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Gesellschaften in Bewegung

Literatur und Sprache in Krisen- und Umbruchzeiten

von Ernest W.B. Hess-Lüttich (Band-Herausgeber:in) Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in) Kathleen Thorpe (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 429 Seiten

Zusammenfassung

Wie werden Aufstände, Rebellionen, Revolutionen, Systemwechsel, Krisen und Umbrüche in Gesellschaften in Literatur und Sprache reflektiert? Welchen Beitrag leisten Texte, Filme und andere Medien im sozialen Wandel? Wie wird Afrika in Europa und umgekehrt Europa in Afrika gesehen? Bedeutet die Globalisierung das Ende der Postkolonialität? Wie werden Identifizierungen zu Identitätskonstruktionen und wie werden sie diskursiv umgesetzt? Welche Rolle spielt Sprache für die Konstruktion von Identität in mehrsprachigen Kontexten? Welchen Stellenwert haben Übersetzungen? Wie verändern sich Sprachen und was sagen sie über die jeweiligen gesellschaftlichen Prozesse aus? Antworten auf solche Fragen geben Beiträge internationaler Experten interkultureller Germanistik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Gesellschaften in Bewegung Ein Kurzbericht zur GiG-Tagung 2013 in Johannesburg
  • I Umbruch, Aufstand, Genozid
  • Vom Nutzen der Geschichte in Zeiten des Umbruchs Hermann Giliomee und "Die Afrikaner"
  • Das Unfassbare erzählen Der Völkermord in Ruanda 1994 und die schöne Literatur
  • Trauma, Stigma, Völkermord 'Zigeuner' als Grenzfiguren im kollektiven Gedächtnis
  • II Revolte, Revolution, Systemwechsel
  • Die Revolution als Posse Politik und Komik in Goethes Lustspiel Der Bürgergeneral (1793)
  • "Das Land, dem Meißen angehört, heißt Sachsen!" Kleist und die Entstehung des Nationalismus in 'Deutschland'
  • Globaler Systemwechsel an Hochschulen Die kommunikative Durchsetzung universitären Organisationswandels am Beispiel einer finnischen Mitarbeiterzeitung
  • III Wendezeiten
  • Deutschsprachige Literaturen nach der Wende 1989 Kontinuität oder Neubeginn?
  • Phasen des Übergangs Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts und Der Ausgang. Alis Brief, der voller unerwarter Freude ist von Ezz El-Din Shokry Fashir
  • Erzählen von Wende-Zeiten: zwischen Lebensgeschichte und Zeitgeschichte Julia Schochs Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers
  • Die tragische Wiederkehr des Verdrängten in Antje Rávic Strubels Post-Wende-Roman Sturz der Tage in die Nacht
  • IV Afrika in Europa – Europa in Afrika
  • Westliche Zivilisation versus Afrika Postkoloniale Motive in Urs Widmers Roman Im Kongo
  • Kontinent der Katastrophen? Wider die stereotypen Afrika-Klischees in den Medien
  • Literarische Globalität Kulturelle Verschränkungen in Abdourahman Waberis Tor der Tränen
  • V Heimat, Aufbruch, Fremde
  • Konstruktionen von Heimat Hedda Zinner, Anna Seghers, Christa Wolf, Jenny Erpenbeck
  • "Meine Wurzeln haben Knoten" – Poet(olog)ische Verwurzelung in Wendezeiten
  • Heimat und multiple Identitäten Repräsentationen der Alterität im Film Geschwister von Thomas Arslan
  • Auf der Suche nach dem Unerreichbaren Heimat und Aufbruch in zwei Romanen von Alex Capus
  • Zwei Heimatländer und die Schein-Demokratie Ilija Trojanow Hundezeiten und Angriff auf die Freiheit
  • VI Unterwegs – zu neuen Ufern
  • Bewegung und/als Inversion Yoko Tawada, Thomas Stangl und Hans Christoph Buch
  • Zülfü Livanelis Glückseligkeit und die Emanzipation Ein Beitrag zum Kulturkampf in der türkischen Literatur
  • "Der Fortschritt überall"? Der Neuruppiner Bilderbogen im Dienste der Aufklärung
  • VII Sprache und Identität: Mehrsprachigkeit, Sprachmischung, Übersetzung
  • Spiel mit Sprachen und Identitäten Eine Vision für die mehrsprachige Literatur- und Kulturdidaktik
  • Tripolis Praga Die Autoren der Prager deutschen Literatur als (kulturelle) Übersetzer
  • Sprachen in Bewegung: Mehrsprachigkeit und Identität Sprachwandel und Sprachverlust in Cameroun
  • "Yekerta, ich bin betàm busy" Mehrsprachigkeit beim Spracherwerb äthiopischer Deutschlerner
  • Nicht erklärt und doch gemischt? Zu deutsch-schwedisch-englischer Sprachmischung in E. T. A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun
  • VIII Sprache(n) in Bewegung
  • Afrikanische Literatur und ihre deutsche Übersetzung Zu ihrem Stellenwert im DaF-Unterricht südlich der Sahara
  • Wolof als Amts- und Unterrichtssprache im Senegal? Eine Kontroverse in der mehrsprachigen Gesellschaft
  • Vom Wandel des Arabischen
  • "Der Koran ist göttlich, seine Interpretationen jedoch sind Menschenwerke" Sprache der Verständigung – Verständlichkeit des Koran
  • Autorenverzeichnis
  • Reihenübersicht

