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Karl Otmar von Aretin

Historiker und Zeitgenosse

von Christof Dipper (Band-Herausgeber:in) Jens Ivo Engels (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 218 Seiten

Zusammenfassung

Im Rahmen einer eintägigen Konferenz an der TU Darmstadt, deren Beiträge in diesem Band wiedergegeben sind, hat das Institut für Geschichte das Lebenswerk seines Gründers Karl Otmar Freiherr von Aretin in seinem ganzen Umfang ausgelotet. Der im März 2014 verstorbene Historiker war zweifellos das prominenteste Mitglied des Instituts. Die Zahl seiner nationalen und internationalen Ehrungen, seine Doppelrolle als Professor in Darmstadt und Direktor der Universalgeschichtlichen Abteilung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, seine Funktionen namentlich innerhalb der Organisationen der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt seine enorme Publikationsliste zeigen das eindrücklich.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Jens Ivo Engels / Christof Dipper - Vorwort
  • Christof Dipper - Der Zeithistoriker Aretin oder: Wer war Aretin bei seiner Berufung 1964?
  • Winfried Schulze - Karl Otmar von Aretins Bedeutung für die Frühneuzeitforschung
  • Heinz Duchhardt - Aretin und die Münchener Historische Kommission
  • Jens Ivo Engels / Anja Pinkowsky - Aretin als Herausgeber der NPL
  • Karl Härter - Karl Otmar von Aretin als akademischer Lehrer im Kontext der geschichtswissenschaftlichen Lehre in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000
  • Claus Scharf - Geschichtswissenschaft als gesellschaftliche und transnationale Kommunikation. Das Institut für Europäische Geschichte Mainz unter der Leitung von Karl Otmar Freiherr von Aretin (1968–1994)
  • Matthias Schnettger - Karl Otmar von Aretin und die transalpine Erweiterung der Reichsgeschichte: Die „Entdeckung“ Reichsitaliens
  • Kristof Lukitsch - ,Braune Anfänge‘: Die Darmstädter Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit
  • Lutz Raphael - Das Institut für Geschichte der TU Darmstadt 1964–2014. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick auf den Spuren Karl Otmar Freiherr von Aretins
  • Andreas Göller - Von der Archivstelle zum Hochschularchiv. Karl Otmar von Aretin als Gründer des Universitätsarchivs der TU Darmstadt
  • Abstracts der Beiträge
  • Kurzbiographien der Autoren
  • Zusammenstellung der von v. Aretin betreuten Dissertationen und Habilitationen

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Vorwort

Der im März 2014 verstorbene Historiker Karl Otmar Freiherr von Aretin war zweifellos das prominenteste Mitglied des Darmstädter Instituts für Geschichte; die Zahl seiner nationalen und internationalen Ehrungen, seine Doppelrolle als Professor am Institut der damaligen Technischen Hochschule Darmstadt und Direktor der Universalgeschichtlichen Abteilung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, seine Funktionen namentlich innerhalb der Organisationen der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt seine enorme Publikationsliste sind dafür ein sicheres Zeichen. Das Institut betrachtet ihn als seinen eigentlichen Gründungsvater und benannte im Jahr 2013 nach ihm seinen neu ausgelobten Preis für hervorragende Abschlussarbeiten.

Um die vielfältigen Facetten dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit kritisch zu beleuchten und angemessen zu würdigen, veranstaltete das Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt am 27. März 2015 eine Tagung, bei der Darmstädter und Auswärtige, Kollegen und Schüler die ihnen vertrauten Seiten von Aretins Wirkens beleuchteten. Ihre Beiträge werden in diesem Band abgedruckt. Ergänzungen bieten ein Aufsatz über Hellmuth Rößler, Aretins Kollegen und Gegenspieler an der TH, und ein weiterer, der aus Anlass der Institutsfeier 2013 einen Rückblick aus übergeordneter Perspektive unternahm.

