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Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa

Module für den Geschichtsunterricht

von Uta Fenske (Band-Herausgeber:in) Daniel Groth (Band-Herausgeber:in) Klaus-Michael Guse (Band-Herausgeber:in) Bärbel P. Kuhn (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 268 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band bietet Lernenden und Lehrenden einen neuen Zugang zu der Frage, welche Rolle Kolonialismus und Dekolonisation in einer geteilten europäischen Vergangenheit spielen, und stellt Materialien für den Geschichtsunterricht bereit. Die Beiträge sind das Ergebnis des EU-Projektes CoDec, in dem Partner aus Belgien, Deutschland, Estland, Großbritannien, Österreich, Polen und der Schweiz zusammengearbeitet haben. Die einzelnen Module beschäftigen sich mit kolonialen Vergangenheiten, Prozessen von Dekolonisation und Erinnerungspolitiken in verschiedenen Ländern in vergleichender und transnationaler Perspektive. Sie bieten anregende Quellen und konkrete Vorschläge für einen zeitgemäßen Geschichtsunterricht an Europas Schulen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • I. Übersee-Kolonialismus
  • Übersee-Kolonialismus als Prozess verstehen: Zur Einführung
  • Kartoffeln, Kaffee und Zucker – das Fremde aus „Übersee“ verändert Europa
  • Die Kartoffel – das Fremde aus den Kolonien wird zum Eigenen
  • Der Kaffee – das Fremde wird Teil des „westlichen“ Lebensstils in Europa
  • Der Zucker – das Fremde wird kopiert
  • Kolonialismus und die Karibik: Wohlstand, Macht und der britische imperiale Staat
  • Wirtschaftliche Aspekte des Kolonialismus: Eine karibische Fallstudie
  • Schweizer Auswanderer im Brasilien des 19. Jahrhunderts: Ambivalente Verflechtungen mit Strukturen der Sklaverei
  • II. Innereuropäische Hegemonien und Verflechtungen als Kolonialismus?
  • Innereuropäischer Kolonialismus: Zur Einführung
  • Das Luthertum in der estnischen Geschichte – von der Fremdbestimmung zur Volkskirche
  • Polenbilder in Deutschland im späten 18. und im 19. Jahrhundert: Voraussetzung kolonialer Herrschaftsbeziehungen?
  • Postkoloniale Theorien verstehen und auf das Verhältnis von Ost- und Westeuropa anwenden
  • Deutsche Kolonialpolitik in Großpolen im 19. und 20. Jahrhundert
  • Innerpolnische Politik in den Kresy in der Zwischenkriegszeit: Ein Beispiel für innereuropäischen Kolonialismus?
  • III. Dekolonisation und Unabhängigkeitsbewegungen
  • Dekolonisation, der Kalte Krieg und Entwicklungshilfe: Zur Einführung
  • Zwischen brüderlicher Vereinigung und Kolonialismus – Polen in der Einflusssphäre der Sowjetunion
  • Die Reden von Baudouin I. und Patrice Lumumba am 30. Juni 1960, dem kongolesischen Unabhängigkeitstag – zur Diskussion
  • Einwanderung nach Estland nach dem Zweiten Weltkrieg
  • Das Beispiel der geheimen Urananreicherungsanlage in Sillamäe
  • Gründe für die Appeasementpolitik: Das Britische Empire
  • Die Schweiz und Ruanda: Eine problematische Partnerschaft
  • IV. Erinnerungskulturen und Erinnerungspolitiken
  • Postkoloniale Erinnerungskulturen in Europa. Eine fragmentierte, geteilte und national gebundene Erinnerungslandschaft: Zur Einführung
  • Warum „Kolonialismus“ als Begriff Verwirrung stiftet. Alternativen in der Historiografie
  • Der Kongo in flämisch/belgischer und postkolonialer belgisch/kongolesischer kollektiver Erinnerung
  • Wem gehört die polnische Vergangenheit? Polnische Geschichte aus westeuropäischer und polnischer Sicht
  • Koloniale Interpretationsmuster in Schweizer Comics
  • Danksagung
  • Autorinnen und Autoren

