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Die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG im System des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts

von Sebastian Klabunde (Autor:in)
©2015 Dissertation 290 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch behandelt die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung. Mit der Pflicht zur Abgabe der Entsprechenserklärung nach §161 AktG hat der Gesetzgeber eine normative Brücke zum DCGK geschlagen. Für Kapitalmarkt und Aktionäre bildet die Entsprechenserklärung eine wesentliche Informationsquelle für unternehmensinterne Corporate Governance. Wie sich Fehler in der Entsprechenserklärung auf Beschlüsse der Hauptversammlung auswirken, ist von der Rechtsprechung nur partiell entschieden. Der Autor zielt auf eine dogmatische Einordnung der fehlerhaften Entsprechenserklärung in das bestehende Beschlussmängelrecht unter Berücksichtigung der bisherigen Gerichtsentscheidungen sowie der im Schrifttum hierzu geführten Diskussionen. Einbezogen werden auch Auswirkungen von möglichen Reformen des Beschlussmängelrechts auf diese Einordnung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung
  • I. Problemstellung.
  • II. Gang der Untersuchung
  • Teil 1: Der Deutsche Corporate Governance Kodex und § 161 AktG
  • § 2 Corporate Governance in Deutschland
  • I. Der Begriff Corporate Governance
  • II. Funktion der Corporate Governance im anglo-amerikanischen Rechtskreis
  • III. Entwicklung in Deutschland
  • 1. Die Rolle zwingenden Gesetzesrechts
  • 2. Änderung der Aktionärsstruktur
  • 3. Funktion und Funktionsentwicklung des Kodex
  • 4. Struktur, Rechtsnatur und Fortentwicklung des Kodex
  • a. Struktur des Kodex
  • b. Rechtsnatur der Kodexregelungen
  • c. Änderungen des Kodex
  • 5. Der Kodex als Einfallstor des Shareholder-Value-Ansatzes?
  • IV. Europäische Entwicklungen
  • 1. Grünbuch Corporate Governance für Finanzinstitute
  • 2. Grünbuch Europäischer Corporate Governance Rahmen 2011
  • 3. Mitteilung der Kommission vom Dezember 2012 sowie Änderungsvorschlag zur Aktionärsrichtlinie
  • 4. Stellungnahme zu Europäischen Corporate Governance Bestrebungen
  • V. Stimmrechtsberater als Corporate Governance-Mittler
  • VI. Zusammenfassung
  • § 3 Die Inkorporierung des Kodex durch § 161 AktG
  • I. Gesetzgeberische Entwicklung.
  • II. Erklärungs- und Begründungspflicht
  • 1. Erklärungsinhalt.
  • 2. Organzuständigkeit und Beschlussfassung.
  • a. Beschlussgremium.
  • b. Organzuständigkeit
  • c. Stellungnahme.
  • 3. Begründungspflicht.
  • III. Aktualisierungspflicht.
  • IV. Bindung der Organe durch die Entsprechenserklärung?
  • V. Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des § 161 AktG.
  • VI. Die Entsprechenserklärung als Teil des handelsrechtlichen Berichtswesens.
  • VII. Zusammenfassung.
  • Teil 2: Die Entsprechenserklärung im System des Beschlussmängelrechts de lege lata
  • § 4 Das Beschlussmängelrecht im Aktiengesetz.
  • I. Das Phänomen der „räuberischen Aktionäre“ sowie die Reaktionen des Gesetzgebers.
  • II. Die Struktur des Beschlussmängelrechts
  • 1. Nichtigkeit.
  • a. Nichtigkeitsgründe.
  • b. Nichtigkeitsfolge und Heilungsmöglichkeit nach § 242 AktG.
  • c. Prozessuale Durchsetzung
  • 2. Anfechtbarkeit.
  • a. Anfechtungsgründe
  • i. Die Anfechtbarkeit wegen Gesetzes- oder Satzungsverstoßes
  • ii. Verfahrensfehler: Kausalität oder Relevanz?
  • (a) Die Rechtsprechung vor 2001: Kausalität
  • (b) Kritik und Alternative: Relevanz.
  • (c) Wende in der Rechtsprechung
  • (d) Stellungnahme und Zwischenergebnis.
  • iii. Verfahrensfehler: Besonderheiten bei der Anfechtung wegen Informationsmängeln.
  • (a) Begriff des Informationsmangels.