Wir danken allen Autoren für ihre Bereitschaft, an der Tagung mitzuwirken und schon bald danach ihre Texte zum Druck zu geben. Wir danken ferner dem Institut für Geschichte für die Finanzierung von Tagung und Sammelband, dem Kanzler der TU Darmstadt für dauerhaftes Interesse am Fach und Förderung dieses Vorhabens, Carolin Grimm für die sachkundige Lektorierung der Manuskripte, Giuseppina Amenta für die organisatorische Begleitung und nicht zuletzt dem Verlag Peter Lang, über die Zeitschrift Neue Politische Literatur Aretin und dem Darmstädter Institut seit langem verbunden, für seine entgegenkommende Kalkulation dieses Bandes.

Darmstadt, im August 2015

Christof Dipper
Jens Ivo Engels

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Christof Dipper

Der Zeithistoriker Aretin oder: Wer war Aretin bei seiner Berufung 1964?

Zeitgeschichte als historische Teildisziplin hat ihre Rolle für das Fach als Ganzes und erst recht für die Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten von Grund auf geändert. Heute befasst sich die Mehrheit der Historiker mit Zeitgeschichte, wenn wir sie mit 1945, und erst recht, wenn wir sie mit 1917 beginnen lassen, wie es der (angebliche) Ahnherr dieser Teildisziplin, Hans Rothfels, 1953 vorgeschlagen hat. Hochangesehene Kollegen unseres Faches haben niemals eine Zeile zu einem Thema vor 1945 publiziert und große, die Zunft oder gar das gebildete Publikum erfassende Kontroversen gibt es seit dem Streit um die Wehrmachtausstellung Anfang der 1990er Jahre nicht mehr. Zeitgeschichte ist mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Alltags und alles andere als ein Reizthema.1

Als Karl Otmar von Aretin 1964 an die Technische Hochschule (TH) Darmstadt berufen wurde, war dies noch vollkommen anders – und erst recht, als er sich zehn Jahre früher mit der Herausgabe der Memoiren seines Vaters erstmals an die Öffentlichkeit gewagt hatte.2 Damals erwarb man sich mit Zeitgeschichte, die ja ausschließlich mit der Weimarer Republik und dem ‚Dritten Reich‘ zu tun hatte, also mit Verlustgeschichten unterschiedlich katastrophalen Ausmaßes, nicht unbedingt Meriten − jedenfalls dann nicht, wenn man nicht in den Klagechor derer mit einstimmte, die vom Unfassbaren, vom Deutschland zugestoßenen Verhängnis, vom unheilvollen Ende der Nation als Folge von Kapitulation und Teilung sprachen und ihr Land als Opfer des Nationalsozialismus wahrnahmen. Wer aber nicht 1945, sondern 1933 als das Jahr der nationalen Katastrophe bezeichnete und dessen hochproblematischer Vorgeschichte nachging, sah sich gleich einer ← 9 | 10 → doppelten und entsprechend mächtigen Abwehrfront gegenüber: Sie bestand einerseits aus der älteren Historikergeneration, vertreten durch Personen wie Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter, Theodor Schieder, Werner Conze, Peter Rassow, Siegfried A. Kaehler, Percy Ernst Schramm, Franz Schnabel, Karl Dietrich Erdmann und selbst Hans Rothfels – um nur ein paar der damals noch im Amt befindlichen wichtigsten Ordinarien zu nennen, die mit ihren Gutachten entscheidend für das Fortkommen des Nachwuchses waren. Andererseits war man konfrontiert mit jener Abwehrfront, die von der populären deutschen Erinnerungsliteratur mit ihren typischen Ausblendungen und Verdrehungen gespeist wurde; letztere war sogar „weitaus bedeutsamer“.3 Zur davon abweichenden Haltung brauchte man damals also Mut, und es ist darum wohl kein Zufall, dass Aretin mehrfach eben jenen Personen und Institutionen – etwa dem Münchener Institut für Zeitgeschichte − Mut attestierte, die die Revision des vorherrschenden deutschen Geschichtsbildes betrieben.4 Ihm selbst fehlte es daran ebenfalls nicht. In seinem Gutachten über den Kandidaten für das neugeschaffene Darmstädter Ordinariat urteilte sein erster Dienstherr, der NDB-Schriftleiter Otto Graf Stolberg-Wernigerode: „Als Sohn seines Vaters ist er von Haus aus kompromißlos eingestellt“.5

