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Ausgewählte Fragen der Mitbestimmungsgestaltung bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen

von Eva Trost (Autor:in)
©2016 Dissertation 208 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch zeigt Möglichkeiten der Mitbestimmungsgestaltung bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen auf. Zu diesem Zweck werden Niederlassungsfreiheit, Verschmelzungsrichtlinie sowie die Regelungen des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG) untersucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf ausgewählten Aspekten der Mitbestimmungsgestaltung, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmermitbestimmung ergeben. Verschmelzungsrichtlinie und MgVG geben der Arbeitgeberseite zwar durchaus Optionen zur Gestaltung der Mitbestimmung an die Hand, aber die Gestaltungsoptionen sind begrenzt und nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Internationale Mobilität von Gesellschaften
  • II. Das deutsche Mitbestimmungsrecht im europäischen Binnenmarkt
  • III. Gestaltungsoptionen
  • IV. Ziele der Arbeit
  • V. Ausblick: Zukunft der deutschen Unternehmensmitbestimmung
  • B. Grundlagen der Unternehmensmitbestimmung und Gestaltungsoptionen
  • I. Unternehmensmitbestimmung in Deutschland und Europa
  • II. Grundlagen der deutschen Unternehmensmitbestimmung
  • 1. Mitbestimmungsgesetz 1976 (MitbestG)
  • 2. Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG)
  • 3. Montanmitbestimmungsgesetz (Montan-MitbestG)
  • 4. Mitbestimmung im Konzern
  • 5. Rechte und Pflichten des Aufsichtsrates
  • 6. Das Territorialitätsprinzip in der deutschen Unternehmensmitbestimmung
  • III. Traditionelle Mitbestimmungsgestaltungsoptionen
  • 1. Motive für Umwandlungen von Gesellschaften
  • 2. Umstrukturierungen zur Mitbestimmungsgestaltung
  • a) Holdinggesellschaft im Ausland
  • b) Unselbständige Niederlassung einer ausländischen Kapitalgesellschaft
  • c) Einsatz von Personengesellschaften
  • (1) GmbH & Co. KG
  • (2) Ausländische juristische Person & Co. KG
  • d) Weitere traditionelle Gestaltungsoptionen
  • 3. Zusammenfassung
  • C. Grenzüberschreitende Umstrukturierungen und ihre Auswirkungen auf die Mitbestimmung
  • I. Mitbestimmungsgestaltung durch grenzüberschreitende Umstrukturierungen
  • II. Grundlagen der Niederlassungsfreiheit
  • III. Niederlassungsfreiheit und Internationales Gesellschaftsrecht
  • 1. Grundlagen
  • 2. Maßgebliches Gesellschaftsstatut
  • IV. Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit bei grenzüberschreitenden Umstrukturierungen
  • 1. „Daily Mail and General Trust“ (1988)
  • 2. „Centros“ (1999)
  • 3. „Überseering“ (2002)
  • 4. „Inspire Art“ (2003)
  • a) Zuzugsbeschränkungen
  • b) Auswirkungen auf das deutsche Recht
  • c) Mitbestimmungsrechtliche Konsequenzen
  • 5. „Lasteyrie du Saillant“ (2004)
  • 6. „Sevic“ (2005)
  • 7. „Cadbury Schweppes“ (2006)
  • 8. „Cartesio“ (2008)
  • a) Wegzugsbeschränkungen
  • b) Auswirkungen auf das deutsche Recht
  • c) Mitbestimmungsrechtliche Konsequenzen
  • 9. „Vale“ (2012)
  • 10. Verlegung des Satzungssitzes
  • 11. Zusammenfassung
  • 12. Konsequenzen für die Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen
  • a) Allgemeine Anforderungen der Niederlassungsfreiheit
  • b) Konkretisierung durch den EuGH
  • c) Analyse
  • (1) Mitbestimmungslosigkeit der aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgehenden Gesellschaft?
  • (2) Weitere Gestaltungsmöglichkeiten und ihre Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit
  • 13. Ergebnis
  • D. Rechtsgrundlagen des MgVG
  • I. Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlagen der Europäischen Aktiengesellschaft (SE)
  • II. Verschmelzungsrichtlinie
  • 1. Entstehungsgeschichte und Ziele der Verschmelzungsrichtlinie
  • 2. Regelungssystem und –inhalte der Verschmelzungsrichtlinie
  • III. Umsetzung der Regelungen der Verschmelzungsrichtlinie
  • IV. Verhältnis von Niederlassungsfreiheit, Verschmelzungsrichtlinie und MgVG
  • 1. Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
  • a) Unionsrechtliche Harmonisierung