  • (b) Maßstab des § 243 Abs. 4 AktG.
  • (c) Stellungnahme.
  • iv. Die Anfechtbarkeit von Wahlen zum Aufsichtsrat nach § 251 AktG.
  • b. Prozessuale Durchsetzung
  • c. Folge der Anfechtbarkeit und der erfolgreichen Anfechtung.
  • 3. Freigabeverfahren und Rechtsschutzmöglichkeiten außerhalb des AktG.
  • III. Zusammenfassung.
  • § 5 Die Einordnung der fehlerhaften Entsprechenserklärung in das Beschlussmängelrecht
  • I. Normativer Ausgangspunkt und Anwendbarkeit des Beschlussmängelrechts
  • 1. Normativer Ausgangspunkt
  • 2. Anfechtungsausschluss nach § 30g WpHG.
  • a. Regelungsgegenstand und Schutzzweck des § 30g WpHG.
  • b. Analoge Anwendung auf § 161 AktG
  • i. Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke.
  • ii. § 161 AktG als rein kapitalmarktrechtliche Publizitätspflicht?.
  • iii. Sanktionslosigkeit des Verstoßes gegen § 161 AktG bei Analogie zu § 30g WpHG.
  • c. Zwischenergebnis.
  • II. Die Anfechtbarkeit von Entlastungsbeschlüssen wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung
  • 1. Der Anfechtungsmaßstab bei Entlastungsbeschlüssen.
  • a. Bedeutung der Entlastung.
  • b. Inhaltsfehler.
  • i. Die „Macroton“-Entscheidung des BGH.
  • ii. Anknüpfungspunkt: Treuepflichtverletzung.
  • iii. Diskussion und Stellungnahme.
  • c. Verfahrensfehler
  • 2. Die Anfechtung wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung in der Rechtsprechung.
  • a. Instanzgerichtliche Rechtsprechung bis zur Befassung des BGH
  • b. BGH – Kirch./. Deutsche Bank.
  • c. BGH – Umschreibungsstopp
  • d. BGH – Fresenius.
  • e. Entwicklung in der unterinstanzlichen Rechtsprechung.
  • f. Zwischenfazit.
  • 3. Dogmatische Herleitung der Anfechtbarkeit – Inhaltsfehler oder Informationsmangel?
  • a. Eigene Fehlerkategorie der unrichtigen Entsprechenserklärung?.
  • b. Die Anfechtbarkeit wegen Inhaltsmangels.
  • i. Fehler der Entsprechenserklärung als schwerwiegender Gesetzesverstoß
  • ii. Zeitliche Dimension und Kenntnis vom Verstoß gegen § 161 AktG.
  • iii. Diskussion und Stellungnahme.
  • (a) Schwerwiegender Gesetzesverstoß.
  • (1) Kein schwerwiegender Gesetzesverstoß wegen Informationscharakters?.
  • (2) Strafbewehrung / Verschulden.
  • (3) Darlegungs- und Beweislast bezüglich des Verschuldens.
  • (4) Intensität des Verstoßes
  • (b) Zeitliche Dimension des Verstoßes.
  • (c) Kenntnis der entlastenden Hauptversammlungsmehrheit und Heilung des Verstoßes.
  • iv. Zusammenfassung und Zwischenergebnis.
  • c. Die Anfechtbarkeit wegen Informationsmangels
  • i. Relevanz des Informationsdefizits für die Entlastungsentscheidung.
  • (a) Allgemeine Überlegungen.
  • (b) Relevanz von Fehlerquellen anderer Informationspflichten
  • (c) Folgen für die Entsprechenserklärung.
  • ii. Vorwerfbarkeit des Informationsmangels?.
  • iii. Möglicher Ausgleich des Informationsdefizits.
  • (a) Stellungnahme: Heilung durch Information in der Hauptversammlung.
  • (b) Stellungnahme: Heilung durch mediale Berichterstattung.
  • iv. Informationspflichtverletzung nach § 131 AktG.
  • (a) Ausübung des Fragerechts aufgrund falscher Entsprechenserklärung.
  • (b) Fehlerhafte Beantwortung von Aktionärsfragen zur Corporate Governance
  • d. Abgrenzungskriterien für die Relevanz.
  • i. Allgemeine Einordnung von Kodexempfehlungen?.
  • ii. Sonstige abstrakte Systematisierungsansätze.
  • (a) Relevanz von anderen Berichtsmängeln.
  • (b) Differenzierung nach Charakter der Empfehlung.
  • (c) Berücksichtigung der Empfehlungen von Stimmrechtsberatern?
  • (d) Lösungsvorschlag: Einzelfallbetrachtung unter Einbeziehung aller Unternehmensumstände
  • iii. Relevanz von Aktionärsfragen zur Entsprechenserklärung.
  • e. Relevanz von Begründungsmängeln.