Stolberg hat mit seiner lakonischen Aussage eigentlich gleich alle beiden für Aretins zeithistorischen Interessen maßgeblichen Umstände zu Papier gebracht: den Mut und den Vater. Denn ohne letzteren, d. h. ohne dessen Verfolgung durch die Nationalsozialisten ist der Zeithistoriker Aretin nicht zu denken und schon gar nicht zu verstehen. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die von Erwein von Aretin in seinen Memoiren 1934/35 behandelten Personen und Themen den Kern dessen ausmachen, was später der Sohn als Zeithistoriker bearbeitet hat. Mit anderen Worten: Die vom Vater ← 10 | 11 → aufgestellten Thesen und Hypothesen suchte der Sohn mit wissenschaftlicher Methode zu verifizieren und zu ergänzen. Das war seine Zeitgeschichte.

Hinzu kam der Hang zur Zeitdiagnose, auch das in gewissem Sinne eine schon mit der Muttermilch eingesogene Neigung, denn genauso wie der Vater war der Sohn leidenschaftlicher Journalist und Kommentator der Gegenwart und hat als solcher durchaus Furore gemacht. So berichtet Karl Otmar von Aretin in seiner autobiographischen Skizze aus dem Jahr 1997 nicht nur von seiner Mitarbeit für die Süddeutsche Zeitung, den Bayerischen Rundfunk und später das Zweite Deutsche Fernsehen, sondern auch, dass er von 1959 bis 1965 Deutschlandkorrespondent der in Wien erscheinenden linkskatholischen Wochenzeitung Die Furche war und seine Artikel „bei Franz Josef Strauß einen solchen Unwillen“ hervorgerufen hätten, „daß er es schließlich erreichte, daß ‚Die Furche‘ in andere Hände überging“.6

Beides zusammen, die mutige, damals noch keineswegs konventionelle Art des Umgangs mit Deutschlands jüngster Vergangenheit und die Diagnosen, wie die Geschichtswissenschaft damit umzugehen pflegt und die Gegenwart zu beurteilen ist, machen jenen Teil der Persönlichkeit Aretins aus, die Gegenstand dieses Beitrags ist. Mehr als bei den meisten Altersgenossen war bei Aretin Zeitgeschichte also immer auch Zeitgenossenschaft, obwohl er bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten erst zehn Jahre alt war. Es handelte sich daher gleichsam um eine Zeitgenossenschaft aus zweiter Hand, vermittelt vor allem über die Gespräche mit dem Vater, besonders seitdem beide seit 1945 wieder zu Hause waren, und über die Herausgeberschaft und kritische Kommentierung der väterlichen Erinnerungen. Die klaren Urteile des Vaters über das am Niedergang der Weimarer Republik beteiligte und damit schuldig gewordene politische Personal teilte der Sohn, von Heinrich Brüning abgesehen, uneingeschränkt.7 Er trug deshalb klaglos die juristischen Folgen, die die ← 11 | 12 → Veröffentlichung von Krone und Ketten, der von ihm mit herausgegebenen Autobiographie seines Vaters, hatten. Dazu gehörten etwa die Niederlagen im Beleidigungsprozess, den Oskar von Hindenburg 1956 anstrengte, und im Ehrengerichtsverfahren vor dem Westfälischen Verein Katholischer Edelleute, das Franz von Papen wegen eines Leserbriefs im Rheinischen Merkur 1960 beantragte, in dem Aretin die Meinung seines Vaters praktisch wörtlich wiederholt hatte.8

