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Wikipedia: Palimpseste der Gegenwart

Text- und Wissensverfahren im kollaborativen Hypertext

von Nathalie Mederake (Autor:in)
©2016 Dissertation 343 Seiten

Zusammenfassung

Der technische und lexikografische Aufbau von Wikipedia, der zentralen Online-Enzyklopädie unserer Zeit, ermöglicht einen komplexen Interaktionsraum. Doch welche Prozesse und Routinen kommen dort zum Einsatz? Die Autorin analysiert und beschreibt medienlinguistische sowie lexikografische und wissenssystematische Erscheinungen. Die Form digitaler Überschreibung präsentiert sich dabei als neues Phänomen der Wissensbearbeitung und -kommunikation. Systematische Beobachtungen und deren Überprüfung an ausgewählten Artikeln schaffen zudem erstmals die Möglichkeit eines umfassenden Instrumentariums für die Textlinguistik. Die Studie liefert überdies wichtige theoretische und methodische Anregungen für weitere Forschungen zu digitalmedialen Kommunikationsgegenständen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Thema und zentrale Aspekte
  • 1. Textdynamiken in soziotechnischen Wissensüberschreibungen
  • 1.1 Soziotechnisch geprägte Wissenssammlungen
  • 1.2 Textverfahren
  • 1.2.1 Textprozeduren und Textprozesse
  • 1.2.2 Textualität im digitalen Genre
  • 1.2.3 Die digitale Textfassung
  • 1.2.4 Zur Ausrichtung des Textbegriffs
  • 1.2.5 Organisationsprinzipien von Text
  • 1.2.6 Textfassung und Quaestio
  • 1.3 Kollaborative Wissensverfahren
  • 1.3.1 Informationswerkzeuge und reagierende Medien
  • 1.3.2 Indikator und Referenz in Wissenssammlungen
  • 1.3.3 Wissensüberschreibung im soziotechnologischen Kontext
  • 1.4 Palimpseste als Ergebnis dynamisch-kollaborativer Textualität
  • 2. Konvergente Rahmenbedingungen
  • 2.1 Mediale Disposition
  • 2.1.1 Idee und Technologie von Hypertext
  • 2.1.2 Definition von Hypertext
  • 2.1.3 Problembereich Text und Hypertext
  • 2.1.4 … und ein Lösungsversuch
  • 2.2 Wikis und Wikipedia
  • 2.2.1 Wikis
  • 2.2.2 Das Wiki der Wikipedia
  • 2.2.3 MediaWiki als Verwaltungsgrundlage
  • 2.2.4 Anlage eines Wiki-Artikels
  • 2.2.5 Beispiele technischer und personeller Organisationsstruktur
  • 2.2.6 Qualitätsorientierte Verfahren
  • 2.2.7 Forschungsfragen an die Wikipedia
  • 2.2.8 Wikis: Zwischen Form und Funktion
  • 2.3 Zwischenergebnis
  • 2.4 Konzept und Verortungen von Wissen im kollaborativen Hypertext
  • 2.4.1 Wissenskonzeption zwischen Kognition und soziokulturellem Kontext
  • 2.4.2 Wissens- und Nachschlagesysteme
  • 2.4.3 Ordnung der Kommunikation von Information zum Wissen
  • 2.4.4 Kontroll- und Kohärenzverfahren
  • 2.5 Linguistische Herausforderungen hypertextbestimmter Text- und Wissensverfahren
  • 2.5.1 Austausch- und Überschreibungsprozesse
  • 2.5.2 Oberfläche und Textvernetzung
  • 2.5.3 Medienkonvergenz und Multimedialität