  • b) Harmonisierungsintensität der Verschmelzungsrichtlinie
  • c) Primärrechtskonformität der Verschmelzungsrichtlinie
  • (1) Ermessensspielraum des Unionsgesetzgebers
  • (2) Vereinbarkeit der Regelungen der Verschmelzungsrichtlinie zur Arbeitnehmermitbestimmung mit den Anforderungen der Niederlassungsfreiheit
  • (a) Prüfungsmaßstab
  • (b) Konzeption aus Verhandlungslösung, Sitzstaatprinzip und gesetzlicher Auffangregelung
  • (c) Perpetuierungsklausel (Art. 16 Abs. 7)
  • (3) Zwischenergebnis
  • 2. Auslegung der Regelungen des MgVG im Lichte der Niederlassungsfreiheit?
  • 3. Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung
  • 4. Ergebnis
  • E. Regelungsinhalte des MgVG
  • I. Anwendbarkeit des MgVG
  • 1. Verhältnis der Tatbestandsalternativen des § 5 MgVG zueinander
  • a) Stellungnahme
  • b) Auswirkungen auf die Mitbestimmung
  • 2. Ermittlung des Schwellenwertes
  • a) Stellungnahme
  • b) Auswirkungen auf die Mitbestimmung
  • 3. „Bestehen eines Systems der Mitbestimmung“
  • 4. Vorher-Nachher-Vergleich (§ 5 Nr. 2 MgVG)
  • a) Vergleich der Mitbestimmungssysteme
  • b) Berücksichtigung von Arbeitnehmervertretern in Leitungsgremien
  • 5. Diskriminierungsschutz (§ 5 Nr. 3 MgVG)
  • a) Stellungnahme
  • b) Auswirkungen auf die Mitbestimmung
  • II. Das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nach dem MgVG
  • 1. Bildung und Besetzung des BVG
  • 2. Verhandlungslösung
  • a) Beschlussfassung im BVG
  • (1) Grundsätze der Beschlussfassung
  • (2) Berücksichtigung konzernangehöriger Arbeitnehmer bei der Minderung der Mitbestimmung
  • (a) Problematik
  • (b) Stellungnahme
  • b) Vereinbarung
  • 3. Gesetzliche Auffangregelung (§§ 23 ff. MgVG)
  • a) Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der gesetzlichen Auffangregelung
  • (1) Erforderliches Quorum gem. § 23 Abs. 1 S. 2 MgVG
  • (2) Rechtsfolge bei Nichterreichen des Quorums und Fehlen eines Beschlusses des BVG
  • b) Ausgestaltung der Mitbestimmung im Rahmen der gesetzlichen Auffangregelung
  • (1) Anwendbares Mitbestimmungsmodell
  • (2) Bestellung der Arbeitnehmervertreter (§ 25 MgVG)
  • (3) Möglichkeit der Begrenzung des Anteils der Arbeitnehmervertreter im Verwaltungsorgan
  • 4. Verzicht auf Verhandlungen (§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 MgVG)
  • a) Erforderlichkeit der Bildung eines BVG
  • b) Erforderliches Quorum (§ 23 Abs. 1 S. 2 MgVG)
  • c) Verhältnis zum Beschluss durch das BVG gem. § 18 MgVG
  • III. Umgehungsschutz bei nachfolgenden Verschmelzungen
  • 1. Sicherungsvorkehrungen bei der SE
  • 2. Sicherungsvorkehrungen bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen
  • 3. Vereinbarkeit des § 30 MgVG mit den Vorgaben der Verschmelzungsrichtlinie
  • a) Stellungnahme
  • b) Richtlinienkonforme Auslegung und –rechtsfortbildung des § 30 MgVG
  • (1) Grundsätze der richtlinienkonformen Auslegung
  • (2) Übertragung der Grundsätze auf die richtlinienkonforme Auslegung des § 30 MgVG
  • IV. Rechtsfolgen der Richtlinienwidrigkeit des § 30 MgVG
  • 1. Unmittelbare Anwendbarkeit der Bestimmungen der Verschmelzungsrichtlinie?
  • 2. Unanwendbarkeit des § 30 MgVG?
  • a) Verstoß des § 30 MgVG gegen die Niederlassungsfreiheit?
  • (1) Verhältnis von Grundfreiheiten und sekundärem Unionsrecht
  • (a) „Inspire Art“
  • (b) „Kommission/Deutschland“ (Urteil v. 14. April 2005)
  • (c) „Laval“
  • (d) Zwischenergebnis
  • (2) Verhältnis von allgemeinen Rechtsgrundsätzen und sekundärem Unionsrecht
  • (a) Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen „Mangold“ und „Kücükdeveci“
  • (b) Reaktionen im Schrifttum
  • (3) Dogmatische Schlussfolgerungen
  • (4) Zwischenergebnis
  • b) Negative Ausschlusswirkung der Verschmelzungsrichtlinie?
  • c) Ergebnis
  • 3. Ausblick
  • 4. Konsequenzen für die Mitbestimmung
  • 5. Verfassungsmäßigkeit des § 30 MgVG
  • F. Fazit
  • I. Gestaltungsoptionen durch das MgVG: Ergebnisse
  • 1. Vorteile des europäischen Mitbestimmungskonzeptes
  • 2. Einschränkungen für die Arbeitgeberseite
  • II. Abschließende Stellungnahme
  • III. Ausblick
  • Literaturverzeichnis