Ernest W. B. Hess-Lüttich

Gesellschaften in Bewegung

Ein Kurzbericht zur GiG-Tagung 2013 in Johannesburg

Da dieser Band nur einen Ausschnitt abbilden kann aus dem breiten Spektrum der Aspekte, die im Rahmen der GiG-Tagung 2013 in Johannesburg zum Thema Gesellschaften in Bewegung verhandelt wurden, sei hier in bewährter Tradition statt einer Einführung ein kurzer Überblick gegeben über die bei dieser Gelegenheit im gediegenen Wits Club der University of the Witwatersrand gehaltenen Vorträge.1

Die Tagung wurde eröffnet mit einem Plenarvortrag von Gunther Pakendorf (Kapstadt), der unter dem Titel "Vom Nutzen der Geschichte in Zeiten des Umbruchs" das Werk des Historikers Hermann Giliomee würdigte, über dessen 2003 in erster Auflage erschienenes Monumentalwerk The Afrikaners. Biography of a People im Zusammenhang mit der Neubewertung der südafrikanischen Geschichte und der Legitimationskrise der afrikaanssprachigen Weißen sogleich heftig debattiert wurde. Das Ende der Apartheid war noch lebhaft in Erinnerung. Insbesondere der afrikaanssprachige Teil, der seine Machtansprüche in den Dekaden zuvor noch mit großem ideologischem Aufwand zu rechtfertigen suchte, sie jedoch nur noch mit zunehmender Gewalt aufrechterhalten konnte, empfand den Verlust von Einfluss und Ansehen als existentiell bedrohend. Viele wanderten aus, eine Wahrheitskommission untersuchte die Verstöße gegen die Menschenrechte und die Rolle der reformierten Kirche in der Zeit der Apartheid, in afrikaanssprachigen Zeitungen wurden scharfe Auseinandersetzungen geführt über die Zukunft der afrikaansen Sprache, eine Debatte, die z. T. bis heute anhält.