Uta Fenske und Bärbel P. Kuhn

Einleitung

Entstehungskontext und Anliegen des Buches

Der vorliegende Band ist das Ergebnis des von der EU im Rahmen des Lifelong Learning Programms von 2013 bis 2015 geförderten Projektes „Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitik in europäischer Perspektive“. Ziel des Projektes war es, in vergleichender Perspektive und gemeinsam mit europäischen Kooperationspartnerinnen und -partnern aus Belgien, Deutschland, Estland, Österreich, Polen, Schottland und der Schweiz neue Zugänge der schulischen Vermittlung zu diesem Themenkomplex zu entwickeln. Dafür arbeiteten Historikerinnen und Historiker, Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker und Unterrichtende eng zusammen. Das Projekt konzentrierte sich auf den europäischen Kolonialismus seit dem späten 18. Jahrhundert, auch wenn die europäische koloniale Vergangenheit der Neuzeit ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Obwohl die kolonialen Erfahrungen in den beteiligten Ländern unterschiedliche Verlaufsformen und Folgen hatten und haben, sind sie zugleich auch ein verbindendes Moment europäischer Geschichte. Kolonialismus als thematischer Rahmen des Projektes stand in dem Spannungsfeld der Wahrnehmung von Kolonialismus und Dekolonisation als gemeinsamer europäischer Vergangenheit einerseits und des unterschiedlichen Umgangs der einzelnen europäischen Staaten mit dieser Vergangenheit auf der anderen Seite. Die Idee des gemeinsamen Projektes war es deshalb zu diskutieren, inwieweit die nationalen Geschichtskulturen im Kontext von Kolonialismus und Dekolonisation in einem kollektiven europäischen Rahmen verortet werden könnten. Oder anders gewendet, ob Europa trotz der vielfältigen trennenden historischen Entwicklungen und Erinnerungen eine Erinnerungsgemeinschaft im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit ist oder sein könnte. Verbindend ist die Kolonialgeschichte durch das Bestreben verschiedener Mächte Europas, „periphere Gesellschaften“ den europäischen „Metropolen dienstbar zu machen“.1 Die unterschiedlichen Wege zur Kolonialisierung, die ausgeübte koloniale Herrschaft wie dann auch die verschiedenen Formen der Dekolonisation müssen so vor dem Hintergrund jeweils anderer nationaler Eigengeschichten gesehen werden, die weder ignoriert noch harmonisiert werden sollen. Dennoch erscheint uns aus einer globalen Perspektive eine Annäherung aus der Perspektive Europas als Erfahrungs- und Handlungsraum sinnvoll und möglich zu sein. Darüber hinaus zeigt sich die fortdauernde Bedeutsamkeit der kolonialen Vergangenheiten etwa in komplexen Migrationsverhältnissen oder auch in den weiterhin bestehenden problematischen Konstruktionen des „Anderen“ innerhalb der europäischen Gesellschaften.

Die Überlegungen Aleida Assmanns zu „Europa als Erinnerungsgemeinschaft“2 aufgreifend, wurde in dem Projekt die Frage gestellt, ob nicht der Themenkomplex „Kolonialismus und Dekolonisation“ ein wichtiger historischer Referenzpunkt für Europa ← 9 | 10 → und ein für Selbst- und Fremdentwürfe europäischer Identität relevanter „europäischer Erinnerungsort“3 sein könnte. Erinnerungen sind zwar individueller Natur, werden aber maßgeblich durch soziale und kulturelle Kontexte beeinflusst und kollektiv wirksam. Insofern prägen Unterricht und der Umgang mit Geschichte in der Lebenswelt nicht nur das Geschichtsbewusstsein, sondern auch die konkreten und öffentlichen Formen, die Erinnerungen annehmen.4 Kollektive Vergangenheitsbilder verfestigen sich zu „Erinnerungsorten“ spezifischer Erinnerungsgemeinschaften. Dabei sind diese Gemeinschaften nicht statisch, sondern können je nach Bezugspunkt andere Rahmungen erfahren. Sie sind, indem sie national, regional, religiös begründet oder durch gemeinsame Erfahrungen in der Vergangenheit geprägt sind, relationale Gemeinschaften. Erinnern wird dann oft transnational, bleibt jedoch als geteilte Geschichte national und europäisch anschlussfähig. Luisa Passerini hat in diesem Zusammenhang zwischen „shared narratives“ als auf die Vergangenheit und „shareable narratives“ als auf die Zukunft bezogen unterschieden.5