  • 2.6 Fazit: Linguistische Perspektiven im hypertextuellen Interaktionsraum
  • 3. Text- und Wissensverfahren im kollaborativen Hypertext – ein Modell
  • 3.1 Zwei Funktionsebenen
  • 3.1.1 Elemente der Objektebene
  • 3.1.2 Elemente der Metaebene
  • 3.1.3 Zusammenwirken der Ebenen
  • 3.2 Grundannahmen von Text- und Wissensverfahren
  • 3.2.1 Verfahren im Rahmen innerer Funktionalitäten
  • 3.2.1.1 Zugriff
  • 3.2.1.2 Potenzial
  • 3.2.1.3 Resultat
  • 3.2.1.4 Regularitäten der Rezeption
  • 3.2.2 Verfahren im Rahmen äußerer Funktionalitäten
  • 3.2.2.1 Organisation zwischen Basis und Rezeption
  • 3.2.2.2 Kommunikatives Ziel
  • 3.2.2.3 Indikator und Rezeption
  • 3.2.2.4 Sozialer und kommunikativer Kanal
  • 3.2.2.5 Sequenzorganisation
  • 3.2.2.6 Kohärenzplanung
  • 3.3 Fazit: Aushandlungskohärenz innerhalb von Text- und Wissensverfahren
  • 4. Methodische Annäherung: Eine framegestützte Erschließung
  • 4.1 Die Rolle der Quaestio
  • 4.2 Repräsentationsformat Frames
  • 4.2.1 Aspekte der Modifikation und Dynamik in der Frame-Semantik: Ein Überblick
  • 4.2.2 Matrixframes in der Anwendung
  • 4.3 Neuorientierung: Ein dynamisches Analyseraster für kollaborativ erstellte Hypertexte
  • 4.4 Anwendungsbereich Wikipedia: Beispiele für Thementypen
  • 4.4.1 Objekt- und sachbezogene Artikel
  • 4.4.2 Aktuelle Ereignisse
  • 4.5 Operationalisierung
  • 4.6 Schwerpunktsetzung und Präzisierung
  • 5. Analyse: Überschreibungsprozesse in einem kollaborativen Hypertext
  • 5.1 Überblick
  • 5.2 Prämierter Artikel: Zitronenpresse
  • 5.2.1 Explikativ-objektbezogener Thementyp
  • 5.2.2 Untersuchungsraster
  • 5.2.3 Überschreibungstypen mit diachron-referentiellem Bezug
  • 5.2.3.1 Beobachtung der Objektebene
  • 5.2.3.1.1 Einführung
  • 5.2.3.1.2 Fortführung
  • 5.2.3.1.3 Tilgung
  • 5.2.3.2 Metaebene: Bedingungen der zeitlich-thematischen Progression
  • 5.2.4 Bewertung: Dynamische Regulationsmechanismen mit Objektbezug
  • 5.3 Aktuelles Ereignis: Eurokrise
  • 5.3.1 Explikativ-ereignisbezogener Thementyp
  • 5.3.2 Untersuchungsraster
  • 5.3.3 Überschreibungen und Entwicklungen
  • 5.3.3.1 Beobachtung der Objektebene
  • 5.3.3.1.1 Einführung
  • 5.3.3.1.2 Fortführung
  • 5.3.3.1.3 Tilgung
  • 5.3.3.2 Metaebene: Lemmadiskussion
  • 5.3.4 Bewertung: Dynamische Regulationsmechanismen eines Wahrnehmungsphänomes
  • 5.4 Zur Zeichenmodalität Bild: eine Modelldimension
  • 5.5 Auswertung: Makroregeln digitalmedialer Überschreibung
  • 5.5.1 Text- und Wissensverfahren
  • 5.5.2 Aushandlungskohärenz: Teil eines Stimmigkeitskonzept der Wikipedia?
  • 5.5.3 Perspektiven eines Aufmerksamkeitszyklus
  • 6. Fazit und Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • (a) Primärquellen
  • (b) Sekundärquellen
  • (c) Onlinequellen mit Kurztitel
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Dank