1   Aufstände und Umbrüche

Die erste Sektion wurde eröffnet von Leyla Coşan (Marmara Üniversitesi Istanbul) mit einen Referat über den 1936 erschienenen Roman Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt von Stefan Zweig. Unter dem Titel "'Die Mücke ← 13 | 14 → gegen den Elefanten' oder das Individuum gegen Staatsgewalt" untersuchte sie Zweigs Ansatz, anhand der Biographie von Castellio (einem mittellosen Humanisten des 16. Jahrhunderts), der sich gegen geistige Tyrannei, Fanatismus und Diktatur auflehnte, den aussichtslosen Widerstand eines Einzelnen gegenüber einem Staatsapparat zu veranschaulichen und damit natürlich den Faschismus seiner Zeit meinte. – Sayed Hammam (al-Azhar Universität Kairo) beschrieb anschließend den Einsatz neuer Kommunikationsmittel und sozialer Medien wie Facebook und Twitter zur Mobilisierung der Kritiker des Mubarak-Regimes in der ägyptischen Revolution vom 25. Januar 2011. – Nahla Hussein (Helwan Universität Kairo) verglich die beiden Romane In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) von Eugen Ruge und Die Agenda von Sayed El-Ahl (2011) von Ahmed Sabry Abu El-Fotouh im Hinblick auf ihre literarische Verarbeitung der Umstände, die in Deutschland 1989 zum Untergang der DDR und 2011 in Ägypten zum Sturz des Mubarak-Regimes führten. – Manar Omar (Helwan Universität Kairo) fragte anhand von literarischen Beispielen wie Uwe Timms Roman Der Freund und der Fremde (2005) nach den Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschen Benno Ohnesorg, dem Tunesier Mohammad Al-Bouazizi und dem Ägypter Khaled Said in ihrer Bedeutung als Symbolfiguren der 68-Studentenbewegung einerseits und des sog. Ägyptischen Frühlings andererseits.

Am folgenden Tag wurde die Sektion fortgesetzt mit einem Vortrag von Rolf Annas (University of Stellenbosch) über "Südafrikanische Kinder in Zeiten des Umbruchs", in dem er die unterschiedlichen Lebenserfahrungen im Hinblick auf Zugehörigkeit und Erfahrungen des Anderen im Kontext einer erzwungenen kulturellen 'Homogenität' untersucht anhand von drei Texten aus der Kinder- und Jugendliteratur: Meine Mutter war eine schöne Frau, ein Comic-Roman von Karlien de Villiers, in dem sie die Geschichte der kleinen (weißen) Karla und ihrer Familie bis zum Ende der Apartheid darstellt, Long Walk to Lavender Street. A Story from South Africa von Bellinda Hollyer, die sich mit den Auswirkungen des Group Areas Act auf eine "gemischte" Familie befasst und Journey to Jo'burg. A South African Story von Beverley Naidoo, die die Erfahrungen der kleinen Naledi aus einer Township für Schwarze nahe Johannesburg schildert. – Pradnya Bivalkar (z. Zt. Universität Tübingen) ging der Frage nach, welche Assoziationen Begriffe wie 'Nation' oder 'Nationalismus' in einem so multikulturellen und polylingualen Land wie Indien auslösen und trug dafür Beispiele aus Texten von Günter Grass, V. S. Naipaul, Sashi Tharoor und Ilija Trojanow zusammen, in denen Umbrüche, Systemwechsel, Aufstände in Indien literarisch reflektiert werden. – Sibèle Paulino (Universidade Federal do Paraná, Curitiba, Brasilien) behandelte in ihrem Beitrag den Roman Tropen (1915) von Robert Müller, in dem eine Expedition ← 14 | 15 → von Abenteurern geschildert wird, die am Anfang des 20. Jahrhunderts im Amazoniengebiet Zeuge eines indianischen Aufstands werden. Dieser historisch nicht belegbare Aufstand sei ein Symbol der Nervosität der Europäer angesichts von bevorstehenden Umbrüchen in Zeiten kolonialistischer Spannungen.

Unter dem lapidaren Titel "Frauen und Politik" schilderte Nazire Akbulut (Gazi Üniversitesi Ankara) die politischen Umbrüche nach der Ablösung des Osmanischen Reiches durch die Gründung der Republik 1923 und die gesellschaftspolitischen Reformen Mustafa Kemal Atatürks, wie sie in Autobiographien türkischer Autorinnen (wie Sevim Belli oder İsmet Kür) behandelt werden. – Den "Frauen in Bewegung" war auch der Beitrag von Kathleen Thorpe gewidmet, in dem sie der Frage nachging, ob und inwieweit die Frauenbewegung und ihre feministischen Anliegen in der Gegenwartsliteratur von Autorinnen noch eine Rolle spielen. – Aktuelle Literatur interessierte auch Antoaneta Mihailova (Süd-West-Universität Neofit Rilski, Blagoevgrad, Bulgarien), die die Romane Fast ein bisschen Frühling (2004) und Reisen im Licht der Sterne. Eine Vermutung (2007) des Schweizer Schriftstellers Alex Capus interpretierte.