Insbesondere im Geschichtsunterricht wird dem europäischen Charakter dieser Vergangenheit, wie er sich in der Verwobenheit kolonialer Politiken genauso wie in ähnlichen aber auch unterschiedlichen Praktiken und Erfahrungen der Kolonialmächte zeigt, bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt.6 Dies zeigte deutlich die das Projekt einleitende Frage, wie die Thematik in den beteiligten Staaten im Geschichtsunterricht vermittelt wird. Wenn Europa als imperialistischer oder kolonisierender Kontinent auftaucht, dann häufig, indem nationale Politiken additiv vorgestellt und die Unterschiede ausgeführt werden. Mit der Frage nach der Bedeutung, die koloniale Vergangenheit für die nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken gegenwärtig hat, wird sehr unterschiedlich und mehr oder wenig kritisch umgegangen. Deshalb will dieses Buch mit insgesamt 21 Unterrichtsmodulen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, allen im historischen Bildungsbereich Tätigen sowie allen am Thema Interessierten Anregungen geben, die gemeinsamen Entwicklungslinien in der europäischen Geschichte zu sehen und zu verstehen, und so eine erweiterte europäische Perspektive auf diese Inhalte einnehmen zu können.

Die Fragestellung und die Anliegen des Projektes erforderten unterschiedliche theoretische und methodische Annäherungen und die Verbindung geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Ansätze.7 Dabei spielen die geschichtsdidaktischen Konzepte ← 10 | 11 → Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur eine ebenso wichtige Rolle wie neuere fachwissenschaftliche Ansätze zur Erinnerungskultur, Postcolonial Studies, New Imperial History, Kulturtransfer, transnationale und Verflechtungsgeschichte.

Das Konzept des Kolonialismus ist komplex und der Begriff nicht leicht zu definieren. Zum einen muss „Kolonialismus“ in Bezug auf unterschiedliche historische Situationen gegenüber anderen Formen der Herrschaftsausübung, wie z. B. „Imperialismus“, „Besatzungsherrschaft“, „Interventionspolitik“, „Abhängigkeitsverhältnisse“, „Wissen-Macht-Beziehungen“ oder „Hegemonien und Verflechtungen“ – innerhalb Europas wie darüber hinaus − abgegrenzt werden. Zum anderen hat die koloniale Realität in unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschiedene Ausprägungen, man denke etwa an diverse Formen der Herrschaftsausübung, aber auch an verschiedene Typen von Kolonien wie Stützpunktkolonien oder Siedlungskolonien. Die Herausforderung besteht also darin, die Herrschaftssysteme sowohl präzise zu beschreiben als auch die breit gefächerten Ausprägungen zu erfassen. Es lässt sich gleichwohl festhalten, dass das Gros der umfassenden Forschung zum Kolonialismus darin übereinstimmt, ihn als ein System von Fremdherrschaft zu beschreiben, das von politischer Macht und wirtschaftlicher Ausbeutung sowie von kultureller Dominanz geprägt ist.8 Als zentrales Kriterium gilt der traditionellen Forschung dabei die Ausübung von Herrschaft über Territorien, die sich in räumlicher Distanz zu den europäischen Machtzentren befinden, also Machtverhältnisse, die auf der Expansion Europas nach Übersee beruhen. Eine rigide Anwendung dieses Kriteriums würde jedoch „Grenzfälle“ von innerkontinentalen Herrschaftsbeziehungen grundsätzlich ausschließen.9 Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen wird etwa in der Forschung zu Osteuropäischer Geschichte diskutiert, ob die Annahmen der Postcolonial Studies nicht nur auf überseeische Konstellationen, sondern auch auf innereuropäische hegemoniale Machtverhältnisse und Verflechtungen angewandt werden können.10 Kolonialismus wird dann nicht lediglich als Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehung gesehen, sondern er bildet sich auch ab in den Wissenssystemen, die diese Beziehungen gestalten und repräsentieren. Als solche sind etwa zu sehen: Rassismustheorien, Zivilisierungs- und Missionierungsvorstellungen, Überlegenheits- und Rückständigkeitskonzepte oder entsprechende Ausformungen von (Wissenschafts)Sprache. Einige der folgenden Unterrichtsvorschläge greifen diese Überlegungen auf und präsentieren Beispiele für Formen von innereuropäischen kolonialen Praktiken und Politiken. ← 11 | 12 →