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A.   Einleitung

Die Verwirklichung des Binnenmarktes ist ausweislich des Art. 26 AEUV eines der erklärten Ziele der Union. Gem. Art. 26 Abs. 2 AEUV umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. Das Binnenmarktziel wird vorrangig durch die Konzeption der Grundfreiheiten und damit u.a. durch die Niederlassungsfreiheit getragen1. Das Ziel der Niederlassungsfreiheit besteht darin, es jedem Unternehmen zu ermöglichen, seinen Standort nach rein ökonomischen Kriterien zu wählen2.

I.    Internationale Mobilität von Gesellschaften

Die Niederlassungsfreiheit fordert und fördert die internationale Mobilität von Gesellschaften. Reichweite und Grenzen der Niederlassungsfreiheit hat der EuGH in verschiedenen Entscheidungen konkretisiert.

Die internationale Mobilität von Gesellschaften wurde zudem mit der Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft („Societas Europaea“, SE) im Jahr 2000 voran getrieben. In einem weiteren Schritt entschied der EuGH in der Rechtssache Sevic3, dass die generelle Nichtzulassung von grenzüberschreitenden Fusionen im deutschen Umwandlungsrecht gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. In diesem Zusammenhang wurde die Richtlinie über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (Verschmelzungsrichtlinie)4 erlassen, die primär die Erleichterung grenzüberschreitender Verschmelzungen von Kapitalgesellschaften bezweckt.

Der Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft war ein langwieriger Prozess vorangegangen. Eine Einigung scheiterte immer wieder an der Ausgestaltung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene. Im Fokus stand das deutsche Mitbestimmungsrecht, das im internationalen Vergleich eine sehr starke Arbeitnehmerbeteiligung vorsieht5. ← 15 | 16 →