Am Nachmittag setzte Anette Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg) das Sektionsprogramm fort mit ihrem Beitrag über Antje Rvic Strubels neuen Post-Wende-Roman Sturz der Tage in die Nacht (2011). – Hans-Christoph Graf von Nayhauss (PH Karlsruhe) lieferte in seinem Blick auf die Literatur nach der Wende 1989 dazu den Kontext. – Wendezeiten anderer Art widmete sich Beate Laudenberg (PH Karlsruhe), die am Beispiel von 'Heimat'-Gedichten von Cyrus Atabay, May Ayim, Zehra Cirak, Nevfel Cumart, Aysel Özakin und Yoko Tawada die Entwicklung der Immigrantenlyrik und ihre Poetik bis in die Gegenwart hinein nachzeichnete.

Unter dem Titel "Postkolonialismus, Hybridität und Subversion" spürte Akila Ahouli (Université de Lomé, Togo) dem subversiven Potenzial kolonialer Identitäten in Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811) nach. – Peter Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg) las Kleists politische Schrift Katechismus der Deutschen (1809) vor dem Hintergrund des politischen Umbruchs durch die französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, eine Zeit, in der ein deutscher Nationalismus entsteht, der keine politische Realität spiegelt, aber in Texten von Kleist, Fichte, Körner literarischen Ausdruck findet. Auf diesen Nationalismus, der eher eine Ähnlichkeit mit den antikolonialen Befreiungskriegen des 20. Jahrhunderts habe, berufe sich zu Unrecht der Wilhelminische Nationalismus des 19. Jahrhunderts und der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts, während für Kleist eher die Volksaufstände und der Guerillakrieg in Tirol und Spanien Vorbild gewesen seien. – Auf die Französische Revolution reagierten deutsche Autoren sehr unterschiedlich: Zu den Gegnern ← 15 | 16 → des Umsturzes gehörte Goethe, der die Ereignisse des Jahres 1789 und ihre Folgeerscheinungen in zahlreichen Werken behandelt hat, darunter das bis heute kaum rezipierte Lustspiel Der Bürgergeneral (1793), auf das sich Stefan Hermes (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) in seinen Überlegungen zum intrikaten Zusammenhang von politischer Revolutionskritik einerseits und literarischer Komik andererseits bezog.

Zeitlich parallel zu diesen drei Beiträgen interpretierte Max Florian Hertsch (Hecattepe Üniversitesi Ankara) im Raum nebenan Zülfü Livanelis Buch Glückseligkeit (2008) als Darstellung eines Emanzipationsversuchs der Protagonistin von konservativer Familie und religiösem Normenkorsett. – Ali Osman Özturk (Konya Üniversitesi) betrachtete die orientalisch-exotischen Bilderproduktionen der Neuruppiner Druckereien (in Brandenburg-Preußen) und fragte danach, welche Reaktionen die positivistischen Kontroversen um die evolutionstheoretischen Ansätze im 19. Jahrhundert in der Bevölkerung ausgelöst haben mögen. – Ewald Reuter (Universität Tampere) unterzog die Reorganisation der Universitäten nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen (im Zuge der sog. Bologna-Reformen) und die Methoden ihrer kommunikativen Durchsetzung einer kritischen Analyse.