Eine weitere wichtige Implikation einer postkolonialen Perspektive ist, dass koloniale Beziehungen nicht als eindimensional verstanden werden können,11 wie es lange geschah und im Geschichtsunterricht immer noch allzu oft geschieht. Koloniale Politik ist eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte. Die Geschichte der (west)europäischen Kolonialmächte kann von derjenigen der einstigen Kolonialländer nicht losgelöst betrachtet werden. Deshalb werden nicht nur die Auswirkungen des Kolonialismus auf die ehemaligen Kolonialstaaten, sondern auch seine Nachwirkungen mit ihren konkreten Verschränkungen zwischen verschiedenen Nationen Europas und den ehemals kolonialisierten Staaten in den Blick genommen. Mit einer transnationalen Forschungsperspektive wurde ebenso nach unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Verbindungen, Verflechtungen, Überschneidungen, Interaktionen, Transfers und Zirkulationen, die über den Nationalstaat hinausreichen, gefragt. Konzepte wie Nation, Region oder Kultur bleiben dabei durchaus Bezugsgrößen, werden jedoch relational. Ihre Bedeutung bzw. der Grad ihrer Bedeutung ist in konkreten Konstellationen jeweils abhängig von ihrem Zusammenwirken.

Das Buch eröffnet neue und ungewohnte Sichtweisen, indem es die Perspektiven von Ländern, die unterschiedlichste Erfahrungen mit kolonialen Politiken und Dekolonisation gemacht haben, berücksichtigt. Es kommen sowohl ehemalige Kolonialmächte (Belgien, Deutschland, Großbritannien) zu Wort, ehemals besetzte (oder könnte man sagen „kolonisierte“?) Länder (Polen, Estland), und schließlich auch ein Land, das – zumindest territorial − nicht offensichtlich in koloniale Aktivitäten involviert, aber dennoch durch wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen beteiligt war (Schweiz). Wir erfahren jedoch nicht nur vieles über die Geschichten selbst und ihre Besonderheiten, sondern auch die Umgangsweisen und Auseinandersetzungen mit den je eigenen und den Geschichten der Anderen geben spannende Einblicke in verschiedene Wahrnehmungen und Deutungen von einer gemeinsamen Vergangenheit.