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“Wikipedia indeed resembles the historical palimpsest: a repeatedly overwritten document which on closer analysis still shows the traces of this temporally and spatially distributed process of content creation and collaboration.”
(Bruns 2008: 139)

Einleitung: Thema und zentrale Aspekte

Im Jahr 2005, als der Bekanntheitsgrad Wikipedias bereits sehr hoch war und man sich der öffentlichen und wissenschaftlichen Relevanz der Wikipedia-Thematik immer bewusster wurde, veröffentlichte das international angesehene Wissenschaftsmagazin Nature eine Studie, die sich um einen Qualitätsvergleich der Encyclopaedia Britannica mit Wikipedia bemühte. Die Autoren, die über die durchgeführte Blindstudie berichteten, kamen zu dem Ergebnis, dass die Wikipedia-Artikel ein ähnliches Niveau besaßen wie die eher traditionellen Artikel der Encyclopaedia Britannica, sich aber in den Strukturen unterschieden. In Bezug auf die Qualitätsbeurteilung wurde auf relevante Experten verschiedener wissenschaftlicher Bereiche verwiesen (vgl. Giles 2005: 900). Dass diese Studie die Komplexität der Wikipedia-Artikel nur verkürzt darstellte, blieb weitestgehend unkommentiert. So wurde nicht erwähnt, dass Artikel der Wikipedia innerhalb weniger Wochen oder Monate mehrere hundert Versionen oder Artikelfassungen durchlaufen können, diese also im Gegensatz zu denen einer klassischen Enzyklopädie grundsätzlich in einem ganz anderen Grad fluktuieren und zu jedem Zeitpunkt, an dem sie beobachtet werden, unfertige Erzeugnisse darstellen.

Geschuldet ist dieses Artikelwesen der medialen Umgebung, in der und aufgrund der es existiert. Diese Umgebung ermöglicht es nicht nur, Ergebnisse schneller zu aktualisieren, sondern auch, vielfältigsten Informationsinteressen Ausdruck zu verleihen. Wissenssammlungen wie Wikipedia, die sich als Online-Enzyklopädie präsentieren, haben einen medialen Wechsel durchlaufen (wie wiederum die Studie von Pscheida (2010) gezeigt hat). Das veränderte Enzyklopädie-Format wird dabei, wie im Rahmen der Nature-Studie geschehen, wohl wahrgenommen, aber in seinem Ausmaß und bezüglich der zu verbindenden Untersuchungsleistung durchaus unterschätzt. Eine simple Vergleichssetzung von Papier und Hypertext, den die o. g. Studie unternimmt, lässt m. E. wichtige Kriterien außer Acht. Es mag gedankliche Überschneidungsbereiche geben, und die am Beispiel Wikipedia zu diskutierenden Phänomene besitzen selbstverständlich Bezüge zu vorhergehenden Entwicklungen, denn wie Enzyklopädien in unterschiedlichen Auflagen erschienen sind, sind an ihnen auch ← 11 | 12 → Artikelentwicklungen nachzuvollziehen.1 Darüber hinaus gibt es aber eklatante Unterschiede hinsichtlich der Produktions- und Rezeptionsverhältnisse. Der auffälligste Unterschied besteht in dem Vorhandensein einer hypertextuellen Ebene und entsprechender Prägung; in der Print-Enzyklopädie ist diese nicht vorhanden. Die Auswirkungen eines kollaborativen Hypertextes werden besonders deutlich, wenn man den Fokus auf das Artikelwesen legt, in dem sich stets und nicht nur im Rahmen einer neuen Auflage entscheidende Veränderungen ergeben können. Dabei werden die Inhalte nicht in festgelegten Zeiträumen überarbeitet, sondern immer dann, wenn der Informationsbedarf eines Rezipienten geweckt ist, der sodann in der Rolle des Produzenten in Erscheinung tritt. So kann es in digitalen Formaten wie der Wikipedia zwei Änderungen pro Jahr geben oder mehr als zehn pro Tag. Auch sind diese in einem sehr unterschiedlichen Umfang möglich: von Routineüberprüfungen eines Computerprogramms (Bot) bis hin zur Umstrukturierung oder Löschung ganzer Absätze oder Artikel durch Wikipedia-Autoren.