  • 4. Das Auslegungs- und Subsumtionsrisiko bei Kodexempfehlungen.
  • a. Lösung über AGB-Recht?
  • b. Lösung über das Merkmal des „schweren Gesetzesverstoßes“?.
  • c. Lösungsvorschlag: Anwendung der Business Judgement Rule analog § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.
  • i. Direkte Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG
  • ii. Analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.
  • 5. Verhältnismäßigkeit der Anfechtungsfolge.
  • a. Folgen verweigerter Entlastung.
  • b. Gesamt- und Einzelentlastung
  • 6. Zwischenergebnis
  • III. Die Anfechtbarkeit von Wahlbeschlüssen zum Aufsichtsrat wegen fehlerhafter Entsprechenserklärung
  • 1. Die „MAN“-Entscheidung des OLG München.
  • 2. Die Entscheidung des LG Hannover – „Continental / Schaeffler“.
  • 3. Reaktionen im Schrifttum
  • 4. Stellungnahme zum Begründungsansatz der Rechtsprechung.
  • a. Das Konzept der Selbstbindung an Kodexempfehlungen
  • i. Rechtliche Vorgaben für Aufsichtsratsbeschlüsse.
  • ii. Kodex oder § 161 AktG als Rechtsrahmen für Aufsichtsratsbeschlüsse?.
  • iii. Umsetzungsklauseln in Satzung oder Geschäftsordnung
  • b. Wirkungen von Verstößen gegen rechtliche Vorgaben.
  • i. Behandlung von Verfahrensfehlern.
  • ii. Inhaltliche Verstöße gegen Kodexempfehlungen
  • iii. Rechtsfolge von Verstößen.
  • iv. Zwischenergebnis.
  • c. Unwirksamkeit des Wahlvorschlagsbeschlusses aus anderen Gründen
  • i. Verstoß gegen § 161 AktG.
  • ii. Verbot widersprüchlichen Verhaltens
  • iii. Perplexität.
  • d. Rechtsfolge eines fehlerhaften Beschlussvorschlags.
  • 5. Weitere Anfechtungsgründe der Wahl zum Aufsichtsrat
  • a. Inhaltsfehler des Wahlbeschlusses aufgrund Verstoßes gegen § 161 AktG.
  • b. Folgen des Organverstoßes bei der Wiederwahl?.
  • i. Inhaltsfehler.
  • ii. Verfahrensfehler in Gestalt eines Informationsmangels
  • c. Verletzung von Informationsrechten der Aktionäre
  • i. Offenlegung von Beziehungen zur Gesellschaft und wesentlichen Aktionären
  • ii. Zielzusammensetzung.
  • iii. Angemessene Zahl unabhängiger Mitglieder
  • iv. Aufsichtsratswahl als Einzelwahl.
  • d. Verhältnismäßigkeit der Anfechtungsfolge.
  • 6. Zusammenfassung und Zwischenergebnis
  • IV. Anfechtbarkeit weiterer Beschlussgegenstände.
  • 1. Bestellung des Abschlussprüfers.
  • a. Inhaltsmangel.
  • b. Verfahrensfehler: Unwirksamkeit des Wahlvorschlagsbeschlusses.
  • c. Verfahrensfehler: Informationsmangel.
  • d. Zwischenergebnis.
  • 2. Feststellung des Jahresabschlusses.
  • 3. Verwendung des Bilanzgewinns.
  • 4. Strukturbeschlüsse.
  • 5. Votum zum Vergütungssystem.
  • V. Zwischenfazit.
  • Teil 3: Reformvorschläge betreffend Entsprechenserklärung und Beschlussmängelrecht.
  • § 6 Alternativen zur Anfechtbarkeit
  • I. Streichung des § 161 AktG.
  • II. Ausschluss der Anfechtbarkeit
  • III. Prüfung der Entsprechenserklärung durch den Abschlussprüfer, Börse oder BaFin.
  • 1. Prüfung durch Abschlussprüfer
  • 2. Prüfung durch die Börsen oder die BaFin.
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Streichung von Aktualisierungspflicht und Zukunftsbezug
  • 1. Zielsetzung: Ausdünnen inkongruenter Transparenzpflichten
  • 2. Kritikpunkte an der Stichtagslösung aus kapitalmarktrechtlicher Sicht.
  • 3. Lösungsvorschlag – Nutzung der Online-Publizität.
  • a. Beitrag zur online-gestützten Publizität
  • b. Stichtagserklärung versus Aktualisierungspflicht.
  • § 7 Vorschläge für eine grundlegende Reform des Beschlussmängelrechts
  • I. Das Quorum für Anfechtungsklagen – Aufgabe der „Polizeifunktion“ durch Beschränkung des Individualklagerechts.
  • II. Diversifizierung der Rechtsfolgen.
  • III. Zusammenfassung.
  • § 8 Ergebnisse.
  • Literaturverzeichnis

