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Die Anforderungen an die Strafzumessungsbegründung im Urteil

Zugleich eine kritische Betrachtung des § 267 III 1 HS 2 StPO

von Christin Antje Reichenbach (Autor:in)
©2016 Dissertation 274 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht die Begründung der Strafzumessungsentscheidung im Urteil als den in der Regel relevantesten Teil für die Angeklagten. Es gibt kaum einen anderen strafrechtlichen Bereich, der dem Tatgericht so viel Spielraum bietet. Der Strafzumessungsbegründung im Urteil kommt deshalb primär die Aufgabe zu, einerseits eine Kontrolle dieser Entscheidung zu ermöglichen und andererseits die Akzeptanz des Angeklagten zu erreichen. Welche Anforderungen an diese Begründungspflicht im Lichte dieser und anderer Zwecke, aber auch aufgrund gesetzlicher und vor allem revisionsgerichtlicher Vorgaben bezüglich Umfang und Reichweite zu stellen sind, untersucht die Autorin im Rahmen dieses Buchs, wobei sie auch etwaige Einschränkungsmöglichkeiten unter Berufung auf § 267 III 1 HS 2 StPO kritisch prüft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
  • II. Gang der Darstellung
  • 1. Teil: Mindestanforderungen an die Strafzumessungsbegründung
  • A. Zweck der Begründungspflicht
  • I. Ermöglichung der revisionsrechtlichen Nachprüfung
  • II. Kontrollfunktion
  • III. Umgrenzungsfunktion
  • IV. Informationsfunktion
  • V. Aufklärungsfunktion
  • VI. Legitimationsfunktion
  • VII. Strafzwecke
  • 1. Absolute Straftheorien
  • 2. Spezialprävention
  • 3. Generalprävention
  • VIII. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung/Rechtsfortbildung
  • IX. Fazit
  • B. Rechtliche Grundlagen
  • I. Verfassungsrechtliche Herleitung
  • 1. Rechtsstaatsprinzip
  • 2. Justizgewährungsanspruch
  • 3. Anspruch auf rechtliches Gehör
  • 4. Demokratieprinzip
  • 5. Gleichheitsgrundsatz
  • 6. Richterliche Unabhängigkeit
  • 7. Fazit
  • II. Gebot eines fairen Verfahrens, Art. 6 I EMRK
  • III. Materiell-rechtliche Begründungspflicht
  • IV. Prozessuale Begründungspflicht gemäß § 267 III 1 StPO – Überblick
  • C. Anforderungen im Lichte der Reichweite der Revisibilität
  • I. Revisibilität der Strafzumessung
  • 1. Kontrollumfang bzw. unantastbarer Ermessensspielraum
  • a) Entwicklung
  • b) Status Quo
  • 2. Sachrüge
  • a) In sich fehlerhafte Strafzumessungserwägungen
  • b) Verstoß gegen bzw. Missachtung rechtlich anerkannter Strafzwecke
  • c) Über-/Unterschreitung des schuldangemessenen Spielraums
  • aa) Beurteilungskriterium
  • (1) Rechtsprechung
  • (2) Literatur (Auswahl)
  • bb) Das übliche Strafmaß als Vergleichsgröße
  • cc) Einschränkung der Begründungspflicht hinsichtlich des irrevisiblen Bereichs
  • 3. „Darstellungsrüge“
  • a) Anwendungsbereich
  • aa) Revisionsrechtliche Prüfung von Darstellungsmängeln
  • bb) Einzelne Aspekte des Darstellungsmangels
  • b) Rechtliche Einordnung
  • aa) Verfahrensmangel
  • bb) Sowohl materiell-rechtlicher als auch prozessualer Mangel
  • cc) Sachmangel
  • dd) Stellungnahme
  • c) Konsequenz für die Revisibilität der Strafzumessungsentscheidung
  • aa) Ausdehnung der Revisibilität
  • bb) Kritik
  • (1) Contra
  • (2) Pro
  • (3) Stellungnahme
  • 4. Verfahrensrüge
  • a) Rüge des § 267 III 1 StPO
  • b) Sonstige Verfahrensverstöße
  • II. Anforderungen an die Strafzumessungsbegründung
  • 2. Teil: Reichweite und Grenzen der Begründungspflicht
  • A. Auslegung des § 267 III 1, 2. HS StPO
  • I. Grammatisch
  • II. Historisch/genetisch
  • 1. § 266 RStPO