Zugänge zu Kolonialismus und Dekolonisation für eine zeitgemäße historische Bildung

Transnationale Perspektiven und interkulturelle Zugänge im Geschichtsunterricht und die Beschäftigung mit geschichtskulturell relevanten (und durchaus auch brisanten) Fragestellungen sind im Sinne eines reflektierten Geschichtsbewusstseins und einer differenzierten historischen Urteils- sowie einer mündigen Handlungskompetenz für das Mitwirken in einer demokratischen Gesellschaft zentral. Die Hinzunahme anderer Sichtweisen und Perspektivenwechsel ermöglichen es, Geschichtsbilder auf transnationaler, ← 12 | 13 → transterritorialer, transkultureller und transkontinentaler Ebene zu erweitern und zu relativieren. Angenommene Gewissheiten oder Überlegenheits- bzw. Unterlegenheitsvorstellungen können verunsichert und neue Erkenntnisse gewonnen werden. Phasen und Projekte der „De-Zentrierung“12 im Verlauf des Geschichtsunterrichts eröffnen zugleich die Chance, Schülerinnen und Schüler für das eigene Gewordensein zu sensibilisieren, Differenz anzuerkennen und kulturelle Vielfalt wertzuschätzen. „In der Begegnung mit anderen Zeiten, historisch anderen Welten“, aber auch mit anderen Arten und Weisen, wie sie im Geschichtsunterricht in Europa vermittelt werden, liegt die Chance, das Eigene mit neuen Augen zu sehen und „das Andere als legitime Variante“ zu respektieren.13

Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Konzepte von nationaler Geschichte zu relativieren. Das hilft ihnen, sich der Rahmenbedingungen ihrer eigenen nationalen Identitätskonstruktionen bewusst zu werden. Eine solche Erweiterung des historischen Verständnishorizonts mit Hilfe von Unterrichtsmodulen aus verschiedenen Ländern, mit einer Vielzahl und Vielfalt neuer und neuartiger Quellen, die zur Verfügung gestellt werden, ermöglicht vielfältige Perspektivwechsel und kann für Lehrende und Lernende gleichermaßen motivierend sein.

Die Module sind in vier Kapiteln angeordnet, die die unterschiedlichen Ansätze innerhalb des Projekts repräsentieren. Im ersten Kapitel zum überseeischen Kolonialismus steht ein eher klassischer Zugang zu der Fragestellung im Mittelpunkt. Themen wie der zunehmende Einfluss von kolonialen Waren auf europäische Lebensgewohnheiten sind ebenso Teil dieses breit gefächerten Kapitels wie beispielsweise der transatlantische Sklavenhandel und die ihm zugrundeliegenden Machtstrukturen, die zum Funktionieren dieses Systems nötig waren.

Die Module des zweiten Kapitels eröffnen die Frage, inwieweit auch innereuropäische Herrschaftsverhältnisse als koloniale Beziehungen angesehen werden können. Sie bieten zum Beispiel mit Quellen und Unterrichtsvorschlägen zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen im 19. Jahrhundert oder der Sowjetunion und Estland im 20. Jahrhundert Möglichkeiten einer grundsätzlichen Reflexion über das Wesen und die Wirkungsweisen von kolonialen (oder kolonial-ähnlichen?) Strukturen und Politiken an.

Schließlich widmet sich ein drittes Kapitel der Frage nach den Voraussetzungen, Formen, Wahrnehmungen und Deutungen von Dekolonisationsprozessen aus der Perspektive sowohl der ehemaligen Metropolen als auch der Peripherien,14 wie es anschaulich das Modul zur Rede Patrice Lumumbas von 1960 zur Unabhängigkeit des Kongos von der belgischen Vorherrschaft zeigt.

Diese Frage führt schon zum letzten Kapitel, das (post-)koloniale Erinnerungskulturen und -politiken in verschiedenen europäischen Ländern in den Blick nimmt. Ungewöhnliche kulturgeschichtliche Quellen wie zu der Schweizer Comic-Figur Globi oder Hip-Hop Songs von aktuellen belgisch-kongolesischen Interpretinnen und Interpreten können die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler motivieren, ← 13 | 14 → sich auf die neuartige Fragestellung einzulassen.15 Für ausführliche Überlegungen zu den vier Kapiteln sei hier auf die jeweiligen Einleitungen verwiesen.

Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler erhalten nicht nur neue Materialien zu Kolonialismus und Dekolonisation, sondern auch didaktische Kommentare, die hilfreiche Hinweise für die Umsetzung im Unterricht geben. Im Laufe der Arbeit an dem Projekt haben die Projektpartner und -partnerinnen gemeinsam ein Schema zum Aufbau der Module erstellt, um so eine gewisse Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Trotz dieses gemeinsamen Rahmens geben die hier versammelten Module den unterschiedlichen Unterrichtskulturen genügend Raum. Die Unterrichtsmodule können wie hier vorgeschlagen unterrichtet werden, lassen aber auch Spielräume für eine individuelle Gestaltung zu. Diese Spielräume zeigen sich zum Beispiel in der Form, in der die Quellen in die Module eingearbeitet wurden: Sie sind in einigen Fällen ungekürzt, um es den Unterrichtenden zu ermöglichen, sie für die jeweiligen Unterrichtsbedürfnisse zu bearbeiten. Die ausführliche Wiedergabe erlaubt es vor allem, die Quellen nicht nur zur Entnahme von Sachinformationen zu nutzen, sondern sie selbst, etwa auch mit ihrem Gattungscharakter, zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Solche Quellen sind damit besonders geeignet, Zeugnisse aus der Vergangenheit ebenfalls als Konstrukte zu erkennen, die von jemandem in einer bestimmten Absicht in einem konkreten Zusammenhang geschaffen wurden. Durch die Behandlung dieser Aspekte im Unterricht kann den Schülerinnen und Schülern bewusst werden, dass auch die auf der Grundlage von Quellen erarbeitete Vergangenheitsdeutung wiederum nur eine Konstruktion ist. Andererseits sind gekürzte Quellen für die Unterrichtspraxis je nach Anliegen und zur Verfügung stehender Zeit manchmal durchaus pragmatisch sinnvolle Lösungen, etwa wenn verschiedene Perspektiven auf ein bestimmtes Thema erarbeitet werden sollen.

In ihrer Unterschiedlichkeit lassen die Module so auch verschiedene Anliegen von Geschichtsunterricht sichtbar werden. In der hier vorliegenden Zusammenstellung ermöglichen sie deshalb nicht nur, verschiedene Länder Europas mit ihren je eigenen Geschichten kennenzulernen, sondern bieten auch die Chance, Quellenarbeit auf verschiedenen Ebenen zu üben. Die Module spiegeln mit ihrem unterschiedlichen Verständnis von historischem Lernen und Denken zugleich auch unterschiedliche Geschichtskulturen und national spezifische Prägungen durch die Vergangenheit wider. Oft sind diese Vergangenheiten noch sehr präsent. Wir haben es also gleichermaßen mit Fragen der Neueren und Neuesten Geschichte wie der Zeitgeschichte zu tun, die häufig eine „Streitgeschichte“ ist. Europa als „Lerngemeinschaft“ anzusehen und ernst zu nehmen – wie es das Projekt von Anfang an zum Ziel hatte – bedeutet eben auch, miteinander zu diskutieren und voneinander zu lernen, wie geforscht, gelehrt und gelernt wird.

Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Perspektiven und Geschichtskulturen

Details

Seiten
268
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653058987
ISBN (ePUB)
9783653952124
ISBN (MOBI)
9783653952117
ISBN (Hardcover)
9783631666012
DOI
10.3726/978-3-653-05898-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Geschichtsbewusstsein Postkolonialismus Geschichtsdidaktik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 268 S., 34 s/w Abb.

Biographische Angaben

Uta Fenske (Band-Herausgeber:in) Daniel Groth (Band-Herausgeber:in) Klaus-Michael Guse (Band-Herausgeber:in) Bärbel P. Kuhn (Band-Herausgeber:in)

Bärbel P. Kuhn ist Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Siegen. Uta Fenske und Daniel Groth sind wissenschaftliche Mitarbeiterin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen. Klaus-Michael Guse unterrichtet Geschichte und ist in der Lehrerausbildung tätig. Sie haben zusammen das EU-geförderte Projekt CoDec durchgeführt.

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