§ 1  Einleitung

„Corporate Governance ist unser Schicksal.“

Mahnung, Verheißung oder Resignation – die Intention dieses Satzes von Fleischer1 schwankt wohl zwischen diesen Polen. Kaum ein anderes Thema war in den vergangenen Jahren im Bereich des Aktien- und Kapitalmarktrechts ähnlich präsent wie „gute“ Corporate Governance in kapitalmarktorientierten Gesellschaften. Im deutschen Aktienrecht ist die Entsprechenserklärung zum Deutschen Corporate Governance Kodex2 nach § 161 AktG dabei zu einem zentralen Punkt für kritische Diskussionen und kontroverse Debatten geworden. So befasste sich die Abteilung Wirtschaftsrecht des 69. Deutschen Juristentags unter dem Topos „Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung“ intensiv mit der inhaltlichen Entwicklung des Deutschen Corporate Governance Kodex sowie den Auswirkungen der in § 161 AktG verankerten Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung.3 Maßgeblich verknüpft und mutmaßlich getrieben ist die Corporate Governance-Debatte mit bzw. von einem zweiten, wesentlichen Diskussionsfeld im deutschen Aktienrecht, dem Beschlussmängelrecht. Dieses bildete einen Schwerpunkt bei den Erörterungen der Abteilung Wirtschaftsrecht auf dem 67. Deutschen Juristentag4 und steht auch nach den gesetzgeberischen Neuerungen durch UMAG5 und ARUG6 weiterhin auf der Agenda gesellschaftsrechtlicher Reformbestrebungen.

Besondere Brisanz und damit einhergehend verstärkte Aufmerksamkeit hat die Verknüpfung der beiden Themenbereiche durch den Umgang der Gerichte mit einer unrichtigen Entsprechenserklärung nach § 161 AktG erfahren. Hatte ← 17 | 18 → der BGH zunächst in zwei Grundsatzentscheidungen befunden, dass im Falle einer unrichtigen Entsprechenserklärung die Beschlüsse der Hauptversammlung über die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat anfechtbar sein können,7 hatten Instanzgerichte dies in der Folge auch für weitere Beschlussgegenstände, namentlich Wahlbeschlüsse zum Aufsichtsrat angenommen.8

I.  Problemstellung

Diese Rechtsprechung findet im juristischen Schrifttum breite Resonanz und bietet Raum für Kritik, Zustimmung und Reformüberlegungen. Zugleich wird die nationale Debatte durch neue, kontroverse Anliegen und Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene intensiviert. Kritik am DCGK scheint indes entweder zunehmend ideologisiert auf einer verfassungsrechtlichen Ebene oder aber ohne den notwendigen dogmatischen Unterbau auf risiko- und praxisorientierter Rechtsfolgenabwägung zu verlaufen. Ziel kann dabei aber nicht sein, den „Tatbestand“9 sich stetig wandelnder Kodexbestimmungen auszulegen. Vielmehr erscheint es notwendig, die Entsprechenserklärung in ihrem derzeitigen Gewand einer dogmatischen Folgenanalyse zu unterziehen.