Die starke Bindung an die durch den Vater vermittelte Zeitgenossenschaft hatte auch Folgen für den Umgang mit dem zeitgeschichtlichen Stoff. Man könnte sie so beschreiben: Der Sohn des von den Nationalsozialisten schon am 13. März9 1933 verhafteten, zeitweise in Dachau drangsalierten und erst im Mai 1934 entlassenen, aber 1938 nochmals kurzzeitig eingesperrten Vaters und der Schwiegersohn der neben Stauffenberg treibenden Kraft der Verschwörer des 20. Juli, Henning von Tresckows, sah sich nicht genötigt, bei seinen Beiträgen auf kunstvolle soziale, wirtschaftliche oder strukturelle Ursachenanalyse zurückzugreifen. Seine Arbeiten waren eine perspektivische Verlängerung der zeitgenössischen Auseinandersetzungen und dessen, was nach der Machtergreifung allenfalls noch in den eigenen vier Wänden beredet und auch nach 1945 lange Zeit nicht öffentlich verhandelt werden konnte. Folglich galten seine erkenntnisleitenden Fragen in erster Linie Dingen wie persönlichem Anstand, religiöser Bindung und Verfassungsloyalität. Das letztere Stichwort markiert zugleich die deutlich gezogene Grenze zwischen Vater und Sohn, die gelegentlich ausgesprochen wurde,10 zumeist jedoch implizit ← 12 | 13 → blieb. Natürlich teilte der Sohn nicht die monarchistischen Hoffnungen des Vaters und orientierte seine historische Urteilsbildung an den Normen der Weimarer Verfassung, seine zeitdiagnostische dagegen an denen der politischen Aufklärung. Den ‚Weg nach Westen‘ (Heinrich August Winkler) hatte Aretin, typisch für die zweite Generation der westdeutschen Zeithistoriker, hinter sich gebracht, noch bevor er den ersten Text zum Druck gab.

Dass das Ende der Weimarer Republik über viele Jahre hinweg die „Determinante“ der zeitgeschichtlichen Forschung war, versteht sich nahezu von selbst. Andreas Wirsching, von dem diese Feststellung stammt, fügte jedoch sogleich hinzu, dass es „vermessen“ wäre, „einen einzigen Faktor zu isolieren und auf ihn allein das Scheitern der Republik zurückzuführen“.11 Aretin hätte dem fraglos zugestimmt, aber forschungspraktisch verhielt er sich ganz anders. Er vollzog nicht den von seinem späteren Lehrer Herrmann Heimpel beobachteten und zur Regel erhobenen „fast gesetzlichen Dreischritt von Schuldfrage, Ursachenfrage [und] Strukturfrage“, sondern begnügte sich weithin mit dem ersten, den allerdings auch Heimpel auf seinem Vortrag beim Ulmer Historikertag 1956 zunächst ganz in den Vordergrund gerückt hatte, wenn er sagte: „Solange es Geschichte gibt, muß die Geschichtswissenschaft Rechtsfragen und insbesondere Schuldfragen erörtern“.12 Von der von Werner Conze damals als erstem beschworenen „Krise des Parteienstaates“13 ist bei Aretin ebensowenig zu lesen wie von der dramatischen Wirtschaftskrise, die allerdings auch weder im Gebhardt noch im Rassow anders als lediglich kursorisch und instrumentell angesprochen wurde, nämlich zur ← 13 | 14 → Erklärung des Endes der Großen Koalition, der Reparationspolitik Brünings und schließlich der Wahlerfolge der NSDAP.14 Und so betrieb Aretin Ursachenanalyse am ehesten im Stile von Erich Eyck, des ins britische Exil vertriebenen Berliner Rechtsanwalts und Notars sowie Stadtverordneten für die DDP, der damals viel beachtete Werke zur deutschen Geschichte vorlegte, darunter auch eine zweibändige Darstellung der Weimarer Republik, in der er sich konsequent am funktionierenden parlamentarischen System orientierte.15