Was sich hier zeigt, sind Überschreibungsprozesse: Wikis wie Wikipedia sind Palimpseste der Gegenwart. Dieser Umstand und jede Beurteilung des Artikelwesens in einem Wiki muss sich deshalb mit einem Prozess auseinandersetzen, der immer nur ein begrenzt gültiges Ergebnis liefern kann. Zweifelsohne ist dafür eine mehrdimensionale Herangehensweise erforderlich. Die Festlegung auf den Palimpsestgedanken erfordert nicht nur einen reflektierten Umgang mit hypertextuellen Wissenssammlungen, die die gedruckten Nachschlagewerke ablösen; auch für die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich diesem Phänomen annehmen wollen, müssen die zur Verfügung stehenden Instrumente überdacht werden. Zu fragen ist deshalb vonseiten der Textlinguistik, wie mit diesen Überschreibungen umgegangen werden kann. Diese Beschäftigung muss auch angesichts der Tatsache stattfinden, dass der Umgang mit ‚Texten‘, die über das WWW abrufbar sind, mittlerweile zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden ist. Zu dieser Selbstverständlichkeit gehört u. a. das Konsultieren von Artikeln der Wikipedia. Hier werden Merkmale sozialer Webmedien deutlich, die nicht zuletzt anhand von Textproduktionsprozessen zu verfolgen sind. Bisherige ← 12 | 13 → Untersuchungen zeigen eine Wahrnehmung dieser Tatsache, aber nicht immer deren umfassende Berücksichtigung in der erbrachten Forschungsleistung, unter anderem wohl auch deshalb, weil die dynamische Hypertextstruktur schwer zu „stabilisieren“ ist (vgl. Storrer 2008: 330).

Deutlich gemacht werden soll in der vorliegenden Untersuchung deshalb dreierlei:

Um diese Fragen zu beantworten, scheint eine Auseinandersetzung sowohl mit den Verfahren, die einer digitalen Textform zugrunde liegen können, als auch mit der Gegebenheit der Überschreibung aufgrund kollaborativer Wissensverfahren erforderlich. Damit sind weniger die Schreibprozesse gemeint (vgl. dazu Kallass 2015) als die komplexe Verschränkung online vonstattengehender Textproduktions- und Rezeptionsprozesse. Auch tritt durch die Erleichterung des Zugangs zum Textprozess, etwa durch die Bearbeiten-Funktion eines Wikis, ein Nutzer in Erscheinung, der die von ihm konsumierten Textinhalte selbst produziert (vgl. Bruns 2008: 2). Die ständige Textentwicklung und ihre prinzipielle Unabgeschlossenheit scheint dabei ein zufälliges Randprodukt zu sein; denn Inhalte im Internet bleiben per se nicht mehr für längere Zeit unverändert und unbearbeitet. Es findet ein schnelles Ineinandergreifen verschiedenster Prozesse statt, die ehemals, etwa aufgrund der Drucktechnik, getrennt verliefen. Diese Studie versucht an mehreren Stellen, wesentliche Hinweise zu geben, wie mit diesen Text- und Wissensverfahren in einem kollaborativen Hypertext umgegangen werden kann.

Zunächst soll es deshalb darum gehen, verschiedene textlinguistische Aspekte einer digitalen Textform in Bezug auf Rezeption, Produktion und Organisation zu verdeutlichen (Kapitel 1). Die Faktoren für eine dynamische und kollektive Textualität werden durch eine Erläuterung von Nachschlagesystemen ergänzt. Textform und Nachschlagesystem einerseits sowie Rezeptions- und Produktionsmöglichkeiten des Nutzers andererseits führen zu einer soziotechnisch geprägten Wissenssammlung. Nur so können die Dimensionen der Überschreibungsprozesse verdeutlicht werden, die dadurch verstärkt werden, dass sich durch die offene hypertextuelle Form umfassende Nutzungs- und Einwirkungsmöglichkeiten ergeben. ← 13 | 14 →