Seit Einführung des DCGK sind zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich mit einzelnen Aspekten der Anforderung an die Entsprechenserklärung oder der aus ihrer Unrichtigkeit erwachsenden Anfechtungsproblematik befassen. Im Rahmen dieser Untersuchung sind dabei insbesondere die folgenden drei Dissertationen hervorzuheben, die mit dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit Überschneidungen aufweisen bzw. grundlegende Vorarbeiten geleistet haben: Während Kleefass10 sich mit dem Pflichtenumfang des § 161 AktG selbst und dem Anfechtungsrisiko der einzelnen Kodexempfehlungen befasst, geht Stenger11 in erster Linie auf die gesetzessystematische Funktion des Kodex ein und setzt sich mit Reformvorschlägen auseinander. Woitzyk12 ← 18 | 19 → untersuchte demgegenüber ausgehend von der Rechtsprechung zu dieser Frage die dogmatischen Aspekte einer Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen aufgrund unrichtiger Entsprechenserklärung. Trotz der Ergebnisse und Diskussionen, die diese Arbeiten befördert haben, erscheint bislang auch nach vier Jahren seit dem ersten Urteil des BGH zur Beschlussanfechtung noch keine befriedigende dogmatische Einordnung der fehlerhaften Entsprechenserklärung in das Beschlussmängelrecht gelungen zu sein. Häufig begnügen sich auch Ausführungen im Schrifttum unter Verweis auf die BGH Rechtsprechung mit dem Befund, dass in einer unrichtigen Entsprechenserklärung ein „schwerwiegender Gesetzesverstoß“ liegen könne, der unter bestimmten Umständen die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen zu rechtfertigen vermag. Auf dieser Basis erscheint es schwerlich möglich, Schlüsse für zweckmäßige Reformansätze zu ziehen. Mit dieser Arbeit soll daher versucht werden, die Corporate Governance- Debatte um eine in erster Linie dogmatische Einordnung der fehlerhaften Entsprechenserklärung in das Beschlussmängelrecht zu ergänzen. Hierdurch können ein eventueller Reformbedarf besser analysiert und zugleich praktische Risiken früher identifiziert werden.

II.  Gang der Untersuchung

Zur Analyse der Funktionsrichtung des DCGK ist in einem ersten Schritt die gesetzgeberische Entwicklung, insbesondere aber auch die wirtschaftliche Motivation zur Schaffung des Kodex und seiner gesetzlichen Verankerung zu untersuchen und vorzustellen. Hieran schließt sich eine kurze Stellungnahme zum Pflichtenumfang des § 161 AktG an, um Verstöße gegen § 161 AktG identifizieren und beschlussmängelrechtlich einordnen zu können. Darüber hinaus ist auf die Struktur und die dogmatischen Fundamente des geltenden Beschlussmängelrechts einzugehen, um vorab wesentliche Aspekte zu erarbeiten, die die Grundlage für die dann zentrale Einordnung der fehlerhaften Entsprechenserklärung in das bestehende Beschlussmängelrecht bilden.