Sein Debüt als Zeithistoriker hatte Aretin, wenn man von seiner gemeinsam mit Karl Buchheim vorgenommenen Herausgabe der Erinnerungen seines Vaters absieht,16 1956 mit einem größeren Aufsatz über den Eid auf Hitler, für ihn Inbegriff des „moralischen Verfalls des Offizierskorps der Reichswehr“. Das heute nahezu völlig vergessene Thema17 spielte in den frühen 1950er Jahren eine sehr große Rolle, und zwar sowohl bei der historischen Aufarbeitung von Diktatur und Widerstand als auch im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung.18 Was Aretin mit Blick auf den 20. Juli als „einen der ← 14 | 15 → erschreckendsten Tage in der Geschichte der Hitlerdiktatur“ bezeichnete,19 nämlich die nach dem Tod Hindenburgs sofort angesetzte Vereidigung auf Hitler, wird in neueren Darstellungen zum ‚Dritten Reich‘ nicht einmal mehr erwähnt.20 Nach längeren Ausführungen zum nachlässigen Umgang mit dem Eid in der Weimarer Republik kam Aretin zur Schuldfrage. Diesmal war nicht Papen auf der Anklagebank, sondern Schleicher. Dessen fatale Politik habe schließlich dazu geführt, dass er „am Ende der betrogene Betrüger“ war und dies am 30. Juni 1934 mit dem Leben bezahlte.21 Wenn Aretin ausführlich vom moralischen Verfall des Offizierskorps sprach und trotzdem feststellte, dass „der Eid darauf berechnet [war], die Besten in einen Teufelsbund an Hitler zu ketten“, ist dies wohl eine im Interesse der Würdigung des Widerstandes formulierte Paradoxie. Auch die Aussage, „vom 2. August 1934 an war es nicht mehr möglich, Hitlers verbrecherischen Befehlen Widerstand entgegenzusetzen“ kollidiert mit der eingangs getroffenen apodiktischen Feststellung, der Eid auf Hitler sei „ungesetzlich“, „verfassungswidrig“, hochverräterisch, „unmoralisch“ und „theologisch gesehen ungültig“ gewesen.22 Alle diese Verstöße seien nicht auf die Nationalsozialisten zurückgegangen, sondern fatalerweise dem Kalkül der Wehrmachtsführung in Gestalt Blombergs und Reichenaus entsprungen. Diese hätten so bei Hitler zu erreichen versucht, dass die Reichswehr nach der Ermordung Röhms und der Entmachtung der ← 15 | 16 → SA die einzige Waffenträgerin des Deutschen Reiches bliebe, wie Aretin unter Hinweis auf Wheeler-Bennett schrieb.23 Das stand im Widerspruch zur ‚herrschenden Lehre‘, die damals Hitler die Verantwortung zuzuschieben pflegte, weil die Wehrmacht aus den Niederungen der NS-Herrschaft herausgehalten werden sollte.24 In diesem Widerspruch liegt der eigentliche Wert von Aretins Beitrag, der anders als vor allem die ältere Generation den Erfolg des Nationalsozialismus mit dem lange vor 1933 eingeleiteten moralischen Niedergang der deutschen Führungsschichten erklärte. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

1956/57 erschienen mehrere Artikel Aretins in der Süddeutschen Zeitung, deren Verlag bereits die Erinnerungen des Vaters herausgebracht hatte. Dessen Verleger Schöningh hatte Aretin ermuntert, „historische Artikel zu schreiben“;25 mit ihrer Hilfe finanzierte er Archivreisen für seine ursprünglich geplante Habilitationsarbeit über den Rheinbund. Der bei weitem wichtigste Artikel galt dem Staatsstreich vom 20. Juli 1932, mit dessen Hilfe Papen die Macht in Preußen an sich habe reißen wollen. Papen zählte im Hause Aretin seit langem zu den ‚Lieblingsfeinden‘, dort wurden seine 1952 erschienenen Memoiren schlicht als verlogen betrachtet. Als sich der Coup des Herrn von Papen zum 25. Male jährte, ging Aretin mit ihm erstmals öffentlich ins Gericht. Seine Argumentation orientierte sich fast ganz an der väterlichen, denn schon der bayerische Erzföderalist Erwein v. Aretin hatte in diesem Staatsstreich in erster Linie einen Angriff auf die bundesstaatliche Struktur des Reiches gesehen, die von der Weimarer Verfassung fatalerweise nicht an ← 16 | 17 → die neuen Verhältnisse angepasst worden sei.26 Nach einem verfassungsgeschichtlichen Exkurs beklagte der Sohn wie kurz zuvor Karl Dietrich Bracher die Distanz der SPD und namentlich des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun zum Föderalismus, die Papen teilte, der den Föderalismus für eine „süddeutsche Marotte“ gehalten und die blockierten Verhältnisse in Preußen dazu benutzt habe, dessen Polizei in die Hände zu bekommen, um nun ungestört gegen die ‚Linke‘ vorgehen zu können und die SA zu schonen. Hierin offenbarte sich Papens politisches Gemüt,27 er „konnte nur in den Kategorien eines Leutnants denken“, wie übrigens auch Hindenburg, so Aretin. Die Folgen sah der Sohn klarer als der Vater in seinen schon wenig später verfassten Memoiren und so schloss er seinen Aufsatz mit den Worten: „Der 20. Juli ist für die Geschichte des Rechtsstaates Deutschland ein tragisches Datum. Mit diesem Tag begann der Weg ins Unrecht“.28 Diese Dramatisierung findet sich so damals nur bei Bracher, der vom „entscheidenden Wendepunkt im Prozeß der von der Demokratie zur Diktatur führenden Machtverschiebung“ sprach,29 während Erdmann zufolge Papen nur den auch in Preußen ← 17 | 18 → die stärkste Fraktion bildenden Nationalsozialisten zuvorgekommen sei30 und Conze darin „das erste Zugeständnis an Hitler“ sah.31