Zudem muss beachtet werden, dass Text- und Wissensverfahren in einem hypertextuellen Kontext innerhalb konvergenter Rahmenbedingungen zu verorten sind (Kapitel 2). Diskutiert werden muss also sowohl die mediale Umgebung Hypertext als auch die Bedingungen, die sich für das Textverständnis ergeben. Ein Hypertextsystem wie das der Wikis wird beispielsweise verwendet, um einen Wissensbestand zu dokumentieren und durch eine bestimmte Organisation von Informationselementen verfügbar zu halten. Diesem offenen technischen Umfeld ist es geschuldet, dass Hypertextsysteme Funktionen anbieten können, durch die ihre Inhalte ständig erweiterbar und reproduzierbar sind. Ein erhebliches Potenzial von Wikipedia ist darüber hinaus wohl darin zu sehen, dass es nicht nur mittelbare, sondern auch immer mehr unmittelbare Beteiligte des erzeugten Produktes (Wiki) gibt. Der große Produzenten- und vor allem Nutzerkreis bedingt ein vielfältiges Themenspektrum, das bei traditionellen redaktionellen Systemen (d. h. in einem typografischen Medium) kaum mehr möglich wäre. Außerdem nimmt der Nutzer in seiner Rolle als Produzent in einer Wiki-Architektur unterschiedliche Aufgaben wahr, bei denen es sich neben der Artikelerstellung auch um technische, wie z. B. die Erstellung von Formatvorlagen, oder administrative Aspekte, wie das Löschen von Seiten oder die Sperrung von Benutzern, handeln kann. Eine Auseinandersetzung muss deshalb auch dahingehend erfolgen, welches Wissenskonzept durch diese medialen Bedingungen deutlich wird. Wenn durch Kommunikation, ständigen Austausch und Überschreibung Informationen oder Wissensinhalte zu einem überindividuellen und kontinuierlich erneuerbaren Wissen werden, dürften sich Dynamiken und Regularitäten nicht zuletzt an den gewählten Mitteln der Kohärenz zeigen. Es ist ferner auf drei Punkte zu verweisen, die für die (text-)linguistische Erfassung von kollaborativ erstellten Hypertexten bedeutsam werden. Zu diesen zählen: Austausch- und Überschreibungsprozesse, Oberfläche und Textvernetzung und Medienkonvergenz und Multimedialität.

An die erörterten Rahmenbedingungen soll eine Modellvorstellung anknüpfen, die bestimmte Aspekte von Text- und Wissensverfahren in einem kollaborativen Hypertext unterstreicht (Kapitel 3). In den Mittelpunkt der Betrachtung rücken hier insbesondere die hypertextspezifische Kohärenz sowie der Hyperlink, der in mehrerlei Hinsicht erheblich zu einem hypertextuell begründeten Stimmigkeitskonzept beiträgt. Die Position, die Hyperlinks in einem Wikisystem einnehmen, ist ferner als ein wesentliches Element des kollaborativen Konzeptes zu verstehen, das ein Spannungsverhältnis zwischen systemischen und funktionalen Aufgaben ausdrückt. ← 14 | 15 →

Für eine methodische Annäherung und die Frage, wie Überschreibungsprozesse erfasst werden können, bietet sich aus textlinguistischer Perspektive die Themensetzung als Textvorgabe an: Diskutiert wird deshalb neben einer framesystematischen Herangehensweise eine funktional-thematische Vorgabe durch die Quaestio sowie die Möglichkeiten einer dynamischen Perspektive, die gleichzeitig bestimmte Regularitäten verdeutlichen kann (Kapitel 4).

Die Versionsgeschichten der Wikipedia ermöglichen es, die Entwicklung eines Artikel- oder Themenspektrums auch in Retrospektive nachzuvollziehen. Die Analyse wird daher anhand zweier Artikelbeispiele der Wikipedia (‚Zitronenpresse‘ und ‚Eurokrise‘) Überschreibungsprozesse aufzeigen. Notwendig erscheint ein stark problemorientiertes Vorgehen, das eine regelmäßige Überprüfung des Artikeltextzustandes durch Anlage einer Framesystematik sowie verschiedene Aspekte des Komplexbereichs des kollaborativen Hypertextes vorsieht. Es zeigt sich, dass sich für Text- und Wissensverfahren musterhafte Veränderungen, Modifikationen und Entwicklungen in Form von Artikelinhalten und -positionen ablesen lassen. Daneben wird deutlich, dass in Bezug auf Wiki-Artikel immer Aushandlungskohärenzen und Aufmerksamkeitsregeln mit bedacht werden müssen, da sie untrennbar zum Artikelkonzept gehören. Für den (text-)linguistischen Umgang mit den neuen Prinzipien und Konventionen des gesellschaftlich relevanten Wissens können damit wichtige Anhaltspunkte formuliert und grundlegende Bezüge und Zusammenhänge veranschaulicht werden. ← 15 | 16 →