II.   Das deutsche Mitbestimmungsrecht im europäischen Binnenmarkt

Die fundierten Ziele der deutschen Unternehmensmitbestimmung sind sozialethischer, sozialpolitischer und gesellschaftspolitischer Natur6. So liegen dem deutschen Mitbestimmungsmodell unter anderem die Gedanken der Selbstbestimmung, die Achtung vor der Würde des Menschen und der Ausgleich oder der Abbau einseitiger Machtstellungen durch Kooperation der Beteiligten zugrunde7, d.h. die „gleichberechtigte und gleichgewichtige Teilhabe von Anteilseignern und Arbeitnehmern an den Entscheidungsprozessen im Unternehmen“8. Auch die Sicherung von Demokratie und sozialem Frieden9 sowie eine überwiegend inländische, interessenhomogene Arbeitnehmerschaft, die ihr gesamtes Arbeitsleben an ein Unternehmen gebunden ist10, waren Grundgedanken des deutschen Mitbestimmungsrechts. Die Mitbestimmung soll helfen, die Abhängigkeit auszugleichen oder zumindest abzumildern, in die sich jeder begibt, der Arbeit innerhalb einer fremdbestimmten Organisation leistet11. Sie soll grundsätzlich gewährleisten, dass bei den unternehmerischen Planungen und Entscheidungen nicht nur die Interessen der Anteilseigner, sondern auch die Belange der Arbeitnehmer berücksichtigt werden12.

Viele Anteilseigner empfinden die Arbeitnehmermitbestimmung als belastend13. Sie bemängeln, dass durch die Arbeitnehmerbeteiligung ihre Rechte beschnitten und die Effizienz der Unternehmen nachhaltig geschmälert würden14.

Die Ziele und Inhalte der deutschen Unternehmensmitbestimmung kontrastieren das Binnenmarktziel und den Gewährleistungsbereich der Niederlassungsfreiheit, so dass ein Spannungsverhältnis zwischen beiden besteht. Denn die gleichberechtigte Teilhabe von Arbeitnehmern an Entscheidungsprozessen im Unternehmen bringt zwangsläufig langwierige Entscheidungsprozesse und damit Einschränkungen für die internationale Mobilität von Gesellschaften mit sich. Im Zuge der fortschreitenden internationalen Mobilität von Gesellschaften wird dieses Spannungsverhältnis durch die vielen unterschiedlichen Mitbestimmungssysteme in den verschiedenen Mitgliedstaaten verschärft. So kennen einige Unionsstaaten gar keine Unternehmensmitbestimmung, während wieder andere Staaten wesentlich ← 16 | 17 → schwächere Mitbestimmungssysteme vorsehen, als sie im deutschen Recht implementiert sind.

Hinzu kommt, dass die Anforderungen, die sich aus der Niederlassungfreiheit an die Ausgestaltung der Arbeitnehmermitbestimmung auf europäischer Ebene ergeben, bislang sehr vage sind. Eine Entscheidung des EuGH ist hierzu bislang nicht ergangen. Die Ausgestaltung der Unternehmensmitbestimmung auf europäischer Ebene im allgemeinen und bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen im Besonderen sieht sich vor diesem Hintergrund mit den Schwierigkeiten fragmentierten Rechts und einem komplexen Gefüge aus Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht konfrontiert.

III.   Gestaltungsoptionen

In Anbetracht des Spannungsverhältnisses zwischen der deutschen Unternehmensmitbestimmung und der europäischen Niederlassungsfreiheit haben sich im Laufe der Zeit Strategien etabliert, mittels derer Gesellschaften der (deutschen) Arbeitnehmermitbestimmung ausweichen können, indem sie etwa deren Intensität verringern. Zu diesen traditionellen Strategien der Mitbestimmungsgestaltung zählen u.a. die Errichtung einer Holdinggesellschaft im Ausland, die Gründung unselbständiger Niederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften oder der Einsatz von Personengesellschaften.

Auch die Gründung einer SE oder die Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung eröffnen Mitbestimmungsgestaltungsoptionen für die beteiligten Gesellschaften. So wurde die Mitbestimmungsproblematik bei der Einführung der SE durch ein komplexes System gelöst, das den erheblichen Unterschieden der Mitbestimmungssysteme in den verschiedenen Mitgliedstaaten Rechnung trägt. Diese Lösung hat der Unionsgesetzgeber im Grundsatz auf die Ausgestaltung der Mitbestimmung bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung übertragen. Sowohl die Gründung einer SE als auch die Durchführung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung eröffnen Gesellschaften demnach die Möglichkeit, im Wege der Durchführung von Verhandlungen eine für das jeweilige Unternehmen maßgeschneiderte Form der Mitbestimmung zu wählen. Mit der Richtlinie 2001/86/EG zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE-Richtlinie) und mit dem deutschen Umsetzungsgesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft vom 22. Dezember 2004 (SEBG) wurde dafür der Grundstein gelegt, der in Art. 16 der Verschmelzungsrichtlinie auf die grenzüberschreitende Verschmelzung übertragen wurde. Nach der Konzeption der Verschmelzungsrichtlinie gelangt im Regelfall ein europäisches Mitbestimmungssystem zur Anwendung, nach dem die beteiligten Gesellschaften gehalten sind, eine Vereinbarung über die künftige Mitbestimmung in der hervorgehenden Gesellschaft zu verhandeln. Sind die Voraussetzungen für das Eingreifen des europäischen Mitbestimmungskonzeptes nicht erfüllt, greift das Sitzstaatprinzip. Dieses sieht die Anwendung des Rechts desjenigen Mitgliedstaates vor, in dem die aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgegangene Gesellschaft ihren Sitz hat. ← 17 | 18 →

