtbeziehungen existieren.10

Hinleitend zu diesen Zusammenhängen findet im Theoriekapitel 2 dieser Studie eine Auseinandersetzung mit Formen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit statt. Welches Wechselverhältnis besteht aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive zwischen Individuen, medialen Repräsentationsformen ← 14 | 15 → und dem überindividuellen, verbindenden Rahmen, der je nach Kontext gemeinhin ‚Kultur‘, ‚Gesellschaft‘ oder ‚Wirklichkeit‘ genannt wird? Insbesondere wird zu fragen sein, welche Verbindungslinien zwischen gesellschaftlichen Umgangsformen mit historischer Vergangenheit und dem identitätsstiftenden Selbstverständnis von Gruppen bestehen. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass Erinnerungskulturen und Kollektividentitäten in hohem Maße diskursive Konstrukte darstellen und dass dabei mediale Repräsentationsformen als zentrale Schnittstelle und als Transferleistung zwischen individueller Ebene und kollektiv geteilter überindividueller Ebene fungieren.

Dies führt am Ende des Kapitels zu der Frage nach der Spezifität literarischer Texte als Medien der Vergangenheits- und Identitätskonstitution. Welche Qualitäten sind der Literatur zueigen in Bezug auf die Hervorbringung und Perspektivierung von vergangenheitsbezogenem Wissen? Und welche Rolle ist hierbei literarischen Formen zuzusprechen? Zur Beantwortung dieser Fragen findet insbesondere eine kritische Erörterung der Forschungsliteratur statt, die im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs ‚Erinnerungskulturen‘ (SFB 434, 1997-2008) entstanden ist und sich zu Teilen dezidiert mit der Trias Erinnerung - Identität - Literatur beschäftigt.11

Bevor in Kapitel 4 die Primärliteratur analysiert wird, scheint es angeraten, einen Überblick über die Erinnerungsgeschichte Gernikas zu liefern, was in Kapitel 3 geleistet werden soll. Dies begründet sich dadurch, dass Erinnerungsorte für gewöhnlich mit einer Vielzahl von Diskursen funktional verstrickt sind. Ihre kulturelle Bedeutsamkeit hängt mit dieser Anschlussfähigkeit an vielfältige Wissens- und Gesellschaftsbereiche unmittelbar zusammen. Wenn folglich literarische Texte Erinnerungsorte semantisieren, treten sie unumgänglich in einen eminent interdiskursiven, intertextuellen und intermedialen Zusammenhang. Eine literaturwissenschaftliche Analyse mit kulturwissenschaftlich- gedächtnistheoretischem Schwerpunkt setzt also eine sehr weitgefächerte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand voraus. Die Vielschichtigkeit, die den Gedächtnisbegriff durch dessen „integratives, Disziplinen übergreifendes Potential“ (Assmann 2003, 27) umgibt, hat somit die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Konsequenz, Wissensbestände aus verschiedenen Diskursen miteinander in Beziehung zu setzen.