Im Jahr darauf machte Aretin mit einem zeitdiagnostischen Beitrag auf sich aufmerksam, der Eugen Kogons Blick auf ihn lenkte und letzten Endes seine spätere Berufung nach Darmstadt, eindeutig das Werk Kogons,32 erklärt. In den damals weithin berühmten, von Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Heften äußerte Aretin sich unter dem Titel Der Erfolgsdeutsche zu einer, wie er schreibt, beklemmenden Gegenwartsfrage. Es handelte sich um einen Alarmruf angesichts des wachsenden Einflusses der „Ewig-Gestrigen“, wie Theodor Heuss es gewohnt literarisch anspruchsvoll formulierte, während Aretin kurzerhand von „ehemaligen Mitläufern“ sprach und denkbar öffentlichkeitswirksam gegen die Beschwichtigungsstrategie des damaligen Bundesinnenministers Gerhard Schröder in Sachen „Neonazismus“ polemisierte.33 Die „ehemaligen Mitläufer“ hatten seit dem Ausführungsgesetz des Artikels 131 Grundgesetz im Jahre 1951 wieder Zutritt zum Staatsdienst, wurden dank ihres Wahlrechts (von Aretin unterschwellig kritisiert) von den Parteien umworben, unterwanderten besonders die CDU/CSU und tönten lautstark, dass der Erfolg der Bundesrepublik letztlich auf sie zurückgehe, „die man rufen mußte, als es nicht mehr weiterging“ – kurz: Der Nationalsozialismus, der ja „nicht eine einmalige schauerliche Entgleisung“ war, sondern „die Summe allen Unsinns, den der durch den deutschen Aufstieg nach 1870 verblendete deutsche Spießer […] ersonnen hat“, könne in „abgewandelter, obschon gewiß nicht mehr so furchtbarer Form wiederauftauchen“.34 ← 18 | 19 →

Das war eine Gegenwartsdiagnose, die selbst in den Frankfurter Heften überraschte, in denen Dirks bereits 1950 in einem aufsehenerregenden Beitrag den restaurativen Charakter der Zeit gegeißelt hatte.35 Denn Aretin meinte etwas anderes. Er stellte hier in kurzen Worten, aber vernehmlicher als bisher, eine Deutung des Nationalsozialismus vor, die damals nicht opportun war: kein Betriebsunfall, auch keine vom Ausland – Versailles – verursachte Katastrophe, sondern die Folge einer vom Kaiserreich ausgehenden Fehlentwicklung. 1958, drei Jahre vor Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht und ein gutes Jahrzehnt vor dem ersten Auftreten der Sonderwegstheorie, war das eine kühne, den Dingen vorauseilende und deshalb im Grunde nur vom politisch-historischen Gespür und nicht von eigener Forschung ausgehende Behauptung, die inzwischen allgemein anerkannt ist.36 Damals war das anders. Damals gab es auf der einen Seite die grobschlächtige und grundfalsche, vor allem natürlich im Ausland populäre Vansittart-These einer geraden Linie von Luther über Bismarck zu Hitler, und auf der anderen die in Deutschland praktizierte „geistige Entnazifizierung“, die „mit Hilfe einer Diabolisierung Hitlers“ den Abstand zu diesem und zur deutschen Geschichte unüberbrückbar machte, wie Aretin 1962 in einer ausführlichen Buchbesprechung von Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches formulieren sollte.37 In den Handbüchern fand sich dazu nichts. Erdmann umging eine Beschreibung des Nationalsozialismus vollständig, Mau und Krausnick sahen im unerwarteten Zusammenbruch der Monarchie die Ursache für den krisenhaften und schließlich in den Nationalsozialismus mündenden geschichtlichen Verlauf.38 Aretin sah zwar ebenfalls in 1918 „die eigentliche Bruchstelle“, denn zuvor ← 19 | 20 → seien die spießerhaften Velleitäten an der „Integrität der Oberschicht“ gescheitert, aber die total verblendete „Denk- und Empfindungsart“ habe sich schon seit 1870 verbreitet.39