Bewusst verzichtet wird dabei auf eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Anfechtungsrisiko einzelner Kodexempfehlungen. Diese Arbeit wurde bereits umfassend von Kleefass13 und Woitzyk14 geleistet. Sie erscheint zudem vor dem Hintergrund sich stetig wandelnder Empfehlungen15 weniger drängend ← 19 | 20 → als eine Auseinandersetzung mit den dogmatischen Anfechtungsgrundlagen. Ausgehend von dem durch die Rechtsprechung vorgezeichneten Weg der Anfechtung von Entlastungsbeschlüssen Vorstand und Aufsichtsrat betreffend sowie von Wahlbeschlüssen zum Aufsichtsrat soll eine umfassende und widerspruchsfreie Einordnung von Verstößen gegen § 161 AktG in das Beschlussmängelrecht de lege lata vorgenommen werden. Die gefundenen Ergebnisse sind sodann vor dem Hintergrund der im Schrifttum breit diskutierten Reformansätze sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung der Entsprechenserklärung als auch des Beschlussmängelrechts einzuordnen und zu bewerten. ← 20 | 21 →

                                                   

1    Fleischer/Max-Planck-Institut, ZGR 2012, 160, 161.

2    Nachfolgend „DCGK“ oder „Kodex“.

3    Zugrunde lag der Debatte ein Gutachten von Habersack, welches die drängendsten Fragen der Corporate Governance-Diskussion analysierte und Vorschläge zum Umgang hiermit unterbreitete; Habersack, Gutachten 69. DJT.

4    Diverse Vorschläge zur (weiteren) Reform des Beschlussmängelrechts und der Unterscheidung von börsennotierten und nicht börsennotierten Gesellschaften bildeten den Mittelpunkt der Beschlussfassungen; vgl. Beschlüsse des 67. DJT, abrufbar unter http://www.djt.de/fileadmin/downloads/67/djt_67_beschluesse.pdf.

5    Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22. September 2005, BGBl. I 2005, 2802.

6    Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) vom 30. Juli 2009, BGBl. I 2009, 2479.

7    BGH Urteil vom 16. 2. 2009 – II ZR 185/07 („Kirch./.Deutsche Bank“) = BGHZ 180,9 und Urteil vom 21. 9. 2009 – II ZR 174/08 („Umschreibungsstopp“) = BGHZ 182, 272.

8    OLG München, Urteil vom 06.08.2008 – 7 U 5628/07 („MAN-Entscheidung“) und LG Hannover, Urteil vom 17. 3. 2010 – 23 O 124/09 („Continental./.Schaeffler“).

9    Auch wenn es sich bei den Kodexempfehlungen nicht um Rechtsnormen handelt und der Begriff Tatbestand daher im eigentlichen Sinne nicht exakt ist, soll er im Rahmen dieser Arbeit gleichwohl auch im Zusammenhang mit Kodexempfehlungen Verwendung finden.

10  Kleefass, Entsprechenserklärung zum DCGK.

11  Stenger, Kodex und Entsprechenserklärung.

12  Woitzyk, Anfechtung von HV-Beschlüssen.

13  Kleefass, Entsprechenserklärung zum DCGK, S. 174 ff.

14  Woytzik, Anfechtung von HV-Beschlüssen S. 148 ff.

15  So werden einerseits durch Anpassungen des DCGK Empfehlungen hinzugefügt, geändert oder gestrichen. Zugleich ist aber auch die Bedeutung einzelner Kodexbestimmungen für Aktionäre und Kapitalmarkt zeitlichen Änderungen unterworfen, was im Rahmen der beschlussmängelrechtlichen Einordnung nicht außer Betracht bleiben kann.

Teil 1:  Der Deutsche Corporate Governance Kodex und § 161 AktG

§ 2  Corporate Governance in Deutschland

Zum Verständnis der Funktionsweise und zur Bestimmung der Zielsetzungen des DCGK im deutschen Aktienrecht ist es notwendig, sich die Wurzeln des Konzepts „Corporate Governance“ und die Entwicklung bis hin zum heutigen, in das Aktienrecht inkorporierten DCGK zu vergegenwärtigen. Aufgrund des starken Einflusses des anglo-amerikanischen Corporate-Governance Modells sowie der sprunghaft gestiegenen Bedeutung von institutionellen Anlegern aus diesem Rechtskreis16 scheint es geboten, auch die Systematik von Corporate Governance in den USA kurz herauszuarbeiten. Im Anschluss ist auf die historische Entwicklung der Corporate Governance-Diskussion in Deutschland einzugehen und die Entwicklung hin zu einem Deutschen Corporate Governance Kodex nachzuzeichnen.