  • 2. Reformbestrebungen bis zur Neufassung des § 267 III 1 StPO durch das VereinhG von 1950
  • 3. Fazit
  • III. Systematisch
  • IV. Teleologisch
  • V. Fazit
  • B. Revisionsrechtliche Untersuchung
  • I. Allgemeine Vorgaben
  • 1. Quantifizierung nach Strafmaß
  • a) Nach Grad der Abweichung vom Üblichen/Normalstrafmaß
  • b) Strafhöhe am Rande des zulässigen Strafrahmens
  • c) Mindest-/Höchststrafe
  • d) Lebenslange Freiheitsstrafe
  • f) Freiheitsstrafe nahe der Aussetzungsgrenze
  • 2. Besondere Entscheidungskonstellationen
  • a) Strafmaßentscheidung nach Aufhebung und Zurückweisung durch das Revisionsgericht
  • b) Gegen mehrere Tatbeteiligte verhängte Strafen
  • c) Gesamtstrafe
  • aa) Begründungsumfang
  • bb) Bezugnahme auf Begründung der Einzelstrafen
  • cc) Zulässige Einschränkungen bei Tatserien
  • dd) Nachträgliche Gesamtstrafenbildung
  • ee) Härteausgleich
  • ff) Entscheidung nach § 53 II StGB
  • 3. Einzelfallbezogene Begründung
  • a) Hilfserwägungen
  • b) Pauschale Hinweise/Floskeln
  • 4. Erörterungspflichtige Umstände (abstrakt)
  • a) Strafzumessungstatsachen
  • aa) In dubio pro reo
  • bb) Welche Umstände
  • b) Strafzumessungserwägungen
  • aa) Begründungspflicht bezüglich der Gewichtung/Abwägung
  • bb) Vorgaben zur Gewichtung und Abwägung
  • cc) Wertungsfehler als Aufhebungsgrund
  • c) Vollständige Darlegung der Strafzumessungsumstände?
  • aa) Frühere Rechtsprechung
  • bb) Heutige Standardformel
  • cc) Schweigen des Urteils
  • 5. Fazit
  • II. Auswahl konkreter Strafzumessungsumstände
  • 1. Persönliche Verhältnisse des Angeklagten
  • a) Erörterungspflicht
  • b) Umfang
  • 2. Verwertung von Vorstrafen und -taten
  • a) Berücksichtigung von Vorstrafen
  • b) Berücksichtigung nach § 154 StPO eingestellter Taten bzw. nach § 154a StPO ausgeschiedenen Prozessstoffes
  • c) Berücksichtigung verjährter Taten
  • 3. Naheliegende Milderungsgründe
  • a) Vorstrafenfreies Vorleben des Angeklagten
  • b) Positives Nachtatverhalten (Auswahl)
  • aa) Stabilisierung der Lebensverhältnisse/soziale Integration
  • bb) Schadensbeseitigung
  • cc) Geständnis
  • dd) Aufklärungsbereitschaft des Angeklagten
  • c) Mitwirkendes Verschulden des Opfers bzw. eines Dritten
  • d) Überlange Verfahrensdauer
  • e) Verstöße gegen das BtMG
  • f) Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters (Auswahl)
  • aa) Erhöhte Strafempfindlichkeit
  • bb) Berufliche Nebenfolgen
  • g) Tatserie
  • 4. Naheliegende Strafschärfungsgründe
  • III. Erfolglose Revision wegen eines Darstellungsmangels
  • 1. Grundsätzlich nicht zu erörternde Umstände
  • 2. Im Einzelfall nicht bestimmende Umstände i.S.v. § 267 III 1 HS 2 StPO
  • a) BGH 3 StR 311/94
  • b) BGH 3 StR 536/98
  • c) BGH 3 StR 132/12
  • d) BGH 4 StR 216/14
  • IV. Ergebnis zur revisionsrechtlichen Untersuchung
  • V. Kritik
  • 1. Verkennung bzw. Missachtung der Funktion des § 267 III 1 StPO
  • 2. Rechtsunsicherheit
  • 3. „Revisionsfeste“ statt „wahre“ Erwägungen
  • 3. Teil: Reformüberlegungen zu § 267 III 1 StPO
  • A. Bedürfnis nach derzeitiger Einschränkung der Begründungspflicht
  • I. Der nicht bestimmende Strafzumessungsumstand
  • 1. Rechtsprechung
  • 2. Die irrationalen Erwägungen
  • 3. Einfluss auf das Strafmaß als Gradmesser
  • II. Prozessökonomische Erwägungen
  • III. Revisionsrechtliche Perspektive
  • IV. Sonstige Erwägungen
  • B. Reformvorschläge
  • I. Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen von 1975
  • II. Alternativ-Entwurf zur Strafprozessordnung von 1985
  • III. Eigener Reformvorschlag
  • Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