In Deutschland wurde der gesellschaftsrechtliche Teil der Verschmelzungsrichtlinie in den §§ 122a – 122l UmwG umgesetzt, während die mitbestimmungsrechtlichen Regelungen in dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung vom 21. Dezember 2006 (MgVG) enthalten sind. Da sich das Mitbestimmungskonzept der Verschmelzungsrichtlinie an dem der SE-Richtlinie orientiert, entsprechen viele Regelungen des MgVG denen des SEBG. Bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung ist die aufnehmende Gesellschaft jedoch anders als die SE eine Gesellschaft nationalen Rechts. Diese Unterscheidung ist Grundlage für einige wesentliche Abweichungen der Mitbestimmungsregelungen der Verschmelzungsrichtlinie bzw. des MgVG von denen der SE-Richtlinie bzw. des SEBG15.

IV.   Ziele der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist es, die Regelungen des MgVG unter dem Aspekt zu beleuchten, inwieweit sich daraus für Gesellschaften neue bzw. weitere Optionen ergeben, die Arbeitnehmermitbestimmung zu gestalten. Die Analyse konzentriert sich auf ausgewählte Aspekte der Mitbestimmungsgestaltung, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmermitbestimmung ergeben. Auf die Verhandlungslösung und insbesondere auf die Gestaltung der Mitbestimmung durch Vereinbarung wird daher nur kursorisch eingegangen. Im ersten Teil werden unter anderem einige der „traditionellen“ Wege zur Gestaltung der Mitbestimmung im Überblick dargestellt. Sodann wird die Entwicklung auf europäischer Ebene durch die Rechtsprechung des EuGH zu grenzüberschreitenden Umstrukturierungen erläutert, insbesondere zu Verwaltungssitzverlegung und grenzüberschreitenden Verschmelzungen. Im Fokus stehen dabei die Vereinbarkeit der jeweiligen Umstrukturierungsmaßnahme mit der Niederlassungsfreiheit sowie die jeweiligen Auswirkungen auf die Arbeitnehmermitbestimmung. Denn die gesetzliche Implementierung der SE und der grenzüberschreitenden Verschmelzung sind im Kontext der Entwicklungen auf europäischer Ebene zu betrachten. So ist insbesondere die Sevic-Entscheidung des EuGH zur Zulässigkeit grenzüberschreitender Verschmelzungen in das europäische Gesamtkonzept einzuordnen. Im Anschluss werden die Anforderungen herausgearbeitet, die sich aus der Niederlassungsfreiheit an die Ausgestaltung der Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen ergeben. Die Regelungen der Verschmelzungsrichtlinie werden sodann an diesen Vorgaben gemessen.

Im weiteren Verlauf widmet sich die Arbeit ausgewählten Regelungen und Einzelproblemen des MgVG. Die Mitbestimmung in der SE wird dabei nur in Grundzügen und nur in dem Maße behandelt, wie sie für die vorliegende Arbeit relevant ist, insbesondere, um Gemeinsamkeiten und wesentliche Unterschiede der Richtlinien ← 18 | 19 → und Umsetzungsgesetze aufzuzeigen. Auch eine Auseinandersetzung mit den Mitbestimmungssystemen und Umsetzungsgesetzen in anderen europäischen Staaten erfolgt nur am Rande und nur soweit, wie es für die Bearbeitung weiterführend ist.