I.   Der Begriff Corporate Governance

Eine Arbeit, die sich mit den Auswirkungen der Entsprechenserklärung zum Corporate Governance Kodex auf die Beschlussfassung der Hauptversammlung börsennotierter Aktiengesellschaften befasst, kommt nicht ohne die Ausarbeitung und Herleitung des Begriffs „Corporate Governance“ aus. Er umschreibt viel und ist doch zugleich kaum klar greifbar. Die Definition wird in Deutschland häufig mit der Übersetzung „Unternehmensverfassung“ zu greifen versucht.17 Baums sieht hierin „die Funktionsweise der Leitungsorgane, ihre Zusammenarbeit und die Kontrolle ihres Verhaltens“.18 Als Definition aus explizit amerikanischem Blickwinkel fasst Hess Corporate Governance als Prozess der Kontrolle und der Verwaltung des Vermögens und der Mitarbeiter einer Aktiengesellschaft ← 21 | 22 → im Interesse der Eigentümer der Gesellschaft zusammen.19 Dieser auf die Anlegerinteressen verengte Definitionsversuch lässt sich schon vor dem Hintergrund der Bedeutung der Arbeitnehmermitbestimmung in Deutschland nicht eins zu eins übertragen.

Hirte indes findet insoweit eine eingängige und prägnante Umschreibung des Begriffs, der den Wesensgehalt trifft ohne wesentliche Merkmale für Deutschland auszuschließen: Corporate Governance sei das System von Unternehmensführung und -kontrolle.20 Auch im Grünbuch der Europäischen Kommission zum Europäischen Corporate Governance-Rahmen findet sich dieser breite Ansatz.21

Gemein ist allen Definitionsversuchen, dass durch sie lediglich der Rahmen vorgegeben wird, der von den jeweiligen Rechtsordnungen, aber auch von den jeweiligen Unternehmer- und Unternehmenstraditionen mit konkreter Bedeutung zu füllen ist.

II.  Funktion der Corporate Governance im anglo-amerikanischen Rechtskreis

Corporate Governance in den USA gestaltet sich durch ein Zusammenspiel vielfältiger Einflüsse, nicht nur von expliziten Rechtsquellen. Gleichwohl setzen auch dort Rechtsnormen jedenfalls den Rahmen, in welchem sich die Unternehmensorganisation entfalten kann. Das US-amerikanische (Kapital-)Gesellschaftsrecht und insbesondere das Recht der Business Corporation unterscheiden sich dabei erheblich vom deutschen Aktienrecht. So ist es bereits missverständlich, von „dem“ US-amerikanischen Gesellschaftsrecht zu sprechen. Bereits die Bandbreite an Rechtsquellen, die direkten oder mittelbaren Einfluss auf die Organisationsstruktur von Kapitalgesellschaften haben, ist umfangreich und sowohl auf Bundes- als auch auf Staatenebene verteilt.22

Klassisches Gesellschaftsrecht wird in den USA von den Staaten gesetzt,23 woraus sich – je nach Sichtweise – ein fruchtbarer Wettbewerb um das beste ← 22 | 23 → Recht oder ein „race to the bottom“ zwischen den einzelnen Staaten ergibt.24 Im Gegensatz zum deutschen AktG mit seinem konsequenten Grundsatz der Satzungsstrenge in § 23 Abs. 5 AktG25 bietet das Gesellschaftsrecht in den USA der Gesellschaft erhebliche Gestaltungsspielräume.26 Vor diesem Hintergrund ergibt sich für Corporate Governance in diesem Rechtskreis in erster Linie die Aufgabe, den rechtlichen Rahmen zu ordnen und transparent zu gestalten. Sie soll dem Anleger / Investor Richtschnur sein für die Qualität und die Struktur der Unternehmensleitung. Die im amerikanischen Gesellschaftsrecht somit prinzipiell bestehende Gestaltungsfreiheit wird hierdurch für den Anleger transparent nach außen kommuniziert.