I. Gegenstand und Ziel der Untersuchung

Die Strafrechtslehre ist im Studium nahezu ausschließlich auf das materielle Recht, konkret die Frage der Begründung der Strafbarkeit, konzentriert. Zwar wird dem Strafprozessrecht zumeist ebenfalls ein Semester gewidmet, nicht zuletzt aufgrund untergeordneter Examensrelevanz jedoch nur wenig Aufmerksamkeit seitens der Studenten geschenkt. Die Rechtsfolgenseite einer Straftat wird in der Regel – abgesehen von einigen Schwerpunktveranstaltungen, die allerdings auch nicht an jeder Universität angeboten werden – gar nicht oder allenfalls im Rahmen eines kurzen Überblicks behandelt.

Auch im Referendariat, in dem nunmehr das Strafprozessrecht in den Vordergrund rückt, wird die Strafzumessung – trotz staatsanwaltlichen Sitzungsdienstes bereits in der ersten oder zweiten Station – wenig bis gar nicht näher beleuchtet; so mancher Referendar sieht sich hier erstmals genötigt, sich selbständig mit dieser Thematik zu befassen, um die Aufgabe der staatsanwaltlichen Vertretung vor Gericht überhaupt bewältigen zu können.

Dabei ist gerade die Rechtsfolgenentscheidung der für den Angeklagten relevanteste Teil;1 ob sein Verhalten nun den Tatbestand eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung erfüllt, dürfte ihn weniger interessieren als die Frage, wie hoch seine Freiheitsstrafe ausfällt, ferner ob diese – soweit möglich – zur Bewährung ausgesetzt wird und natürlich auf welchen Erwägungen diese Entscheidung beruht. Dies gilt für die Öffentlichkeit gleichermaßen.

Zudem gibt es kaum einen anderen strafrechtlichen Bereich, der so viel Spielraum bietet, wie die Rechtsfolgenentscheidung, allein schon aufgrund der weit gefassten gesetzlichen Strafrahmen, aber auch wegen der überschaubaren Zahl gesetzlicher Vorgaben. Im StGB ist den Rechtsfolgen einer Straftat der dritte Abschnitt (§§ 38–76 a) gewidmet, wobei für die Strafbemessung insbesondere die Vorschrift des § 46 StGB relevant ist. Die darin enthaltenen Grundsätze für die Strafzumessung liefern zwar Anhalts- bzw. Orientierungspunkte und sogar eine beispielhafte Auflistung in Betracht kommender Zumessungsaspekte für das erkennende Gericht, die Regelungen sind jedoch entweder nicht verbindlich (so der Katalog von Zumessungsfaktoren) oder sehr offen und vage formuliert (etwa „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“, § 46 I 1 StGB); zum konkreten Strafmaß verbleibt noch ein langer Weg.