Der dritte Tag begann in der ersten Sektion mit einem Vortrag von Simplice Agossavi (Université d'Abomey-Calavi, Cotonou, Cameroun), der sich den Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) von Julia Schoch vornahm, der vor dem Hintergrund der 'Wende' und der Auflösung der DDR spielt. – Withold Bonner (Universität Tampere, Finnland) ging den unterschiedlichen Konstruktionen von 'Heimat' nach in Texten der kommunistisch-jüdischen Emigrantin Hedda Zinner, die 1945 aus dem sowjetischen Exil in die Sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt war, von Christa Wolf, die sich seit der Flucht aus Landsberg/Warthe 1945 immer wieder mit ihren Heimatkonstruktionen befassen musste, und von Jenny Erpenbeck, der Enkelin von Hedda Zinner, deren Roman Heimsuchung den Leser auch nach Südafrika führt. – "Bewegung und/als Inversion bei Yoko Tawada und Hans Christoph Buch" als zwei sehr unterschiedlichen Repräsentanten interkultureller Literatur war das Thema von Dieter Heimböckel (Universität Luxemburg), der damit eine Schreibweise untersuchte, die, wie er sagte, die Bewegung in Form der Grenzüberschreitung ästhetisch interiosiere bzw. einer Inversionslogik unterziehe, mit der das Vertraute fremd und das Fremde vertraut gemacht werde. – Anhand von zwei politisch engagierten Prosatexten des deutschsprachigen Autors bulgarischer Herkunft Ilija Trojanow – Hundezeiten (1999) und Angriff auf die Freiheit (2009, zusammen mit Juli Zeh) – wies Kalina Minkova (Süd-West-Universität Blagoevgrad, Bulgarien) auf die Verwerfungen und neuen Gefährdungen der mittelosteuropäischen Demokratien nach dem ← 16 | 17 → Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialanspruchs im ehemaligen Geltungsbereich des Warschauer Pakts hin.

Kaum ein Regisseur hat die gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der Arbeitsmigration und die Entstehung türkischer 'Parallelgesellschaften' in den deutschen Metropolen so bewegend genau ins Bild gesetzt wie der deutsch-türkische Filmemacher Thomas Arslan. Seinen Film Geschwister (1996/97) nahm Mahmut Karakuş (Istanbul Üniversitesi) als Beispiel für die Ausbildung 'multipler Identitäten' und die 'Repräsentation von Alterität' innerhalb von deutsch-türkischen Familien. – Gesellschaftlichen Umbrüchen galt auch das Interesse von Meher Bhoot (University of Mumbai, Indien), die anhand des Films Der Baader Meinhof Komplex (2008) die Bedeutung des Terrors der sog. RAF (Rote Armee Fraktion, die in Deutschland fast ein Jahrzehnt lang ihr Unwesen trieb) aus postkolonialer Sicht zu bewerten und Terrorismus in terminis von Kategorien wie Identität, Nation und Heimat(losigkeit) zu untersuchen vorschlug. – Dieselbe Terror-Gruppe hat Spuren u. a. auch in der schwedischen Gegenwartsliteratur hinterlassen, wie der Beitrag von Magnus Pettersson Ängsal (Universität Göteborg) zeigte, etwa in den Unterhaltungsromanen Den demokratiske terroristen [Der demokratische Terrorist] von Jan Guillou (1987) und En annan tid, ett annat liv [Eine andere Zeit, ein anderes Leben] von Leif G. W. Persson (2003) oder im polyphon erzählten Roman Theres von Steve Sem-Sandberg (1996).