← 15 | 16 → Der Erinnerungsort Gernika ist als Musterbeispiel eines diskursiven Ineinandergreifens anzusehen. Schon anhand der baskischen Sonderrechtssymbolik in Gestalt der Eiche von Gernika, die repräsentativ für die jahrhundertealte weitreichende Autonomie der baskischen Gebiete hinsichtlich der umliegenden nicht-baskischen Verwaltungseinheiten und Machtzentren steht, wird für das 19. Jahrhundert beobachtbar, wie sich gesellschaftliche und politische Diskurse funktional mit Gesang und Folklore verbanden. Nach der Bombardierung der Stadt im April 1937 verschmolzen schließlich Aussagen aus den Bereichen Politik, Kunst und Wissenschaft zu einem komplexen erinnerungskulturellen Phänomen erster Güte. Gernika wurde auf allen Feldern gedeutet, in politischen Reden, bei gesellschaftlichen Zeremonien, in historiographischen Studien und nicht zuletzt in der Malerei, Literatur und Musik. Es soll im erinnerungsgeschichtlichen Teil dieser Studie aufgezeigt werden, inwiefern die kulturelle Bedeutsamkeit des Erinnerungsortes Produkt eines sich wechselseitig verstärkenden Einflussverhältnisses von kultureller Relevanz des Erinnerungsortes und medialen Repräsentationsformen desselben ist: Gernika wird so häufig ‚zitiert‘, weil es einen herausragenden kulturellen Rang einnimmt, und gleichermaßen hat der Erinnerungsort diesen Rang inne, weil er auf so vielfältige Weise repräsentiert und gedeutet worden ist. Dies lässt sich für die baskische Bedeutung des Erinnerungsortes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatieren wie auch für Picassos Guernica, das weniger aufgrund inhärenter Qualitäten das wohl bekannteste Werk des Malers darstellt, sondern vielmehr aufgrund seiner ‚Zitierfähigkeit‘, die es über die Jahrzehnte hinweg stets von neuem zu einem Bezugspunkt für unterschiedlichste Diskurse und Repräsentationsformen werden ließ, sei dies im Bereich der Politik oder aber in den Künsten selbst, wo beispielsweise Literatur und Malerei eine nicht mehr zu überschauende Vielzahl an Bezugnahmen auf Guernica hervorgebracht haben. Gernika ist ein herausragendes Deutungsphänomen, das in den Künsten in unterschiedlichstem Gewand daherkommt: neben der Literatur auch in der performance-Kunst, wenn etwa Lee Mingwei 2006 Guernica in den Sand malt und sodann löscht; in der Bildhauerei in Form von 38 Tonnen Stahl, die Richard Serra 1986 zur Skulptur Equal Parallel – Guernica-Bengasi geformt hat; in Werken des baskischen Bildhauers Jorge Oteiza, der sich mit dem Erinnerungsort jahrzehntelang in seiner Kunst auseinandersetzte; in Liedern etwa des baskischen Liedermachers Mikel Laboa wie auch des italienischen Vertreters der sogenannten Neuen Musik, Luigi Nono; in einer Verbindung aus Tanz und Orchestermusik in der Aufführung Gernika: Danza sobre lienzo von 2011; im Spiel- und Dokumentarfilm, etwa 1950 in Guernica von Alain Resnais und Robert Hessens wie auch im neuen Jahrtausend in dem noch ausstehenden Spielfilm 33 días von Carlos Saura, der die Entstehung ← 16 | 17 → des Picasso-Bildes perspektivieren wird, oder in der Fernsehproduktion Gernika bajo las bombas, die 2012 auf dem Filmfestival von San Sebastián präsentiert wurde und ausschließlich die Bombardierung, nicht jedoch Picassos Guernica in den Blickwinkel rückt; schließlich in einer Unmenge von Bezugnahmen in der Malerei und Grafik, die im Speziellen auf Picassos Guernica rekurrieren: angefangen bei den herausragenden Arbeiten der spanischen Künstlergruppe Equipo Crónica Ende der 1960er Jahre bis hin zu Gudrun Brüne, die als Vertreterin der sogenannten Leipziger Schule für ihr Triptychon Und immer wieder Guernica von 2011 einen für die dargebrachte Argumentation besonders passenden Titel wählte.12

Vor diesem Hintergrund leistet der erinnerungsgeschichtliche Teil angesicht der bestehenden Forschungsliteratur zweierlei. Er liefert einerseits einen umfassenden diachronen Überblick über Gernika als Erinnerungsort, das heißt als symbolträchtiger, in der Vergangenheit verankerter Bezugspunkt, der für das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe eine hohe Relevanz besitzt. Welche kollektiv geteilten Formen der Semantisierung des Erinnerungsortes ergeben sich zu bestimmten Zeitpunkten, in welcher Weise und warum? Zur Beantwortung dieser Fragen perspektiviert diese Studie den Erinnerungsort Gernika auf subnationaler, nationaler und supranationaler Ebene und untersucht sein identitätskonkretes und diskursives Funktionieren sowohl als baskisches Freiheitssymbol, als herausragendes historisches Ereignis des Spanischen Bürgerkriegs wie auch als künstlerisches Medienprodukt von globaler Verbreitung. Andererseits setzt sich der erinnerungsgeschichtliche Teil eine Analyse des Erinnerungsortes mit Fokus auf divergierende Vergangenheitsversionen sowie auf interdiskursive und intermediale Zusammenhänge zum Ziel. Um Erinnerungskonkurrenzen und unterschiedliche Weisen der Funktionalisierung von vergangenheitsbezogenem Wissen in den Blick zu bekommen, werden Aussagen aus verschiedenen Diskursen miteinander in Beziehung gesetzt und insbesondere die interessen- und machtbestimmten Bedingungen der Hervorbringung dieser Aussagen einem Bestimmungsversuch unterzogen. Es wird beispielsweise zu fragen sein, welche semantische Veränderung der symbolträchtige árbol de Gernika, verkörpert zunächst durch eine folkloristische Hymne, gegen Ende des 19. ← 17 | 18 → Jahrhunderts erfährt, als der moderne baskische Nationalismus als politisch-diskursives Phänomen entsteht; durch welche medialen Repräsentationsformen sich die Ereignishaftigkeit in Bezug auf die Bombardierung der Stadt konstituierte; welche Dialektik von Erinnerung und Vergessen Gernika während des Franquismus kennzeichnete; wo Wissenschaft zum Instrument wurde, um die ‚Wahrheit‘ über Gernika in Kongruenz zu bestimmten politischen Interessen durchzusetzen; inwiefern kunstwissenschaftliches Wissen politisches Gewicht bekam, etwa zum Zeitpunkt der Überführung von Picassos Gemälde Guernica von New York nach Spanien. Die Thematisierung all dieser Aspekte wird in der Studie schließlich mit der Frage einhergehen, wo partikulare (etwa baskisch-nationalistische) Kontexte aufgebrochen wurden durch größere Bezugsrahmen bzw. wo selbst ein universeller Friedensgedanke, wie ihn Picassos Gemälde repräsentiert, in historisch je spezifischer Weise rückgekoppelt wurde an partikulare Einflussverhältnisse und Interessen. Diese Fragen führen schließlich dazu, dass am Ende des Kapitels ein Resümee der Erinnerungsgeschichte geliefert wird, welches auf die Vielschichtigkeit und Konfliktivität des Erinnerungsortes fokussiert.13