In erster Linie hat die Strafrechtswissenschaft die Ausfüllung dieser Grundsätze übernommen, wobei es – vermutlich aufgrund der Vernachlässigung der Rechtsfolgenentscheidung während der Ausbildung – auch nur wenige Autoren gibt, die ← 15 | 16 → sich auf dieses Gebiet spezialisiert haben bzw. überhaupt dahingehend Forschung betreiben.2 Gleichwohl wurden zahlreiche Theorien zur Strafmaßfindung entwickelt, die im Rahmen der tatrichterlichen Entscheidung Berücksichtigung finden. Dieser Prozess bleibt in der Praxis allerdings jenseits dessen, was in den Urteilsgründen wiedergegeben wird, im Dunkeln3 und soll im Rahmen dieser Arbeit auch nicht näher untersucht werden.

Die derzeitige Entwicklung bzw. Fortbildung der Strafzumessungsgrundsätze wird maßgeblich von den Revisionsgerichten betrieben, die den zulässigen Kontrollumfang hinsichtlich der Rechtsfolgenentscheidung des Tatgerichts kontinuierlich ausgeweitet haben.4 Da diese Prüfung nur anhand der Strafzumessungsbegründung im Urteil erfolgen kann, haben die Revisionsgerichte sehr umfangreiche und detaillierte Begründungsanforderungen für das Tatgericht entwickelt, was letztlich – ausgehend von insoweit bestehender Kongruenz – auch Vorgaben für die Rechtsfolgenentscheidung als solche sind. Aufgrund der Vielzahl insofern ergangener Einzelfallentscheidungen ist es eine schwierige Herausforderung für das Tatgericht, den zahlreichen Grundsätzen und Einzelvorgaben gerecht zu werden.

Diese Arbeit widmet sich daher der Untersuchung der Anforderungen, die an die Begründung der Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters gestellt werden, vornehmlich durch eine Analyse der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung. Dabei soll primär das Ausmaß der Begründungsvorgaben erfasst werden, wobei besonderes Augenmerk auf die Rolle des § 267 III 1 StPO, der einzigen der Strafzumessungsbegründung im Urteil gewidmeten Vorschrift, gelegt wird. Darin heißt es:

„Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind.“

Zweifellos statuiert diese Vorschrift eine Begründungspflicht hinsichtlich der Strafzumessungsentscheidung. Eine solche Verpflichtung wird jedoch – wie noch zu zeigen ist – bereits dem materiellen Recht entnommen bzw. sogar aus der Verfassung abgeleitet. Damit stellt sich die Frage nach der Reichweite dieser Pflichten, also nach damit einhergehenden Begründungsanforderungen, und ihrem Verhältnis zueinander.

II. Gang der Darstellung

Im 1. Teil der Arbeit sollen Mindestanforderungen an die Strafzumessungsbegründung zusammengetragen werden. Neben einem Blick auf die vielfältigen Zwecke der richterlichen Begründungspflicht soll ihre rechtliche Herleitung Aufschluss ← 16 | 17 → über Begründungsanforderungen geben. Zuletzt wird in diesem Teil die Reichweite der Revisibilität der Strafzumessung im Hinblick auf daraus resultierende Mindestvorgaben, aber auch bezüglich etwaiger Einschränkungsmöglichkeiten der Begründungspflicht untersucht.