Unter dem Titel "Narratologie des Unfassbaren" untersuchte Theo Elm (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) den Niederschlag des Terrors und Völkermords in Ruanda in Romanen und Erzählungen wie jenen von Andrew Miller (Die Optimisten), Gil Coutemanche (Ein Sonntag am Pool in Kigali), Rainer Wochele (Der General und der Clown) oder Hans Christoph Buch (Kain und Abel in Afrika). – Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Anushka Gokhale (University of Mumbai, Indien) mit ihrer Analyse der Darstellung des indischen Aufstandes von 1857 gegen die britische Kolonialherrschaft im historischen Roman Wer Dornen sät (1997) von Rebecca Ryman. – Volksaufstände und Bürgerkriege waren auch das Thema von Paulo Soethe (Universidade Federal do Paraná, Curitiba, Brasilien). Ausgehend von Paul Michael Lützelers vielbeachteter Studie Bürgerkrieg global (2009) stellte er Bürgerkriege in Brasilien aus der Wende zum 20. Jahrhundert vor, deren literarischer Niederschlag im deutschsprachigen Raum erst in neuerer Zeit im Medium der literarischen Übersetzung beachtet wurde. Dabei ging es um religiös-utopisch motivierte Volksaufstände wie solchen in der Stadt Canudos im Bundesstaat Bahia, der den Stoff lieferte für Werke wie Der Krieg am Ende der Welt (1981, dt. 1982) von Mario Vargas Llosa oder Krieg im Sertão (1902, dt. 1994) von Euclides da Cunha. Auch ein Aufstand im Gefolge der deutschen Immigration in Brasilien ← 17 | 18 → wurde in einem Roman dargestellt: in Videiras de cristal (1986, dt. Reben aus Glas, noch unübersetzt) von Luiz Antonio de Assis Brasil. – Unter dem Titel "Trauma, Stigma, Völkermord. 'Zigeuner' als Grenzfiguren im kollektiven Gedächtnis" und am Beispiel des von Dani Karavan entworfenen Mahnmals für die ermordeten Roma (2008) am Berliner Reichstagsgebäude, Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl (1997), Richard Wagners Das reiche Mädchen (2007) und Martin Walsers Armer Nanosh (1989) diskutierte Herbert Uerlings (Universität Trier) zum Abschluss der ersten Sektion Fragen der Notwendigkeit, Chancen und Risiken für eine erinnerungspolitische Neuverhandlung von Trauma, Stigma und Schuldabwehr bei der Darstellung des Völkermords der Nazis an den Roma.

2   Afrika in Europa – Europa in Afrika

Die zweite Sektion wurde eröffnet von Julia Augart (Namibia University, Windhoek) mit einem Beitrag über "Das Mediale Afrika", in dem sie die Darstellung Afrikas in Reportagen ausgewiesener Afrika-Journalisten (wie Bartholomäus Grill, Michael Bitala, Marc Engelhardt, Wim Dorenbusch) vorstellte, die in ihren aktuellen Büchern ein kreativ-innovatives Afrikabild jenseits der stereotypen Katastrophenklischees zu zeichnen streben. – Dazu ist auch die Arbeit des koreanischen Arztes Lie Tae-sok zu zählen, der zwischen 2001 und 2010 im Geiste Albert Schweizers im vom Bürgerkrieg geschüttelten Südsudan Aufbauarbeit zu leisten suchte. Ihmku Kim (Seoul National University) erinnerte anhand seiner Berichte und Predigten an den 2010 mit nur 48 Jahren verstorbenen Humanisten. – Aleya Khattab (Universität Kairo) hob die Bedeutung der Reiseaufzeichnungen des Schweizer Afrikaforschers Johann Ludwig Burckhardt (1784–1817) hervor, der im Auftrag der African Society als indo-arabischer Kaufmann getarnt 18 Jahre lang Ägypten, Nubien, Syrien, Palästina und Arabien (Hedjaz) bereist hat.

Ralf Hermann (University of the Witwatersrand Johannesburg) konnte daran anschließen mit seinen Überlegungen zur Konstruktion des 'Hottentotten' in der philosophischen Anthropologie der Aufklärung anhand von europäischen Reiseberichten über die Khoisan-Völker des südlichen Afrika. – Kate Roy (University of Liverpool) interessierten die Neukonfigurationen der Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886) von Emily Ruete (geb. als Sayyida Salme, Tochter des Sultans von Oman und Sansibar) in neueren historischen Afrika-Romanen, in denen sich die orientalische Prinzessin entweder zur einheimischen (d. h. afrikanischen) Informantin oder zur umstrittenen kolonialen Schnittstellenfigur wandelt. – Vor dem Hintergrund der Kontroverse um Senait Meharis autobiographischen bzw. autofiktionalen Roman Feuerherz ging Gerda Wittmann (North-West University Potchefstroom) der Frage nach, inwieweit sich der Text unabhängig von der ← 18 | 19 → Frage seiner Authentizität stellvertretend als kollektive Geschichte der weiblichen Kindersoldaten des Bürgerkriegs in Eritrea interpretieren lasse.