Eine weitere wichtige Quelle für Corporate Governance in den USA ist das Kapitalmarktrecht. Im Gegensatz zum Gesellschaftsrecht ist die Gesetzgebungszuständigkeit hier auf der Bundesebene verortet. Die entsprechenden Gesetze27 ← 23 | 24 → werden von der Securities and Exchange Commission (SEC), der amerikanischen Finanzmarktaufsichtsbehörde, ausgeführt und überwacht. Insbesondere die durch die SEC statuierten Offenlegungspflichten, die dem Gesellschaftsrecht selbst fremd sind, sorgen überhaupt erst für die Transparenz bei Unternehmenskennzahlen.28 Auch an dieser Stelle steht die Ordnungs- und Transparenzfunktion im Vordergrund. Als weitere Quellen für Corporate Governance treten umfangreiche Börsenordnungen, verschiedene, nicht verbindliche Kodizes und sogar die Steuergesetzgebung hinzu.29

Vor dem Hintergrund, dass in den USA der Ansatz von Corporate Governance in erster Linie auf die Erreichung von Transparenz mit Blickrichtung Kapitalmarkt und auf die Steigerung des Unternehmenswertes ausgerichtet ist, wird insoweit häufig von einem Shareholder Value-Konzept gesprochen.30 Hierbei hat Corporate Governance die vornehmliche Funktion, die Durchsetzung von Anlegerinteressen zu flankieren und so auch die Wertoptimierung der Unternehmensanteile sicherzustellen. Dabei sollen möglichst umfassend und zeitnah sämtliche relevanten Unternehmensdaten und -informationen allen Kapitalmarktteilnehmern zur Verfügung stehen.31

III.  Entwicklung in Deutschland

Das System von Unternehmensführung und -kontrolle in Deutschland unterliegt bereits historisch bedingt gänzlich anderen Voraussetzungen als das System in den USA. Gleichwohl führten die steigende Bedeutung des Kapitalmarkts für die Unternehmensfinanzierung sowie auch hierzulande auftretende Fälle von schlagzeilenträchtigen Unternehmenszusammenbrüchen32 dazu, dass sich ← 24 | 25 → Corporate Governance als zentrales Thema für börsennotierte Aktiengesellschaften etablierte. Klassischerweise wurde die Diskussion über Unternehmensführung mit Blick auf die Fortentwicklung bestehenden Gesetzesrechts geführt.33 Die anleger- und kapitalmarktorientierte Ausrichtung rückte dagegen erst dann in den Vordergrund des wissenschaftlichen Diskurses, als sich die Struktur der Unternehmensfinanzierung und -beteiligung in Deutschland bereits gravierend verschoben hatte.

1.  Die Rolle zwingenden Gesetzesrechts

Die innere Verfasstheit von deutschen Unternehmen war stets und ist Gegenstand von zwingendem Gesetzesrecht.34 Gerade im Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts sind Gestaltungsspielräume bei der Ausgestaltung der Unternehmensverfassung begrenzt. Dies gilt für die Aktiengesellschaft in besonderem Maße, was schon ein Blick auf den bereits erwähnten Grundsatz der Satzungsstrenge nach § 23 Abs. 5 AktG zeigt.35 Das AktG selbst gibt die Verfasstheit der AG im Wesentlichen vor. So sind die Organe Hauptversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand sowie ihre Beziehungen zueinander Gegenstand von unabdingbaren Regelungen. Dabei gilt für die deutsche Aktiengesellschaft insbesondere die Teilung der Unternehmensführung in geschäftsführenden Vorstand und überwachenden und beratenden Aufsichtsrat. Dieses auch „Two Tier-System“ genannte Modell unterscheidet die deutsche AG grundsätzlich von vielen, vor allem aber den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen, deren Board-Modell lediglich ein zentrales Verwaltungsorgan vorsieht.36

Details

Seiten
290
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653059434
ISBN (ePUB)
9783653951783
ISBN (MOBI)
9783653951776
ISBN (Paperback)
9783631666210
DOI
10.3726/978-3-653-05943-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Deutscher Corporate Governance Kodex Aktiengesellschaft Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 290 S.

Biographische Angaben

Sebastian Klabunde (Autor:in)

Sebastian Klabunde studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promoviert wurde er an der Freien Universität Berlin. Als Rechtsanwalt berät er börsennotierte und mittelständische Unternehmen zu gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen, vor allem im Bereich des Aktien- und Kapitalmarktrechts sowie bei Unternehmenstransaktionen.

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