1 Wobei nicht grundsätzlich verschiedene Auflagen von Nachschlagewerken miteinander verglichen werden können. Herausgeber- und Bearbeiterwechsel können hier größere Auswirkungen auf die Gesamtkonzeption einer Neuauflage haben. Wenn man sich etwa die Konzeption des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm und die der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs vor Augen hält, müsste in der Tat gefragt werden, ob man es (editionsphilologisch) mit zwei unterschiedlichen Fassungen eines Werks oder zwei unterschiedlichen Werken zu tun hat.

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1.  Textdynamiken in soziotechnischen Wissensüberschreibungen

1.1  Soziotechnisch geprägte Wissenssammlungen

Als gesellschaftliche Konstitutions- und Organisationsform von Wissen2 nehmen seit dem Buchdruck gedruckte Texte3 eine zentrale Stellung ein (vgl. Antos 1997: 61). Sie können regelrecht verstanden werden als technische Teilkomponente einer soziotechnisch geprägten Wissenssammlung4 (s. a. Niederer/van Dijk 2010), in der Texte in Verbindung mit Textproduzenten und -nutzern eine Einheit bilden. In Anbetracht neuerer und leistungsfähigerer Formen von Wissenssammlungen ist zwar zu beobachten, dass Texte, vor allem gedruckte, die lange Zeit in alltäglicher Regelmäßigkeit konsultiert worden sind, wie z. B. mehrbändige Nachschlagewerke oder auch die Tageszeitung, aufgrund der rasenden Entwicklung möglicher Informationsangebote des WWW nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Doch auch für neuere, webbasierte Strukturformen spielen Textformen, als technische Teilkomponente einer soziotechnisch geprägten Sammlung, wenn auch nicht mehr unbedingt in Druckform, eine bedeutende Rolle. Es darf geradezu unterstellt werden, dass mehr denn je ein starker Zusammenhang zwischen operativer Kommunikation und der Sozialität ihrer Träger sowie eine Verbindung zwischen Wissenssammlungen und deren medialer Disposition besteht, für dessen Beobachtung mögliche Textformen zwingend einbezogen werden sollten. Innerhalb einer soziotechnisch geprägten Wissenssammlung scheint zudem eine Art Entgrenzung wichtig zu werden: Aufgehoben oder von Auflösung betroffen zeigen sich dabei insbesondere die Grenzen von Experten- zu Nutzerkultur und damit zusammenhängend die von Stabilität zu Vorläufigkeit. ← 17 | 18 →

Historisch gesehen sind mit den zu verzeichnenden strukturellen Entwicklungen zumindest zwei prominente und oft genannte Beispiele verknüpft, auf die kurz hinzuweisen ist. Zum einen ist der Mythos um die Urform der Universalbibliothek im antiken Alexandria zu nennen, also das Ideal einer Sammlung, die das gesamte Wissen einer Epoche gespeichert hatte und jegliches Wissen umfassen konnte. Die Mythen, die sich um Alexandria und ihren Untergang ranken, mögen nicht zuletzt Inspiration für viele ihr folgenden Projekte für Wissenssammlungen gewesen sein (vgl. O’Sullivan 2009: 23).

Zum anderen ist auf die Mitte des 18. Jahrhunderts und den Versuch d’Alemberts und Diderots zu verweisen, das Wissen der Menschheit zu erfassen und effektiv verfügbar zu machen. Hier ging es einer heterogenen Gruppe von Beitragenden jedoch nicht allein darum, Wissen zu sammeln und aufzuzeichnen, sondern es auch zu transformieren (vgl. Giesecke 1991: 667). Nur ein Symptomwert dieser Transformation ist wohl die Darstellung der Encyclopédie-Artikel in alphabetischer Reihenfolge; wobei diese Anordnung wieder durch ein komplexes System von Querverweisen bis zu einem gewissen Grade aufgehoben worden ist.5 Die Technik der Anordnung steht ferner für einen aufklärerischen, gesellschaftlich-kulturellen Blickwechsel: An die Stelle einer hierarchischen, aber auch organischen Weltsicht, auf der auch der ‚Baum des Wissens‘ beruhte, trat zunehmend eine individualistische und egalitäre. Die Ausrichtung des Inhalts stand damit prägend für eine Form, die veränderte Zugänge zu Wissen und Methoden der Wissensansammlung erprobte.