Ein wesentlicher Aspekt bei der Erörterung der Regelungen des MgVG ist deren Zusammenwirken mit den unionsrechtlichen Vorgaben. Denn zwischen Niederlassungsfreiheit, Verschmelzungsrichtlinie und MgVG besteht ein kompliziertes Gefüge, das Auswirkungen auf die Auslegung der Normen des MgVG hat. So wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Bestandsschutz des § 30 MgVG zu erörtern sein, ob die Regelung den unionsrechtlichen Vorgaben entspricht und welche Rechtsfolgen eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit der Vorschrift nach sich zieht. In diesem Zusammenhang bilden der Vorrang des Unionsrechts sowie die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen Schwerpunkte der Analyse. So wird insbesondere zu untersuchen sein, ob ein möglicher Verstoß des § 30 MgVG gegen die Richtlinienvorgaben die Unanwendbarkeit der Norm zur Folge hat; dabei kommt dem Zusammenspiel von Grundfreiheiten und sekundärem Unionsrecht eine zentrale Rolle zu.

V.   Ausblick: Zukunft der deutschen Unternehmensmitbestimmung

Die deutsche Unternehmensmitbestimmung nimmt aufgrund ihrer starken Ausgestaltung eine Sonderrolle im europäischen Binnenmarkt ein. Dennoch ist es bisher – trotz mehrfacher Versuche – nicht gelungen, das deutsche Mitbestimmungsrecht zu reformieren und damit wettbewerbsfähiger zu machen, so dass nach wie vor Vermeidungsstrategien angewendet werden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie zukunftsfähig das System der deutschen Unternehmensmitbestimmung ist. In Anbetracht der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit sowie der Ausgestaltung der Mitbestimmung in den anderen Unionsstaaten ist zu erwarten, dass sich das deutsche Mitbestimmungsrecht künftig kaum wird durchsetzen können. Der deutsche Gesetzgeber ist vielmehr gefordert, das deutsche Mitbestimmungsrecht wettbewerbsfähig zu machen und es an die europäischen Vorgaben, insbesondere an die Anforderungen der Niederlassungsfreiheit, anzupassen. Oder er läuft Gefahr, dass durch die Fortentwicklung der internationalen Mobilität von Gesellschaften immer weitere Möglichkeiten entstehen werden, die deutsche Unternehmensmitbestimmung zu vermeiden. ← 19 | 20 →


1 Terhechte in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 3 EUV, Rn. 40.

2 Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 193.

3 EuGH v. 13.12.2005, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10825 („Sevic”).

4 Richtlinie 2005/56/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005.

5 Vgl. Henssler in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, Einl. SEBG, Rn. 13 f.

6 Ulmer/Habersack in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, Einl. MitbestG, Rn. 1 ff.; WWKK/Wißmann, Mitbestimmungsrecht, Vorbem., Rn. 3.

7 BT-Drucks. 6/334, S. 65; vgl. auch ErfK/Koch, § 1 BetrVG, Rn. 1; Ulmer/Habersack in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, Einl. MitbestG, Rn. 2 f.; WWKK/Wißmann, Mitbestimmungsrecht, Vorbem., Rn. 3.

8 Begründung des RegE des MitbestG 1976, BT-Drucks. 7/2172, S. 17.

9 Vgl. nur Rieble in: Rieble, Zukunft der Unternehmensmitbestimmung, § 1, Rn. 1.

10 Lubitz, S. 14.

11 ErfK/Koch, § 1 BetrVG, Rn. 1.

Details

Seiten
208
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653066746
ISBN (ePUB)
9783653951318
ISBN (MOBI)
9783653951301
ISBN (Paperback)
9783631671900
DOI
10.3726/978-3-653-06674-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Niederlassungsfreiheit Verschmelzungsrichtlinie MgVG Unternehmensmitbestimmung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 208 S.

Biographische Angaben

Eva Trost (Autor:in)

Eva J. Trost hat in Düsseldorf und Cergy-Pontoise Rechtswissenschaften studiert. Sie promovierte an der Universität zu Köln. Sie ist als Rechtsanwältin im Bereich Arbeitsrecht tätig.

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