← 18 | 19 → Da die Annahme eines kontingenten und von erinnerungspolitischen Zusammenhängen losgelösten Entstehens von spezifischen Deutungen des Erinnerungsortes zu verwerfen ist, entsteht über die Beschäftigung mit dem Erinnerungsort Gernika auch eine Perspektive auf Erinnerungskulturen in Spanien und dem Baskenland. Es ist also von Interdependenzen zwischen Erinnerungsorten und größeren politischen und kulturellen Zusammenhängen auszugehen und es wird folglich zu fragen sein, welche Hegemonie die Franco-Diktatur im Bereich der Erinnerungskultur ausübte und inwiefern sich dissidente Stimmen – sowohl was das politisch linke Spanien als auch das Baskenland betrifft – artikulieren konnten. Welche Semantik bekam Gernika hingegen zur Zeit der transición, als politisch ein prospektiver Blick auf eine gesellschaftlich versöhnte Zukunft die Erinnerung an alte Feindschaften und begangenes Unrecht überlagerte? Über Gernika und die spezifische baskische Signifikanz des Erinnerungsortes entsteht darüber hinaus ein Blick auf die Frage nach baskischer identitärer Eigenständigkeit, die als Kulturthema in Spanien eine lange Tradition der Auseinandersetzung hat und sich im 20. Jahrhundert durch den Terrorismus der Untergrundorganisation ETA – aber auch durch staatliche Gegenmaßnahmen, durch politische und mediale Funktionalisierung des Themas usw. – in radikaler Weise zuspitzte. Anhand Gernikas ist auch auf die allgemeine Frage einzugehen, welche Entwicklungen sich in Spanien bezogen auf das ubiquitäre gesellschaftliche Thema der „memory as a key cultural and political concern in Western societies“ (Huyssen 2003, 11) ausmachen lassen, von dem Andreas Huyssen (2003, 11) als „most surprising cultural and political phenomena“ der letzten Jahre spricht. Ist in Spanien über Vergangenheit und insbesondere über Gernika alles gesagt worden oder ist der Erinnerungsort nicht beispielhaft ein anhaltendes Streitthema und ein Objekt politischer Vereinnahmung, beispielsweise von neo-franquistischer Seite, wenn republikanische Flugzeugangriffe aus der Zeit des Bürgerkriegs mit der Zerstörung Gernikas gleichgesetzt werden?14 Wie stark und konfliktiv verharrt die Vergangenheit in der Gegenwart einer Gesellschaft, in der kaum die letzten Franco-Reiterstatuen entfernt worden sind und viele franquistische Erinnerungsmonumente ← 19 | 20 → fortbestehen, in der die gegenwärtige konservative Regierung unter Mariano Rajoy fast sämtliche finanziellen Mittel zur Umsetzung der sogenannten Ley de memoria von 2007 gestrichen hat, in der der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón 2010 seines Amtes enthoben wurde, da er ehemalige franquistische Folterer juristisch zu belangen versuchte?

Wenn somit eine anhaltende Aktualität des Themas der Erinnerung insbesondere an den Bürgerkrieg zu konstatieren ist, stellt sich angesichts der großen Bevölkerungsteile in Spanien, die diese Vergangenheit nicht selbst erlebt haben, die Frage nach der Aneignung und Vermittlung von Vergangenheitsversionen durch Medienprodukte. Es liegt auf der Hand, dass Wissen über den Spanischen Bürgerkrieg in starkem Maße unter anderem durch künstlerische Repräsentationsformen bestimmt ist. Neben Picassos Guernica ließen sich prominent literarische Texte von Ernest Hemmingway, André Malraux oder George Orwell über Peter Weiss bis hin zu Javier Cercas nennen; wie auch Photographien von Robert Capa und Filme etwa von Ken Loach oder erfolgreiche filmische Umsetzungen spanischer Literatur durch Regisseure wie Jaime Chávarri, Carlos Saura oder David Trueba. Neben diesen Beispielen, die einem größeren Publikum bekannt sein dürften, existieren Texte, Filme, aber auch Straßenschilder, Statuen und andere künstlerische wie nicht-künstlerische Medienprodukte, deren Zahl Legion ist und die allesamt Anteil haben an Erinnerungskulturen.

Details

Seiten
361
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059373
ISBN (ePUB)
9783653951233
ISBN (MOBI)
9783653951226
ISBN (Hardcover)
9783631666241
DOI
10.3726/978-3-653-05937-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Spanischer Bürgerkrieg Baskenland Legion Condor Pablo Picasso
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 361 S.

Biographische Angaben

Benjamin Inal (Autor:in)

Benjamin Inal studierte spanische Philologie an den Universitäten in Bremen, Marburg und Córdoba (Spanien). Er war Promotionsstipendiat an dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkolleg «Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart».

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