Aretin hat, wie gesagt, diesen Gedanken vier Jahre später fortgesponnen. Shirer habe ein wichtiges und weithin überzeugendes Buch geschrieben, stellte er im Unterschied zur Masse der von ihm durchgesehenen Zeitungsrezensionen fest, aber er kritisierte dessen „Unvermögen […], sich mit der totalitären Problematik“ auseinanderzusetzen. Sie habe nicht nur in Deutschland und nicht nur von 1933 bis 1945 existiert, sondern die totalitäre Gefährdung sei ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts.40 Aretin meinte das weniger in Bezug auf die politischen Systeme, sondern moralisch: Aretin sah damals totalitäre Gefährdung überall wo „Lautstärke für national“ gehalten und Kritik unterdrückt wird, wo unliebsame Tatsachen ignoriert und demokratische Werte missachtet werden.41 So hat er – unversehens, meine ich, denn Aretin war zeitlebens Großtheorien gegenüber total abgeneigt – damit etwas angetreten, was Martin Geyer als frühe „Reisen in die Moderne“ durch deutsche Historiker bezeichnete: Die so diskontinuierlich verlaufene deutsche Geschichte provozierte, und zwar generationsübergreifend, die Frage nach dem Gesamtcharakter der Epoche, die natürlich verschieden beantwortet wurde.42 Dass Aretin sie mit dem Begriff ‚totalitär‘ umschrieb, lag in mancher Hinsicht nahe, denn Totalitarismus war eine der Leitvokabeln des Kalten Krieges, bezeichnete dann aber den gemeinsamen Nenner von Stalins und Hitlers Herrschaft, weshalb über ihn so verschiedene Politologen wie Hannah Arendt und Hans Buchheim geschrieben haben,43 oder er war ein provokanter ← 20 | 21 → Schlüsselbegriff linker Kulturkritik von Horkheimer und Adorno bis Jakob Talmon als Antwort auf die von modernen Diktaturen pervertierten Versprechen der Aufklärung.44 Aber Aretin meinte weder das eine noch das andere, sah er in der totalitären Versuchung ja das Merkmal eines ganzen Zeitalters, und damit befand er sich, soviel ich sehe, allein auf weiter Flur. Zu düster war wohl diese Vorstellung und sie hätte vorausgesetzt, dass die Ursprünge zeit- und regimeübergreifend gedacht wurden, was, wie bereits gesagt, damals alles andere als mehrheitsfähig war.

Details

Seiten
218
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653059328
ISBN (ePUB)
9783653951905
ISBN (MOBI)
9783653951899
ISBN (Hardcover)
9783631666142
DOI
10.3726/978-3-653-05932-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Frühe Neuzeit Geschichte der Geschichtswissenschaft Darmstädter Institut für Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 218 S., 2 farb. Abb.

Biographische Angaben

Christof Dipper (Band-Herausgeber:in) Jens Ivo Engels (Band-Herausgeber:in)

Christof Dipper war bis 2008, Jens Ivo Engels ist seither Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Darmstadt. Beide sind somit Nachfolger Karl Otmar v. Aretins.

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Titel: Karl Otmar von Aretin
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