Am Beispiel von Abdourahman Waberis Roman Tor der Tränen suchte Nadjib Sadikou (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) auszuloten, wie dort Identitätskonstruktion, Gesellschaftskritik und literarisch-kulturelle Verflechtungen so modelliert werden, dass die Konfluenz zwischen Europa und Afrika verdeutlicht wird. – Marianne Zappen-Thomson (University of Namibia Windhoek) ging anhand von Presseberichten, Fernsehfeatures, fiktionalen Texten und Filmen dem Verhältnis zwischen Namibia und Deutschland, zwischen dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und dem deutschen Kaiserreich seit dem 19. Jahrhundert nach und fragte danach, was diese Geschichte heute für die sog. 'deutschstämmigen' Namibier bedeute und was die junge Generation über ihre Identität und Kulturzugehörigkeit vor dem Hintergrund der Kolonisierung und der Apartheidszeit zu erzählen habe. – Die jüngste Geschichte Namibias bot auch Carlotta von Maltzan (University of Stellenbosch) die Folie für ihren Vergleich der aktuellen Kriminalromane Geiers Mahlzeit (2007), Die Stunde des Schakals (2010) und Steinland (2012) von Bernd Jaumann im Hinblick auf die Frage, wie dort politische Umwälzungen für einen kriminalistischen Plot funktionalisiert werden.

Mit einer Analyse afrikanischer Literatur aus deutschsprachiger Perspektive und deutschsprachiger Literatur aus afrikanischer Sicht suchte Lacina Yéo (Université de Cocody-Abidjan, Côte d'Ivoire) den interkulturellen Dialog zwischen Subsahara-Afrika und dem deutschsprachigen Raum zu erkunden. – Ein ähnliches Ziel verfolgte Manfred Durzak (Universität Paderborn) mit seiner Lektüre des Afrika-Romans Im Kongo von Urs Widmer, in dem dieser neben die negativ akzentuierte Wahrnehmung des kolonial ausgebeuteten Afrika bei Joseph Conrad (Herz der Finsternis) eine naturgeschichtliche Utopie zu stellen suche, die allerdings im gegenwärtigen Zustandsbild Afrikas keine Entsprechung mehr finde. – Von Urs Widmers Schweizer Afrika-Phantasie bis zu Stephan Wackwitz' deutschem Familienroman Ein unsichtbares Land werden in zahlreichen Texten der Gegenwartsliteratur Kolonialgeschichte(n) verhandelt, in denen nach der Auffassung von Matthias Lorenz (Universität Bern, Schweiz) freilich oft ein nur europäischer, zuweilen spezifisch nationaler (schweizerischer, deutscher, österreichischer) Blick auf den Kontinent und seine Menschen geworfen werde. Demgegenüber habe Hans Christoph Buch sich mit seinem Roman Sansibar Blues zwei indigene Perspektiven erschrieben: die des omanischen Sklavenhändlers Tippu-Tip und der sansibarischen Sultanstochter Sayyida Salme alias Emily Ruete. In seinem Vortrag rekonstruierte Lorenz, wie der Autor in seinem literarischen Verfahren eine Gegenperspektive zur europäischen zu fingiere, und vergleicht es mit dem von Christian Kracht, wenn er in seinem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten indigene Figuren erzählen lässt. ← 19 | 20 →

3   Sprachen in Bewegung

Die dritte Sektion versammelte die Beiträge aus dem Bereich der germanistischen Sprach-, Medien- und Übersetzungswissenschaft. Den Anfang machte Jacqueline Gutjahr (Universität Göttingen) mit ihrem Vortrag über "Poetische Übersetzungsprozesse und mediale Übergänge" bei Yoko Tawada. – Andreas F. Kelletat (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) plädierte für einen neuen Umgang mit der disziplinsystematischen Verortung der Reflexion von Übersetzungen literarischer Texte aus anderen Sprachen ins Deutsche. – Yeon-Soo Kim (Ewha Institute for the Humanities Seoul) befasste sich in ihrem Vortrag mit der kulturellen Wirkung literarischer Übersetzungen anhand der koreanischen Rezeption der Dramen Ibsens (Nora, Ein Puppenheim) im Kontext Ostasiens. – Manfred Weinberg (Karls-Universität Prag) stellte Autoren der Prager deutschen Literatur als (kulturelle) Übersetzer vor und hob im Anschluss an Eduard Goldstücker ihre "kulturelle Vermittlerrolle zwischen Tschechen und Deutschen" hervor.