Kommerzialisierung und Popularisierung zeigen über die Zeit betrachtet allerdings, dass enge und feste Strukturen einem umfassenden Wissensdrang nicht gerecht werden (vgl. Krameritsch 2007: 228). Ein Nachschlagewerk wie die Encyclopédie lässt sich durch die Lesepraxis nur einmal mehr als Buch bestimmen, das nicht dazu da ist, von vorne bis hinten durchgelesen, sondern bei Bedarf konsultiert zu werden. Deutlich wird jedoch auch, dass strukturelle Veränderungen notwendig werden, wie die alphabetische Struktur, die es sowohl gestattete, neue Inhalte umstandslos einzuarbeiten als auch die Nachschlagepraxis nach einem durchsichtigen Prinzip zu erlauben. Nicht zuletzt ist zu betonen, ← 18 | 19 → dass das Projekt Encyclopédie auf einem kollaborativen Bemühen fußte, nicht nur bezüglich der Schreibleistung, sondern auch im Hinblick auf die technische Umsetzung.

Auswirkungen neuerer Entwicklungen soziotechnisch geprägter Wissenssammlungen stehen dann auch in einem engen Zusammenhang mit eben jener technischer Umsetzung: Wenn die gedruckte Expertenmeinung, die über Jahrzehnte (wenn nicht gar Jahrhunderte) Bestand hatte, praktisch in Auflösung begriffen ist, müssen sich Fragen der Zuverlässigkeit einer neuen Realität stellen. Denn solange noch die faktischen Grenzen des Drucks dazu geführt haben, dass nur ein bestimmtes und als wesentlich betrachtetes Wissen an die Oberfläche gelangte, fand in dieser vollzogenen Kürzung ein Prozess der kulturellen Überformung und Determiniertheit statt (vgl. auch Weinberger 2011: 66f.). An die Stelle der Expertenmeinung tritt nun eine Art vorläufige Verlässlichkeit des Web 2.0 – das „Wissen bis auf Widerruf“ (Iske 2002: 64).

Damit rückt der Nutzer in den Mittelpunkt der soziotechnischen Wissenssammlung. Er selbst ist es mittlerweile, der einen Schlusspunkt hinter ein sich in ständiger Transformation befindendes und prinzipiell als unabgeschlossen geltendes Wissen setzen kann. Und es sind auch die Empfehlungskulturen und Netzwerkautoritäten, die bestimmen, was an die Oberfläche des immensen Wissensvorrats gelangt (vgl. Weinberger 2011: 179). Im Zeitalter des Internets und des ‚Klicks‘ machen damit Individuen, Gruppen, soziale Netze und Algorithmen die alleinige Kompetenz der traditionellen Experten6 und (gedruckten) Enzyklopädien streitig.

Details

Seiten
343
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653066418
ISBN (ePUB)
9783653951431
ISBN (MOBI)
9783653951424
ISBN (Hardcover)
9783631671795
DOI
10.3726/978-3-653-06641-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Digitaler Text Wissen Aufmerksamkeitslenkung Hypertext
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 343 S., 52 Tab., 16 Graf.

Biographische Angaben

Nathalie Mederake (Autor:in)

Nathalie Mederake studierte Germanistik, Rechtsgeschichte und Soziologie in Göttingen und Turku, Finnland. Seit ihrem Studium ist sie sowohl in der Sprachberatung als auch in einem Wörterbuchprojekt beschäftigt. Neben ihrer lexikografischen Tätigkeit betreut sie verschiedene Arbeitsgruppen im Bereich der (Wörterbuch-)Digitalisierung.

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