Christine Andersen (Universität Göteborg) berichtete über ein Projekt zur Sprachstandserhebung in Sprachgemeinschaften deutschsprachiger Minderheiten in Russland (russkie nemzy, sog. 'Russlanddeutsche), in dem insbesondere den Sprach- und Identitätswechsel deutschstämmiger Frauen in den sibirischen Dorf Krasnoyarsk beobachtet wird. – Andrea Bogner und Barbara Dengel (Universität Göttingen) untersuchten wissenschafts(sprach)kulturelle Identitäten in mehrsprachigen Konstellationen, um zu klären, welche Strategien und Möglichkeiten der Übersetzung dabei zum Einsatz kommen, welche Veränderungen Konzepte von Wissenschaft(lichkeit) in diesen 'wissenschaftsmigratorischen' Prozessen erfahren und welche Möglichkeiten anderer als monolingualer Praxen sich daraus für die Wissenschaftskommunikation entwickeln lassen. – Joseph Mbongue (Université de Yaoundé, Cameroun) informierte über die komplexe Sprachvielfalt in seinem Land, in dem 'kleinere Sprachen' sich gegenüber 'größeren' zu behaupten suchen. – Astrid Starck-Adler (Université de Haute Alsace, Mulhouse) suchte nach Spuren des Jiddischen im vielsprachigen Südafrika.

In seinem Plädoyer für eine Integration literarischer Texte in die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache im francophonen Kontext des Sub-Sahel warb Jean-Claude Bationo (Université de Koudougou, Côte d'Ivoire) für die Entwicklung einer Didaktik der literarischen Übersetzung. – Knuth Noke (Goethe Institut Johannesburg) beschäftigte sich mit der Praxis der Mehrsprachigkeit und den Möglichkeiten ihrer Förderung. – Dakha Deme (Université Cheikh Anta Diop de Dakar, Senegal) engagierte sich für die Förderung afrikanischer Kultursprachen (wie Bamanan, Fulfulde, Kiswahili) als linguae francae neben den Kolonialsprachen (Englisch, Französisch, Portugiesisch) in den Großregionen ← 20 | 21 → des Kontinents. – Mamadou Diop (Université Cheikh Anta Diop de Dakar, Senegal) spezifizierte dieses Problem am Beispiel des Wolof in seinem vielsprachigen Land. – Am Beispiel des Sprechverhaltens von Deutschstudenten in Äthiopien untersuchte Jana Zehle (Addis Ababa University, Äthiopien) den Registerwechsel (language crossing, code switching) in der Praxis mehrsprachiger Konstellationen.

Details

Seiten
429
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065800
ISBN (ePUB)
9783653951493
ISBN (MOBI)
9783653951486
ISBN (Hardcover)
9783631671740
DOI
10.3726/978-3-653-06580-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Sozialer Wandel Afrika und (Post-)Kolonialismus Sprachwandel Interkulturelle Germanistik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 429 S.,4 s/w Abb., 21 Graf.

Biographische Angaben

Ernest W.B. Hess-Lüttich (Band-Herausgeber:in) Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in) Kathleen Thorpe (Band-Herausgeber:in)

Ernest W.B. Hess-Lüttich, Honorarprofessor für Linguistik an der TU Berlin, Honorarprofessor für Germanistik an der Universität Stellenbosch, Professor emeritus für Germanistik an der Universität Bern. Carlotta v. Maltzan, Professorin für Germanistik an der Universität Stellenbosch, Herausgeberin der Acta Germanica, Mitherausgeberin von Jahrbuch für Internationale Germanistik. Kathleen Thorpe, Professorin für Germanistik an der Universität Witwatersrand in Johannesburg, Leiterin der Abt. Germanistik an der School of Language, Literature and Media.

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Titel: Gesellschaften in Bewegung
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