Der 2. Teil widmet sich der Analyse von Reichweite und Grenzen der Begründungspflicht, also konkret Umfang bzw. Ausmaß der materiell-rechtlichen Erörterungspflicht einerseits und einer möglichen diesbezüglichen Einschränkung nach § 267 III 1 StPO (bzw. der grundsätzlichen Handhabung dieser Norm durch die Rechtsprechung) andererseits. Durch Auslegung dieser Vorschrift und einer Analyse der revisionsgerichtlichen Praxis sollen derzeitige Begründungsanforderungen herausgearbeitet und auf insoweit respektierte Beschränkungen untersucht werden, dabei steht letztlich das Verhältnis der verschiedenen Begründungspflichten zueinander im Fokus.

Im 3. Teil werden in Anlehnung an das Untersuchungsergebnis aus Teil 2 zur Behandlung des § 267 III 1 StPO Reformüberlegungen zu dieser Vorschrift angestellt, vornehmlich im Hinblick auf das Bedürfnis einer die materiell-rechtliche Begründungspflicht einschränkenden Regelung. Abschließend werden zwei insoweit ergangene Reformentwürfe dargestellt, gefolgt von einem eigenen Vorschlag zur Umgestaltung dieser Norm. ← 17 | 18 →


1 Vgl. dazu Meyer-Goßner/Appl, Rn. 421.

2 Hervorzuheben sind aus der neueren Literatur vor allem Schäfer/Sander/van Gemmeren, Die Praxis der Strafzumessung; Streng, Strafrechtliche Sanktionen – Die Strafzumessung und ihre Grundlagen; Meier, Strafrechtliche Sanktionen.

3 So auch Reichert, S. 17.

4 Dazu ausf. 2. Teil, Abschnitt B.

← 18 | 19 →

1. Teil: Mindestanforderungen an die Strafzumessungsbegründung

A.  Zweck der Begründungspflicht

Um die Anforderungen an die Strafzumessungsbegründung im Urteil bestimmen zu können, sollen zunächst abstrakt, d. h. unter Ausblendung verfahrensökonomischer Aspekte, die Funktionen der Begründungspflicht im Hinblick auf daraus resultierende Vorgaben untersucht werden.

I. Ermöglichung der revisionsrechtlichen Nachprüfung

Früher betrachtete man den Richterspruch als unantastbar, als „Orakel des Gesetzes, an dem es nichts zu deuteln gibt“.5 Die Autorität des Richters galt es nicht in Zweifel zu ziehen, weshalb er seine Entscheidung auch nicht zu begründen hatte; erst nach und nach wuchs das Bedürfnis nach Kontrolle und Transparenz und damit einhergehend die Forderung nach einer überprüfbaren Entscheidungsbegründung.6 Heutzutage hat sich diese Forderung längst durchgesetzt.7 Nunmehr ist es einhellige Auffassung in Rechtsprechung8 und Literatur9, dass die Begründung des tatrichterlichen Urteils notwendig ist, um dem Revisionsgericht die sachlich-rechtliche Nachprüfung desselben zu ermöglichen.

Dieser Gedanke liegt auch der materiell-rechtlichen Begründungspflicht zugrunde.10 Darüber hinaus ist er sowohl der Vorschrift des § 34 StPO, der für alle durch ein Rechtsmittel angreifbaren Entscheidungen eine Begründungspflicht statuiert, als auch der des § 267 StPO unmittelbar selbst zu entnehmen; § 267 IV StPO entbindet den Richter nämlich im Falle eines allseitigen Rechtsmittelverzichts oder fehlender Rechtsmitteleinlegung innerhalb der dafür vorgesehenen Frist von den strengen Begründungsanforderungen der vorherigen Absätze, insbesondere von ← 19 | 20 → der Pflicht zur Begründung der Strafzumessung. Der Gesetzgeber strebte mit Einführung dieses Absatzes durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte vom 11. 03. 192111 (dem Namen entsprechend) in erster Linie die Reduzierung des Arbeitsaufwands der Gerichte an, die Revisibilität gerade der Strafzumessungsentscheidung stand damals weniger im Fokus,12 gleichwohl wird deutlich, dass bereits zu dieser Zeit die Funktion der Entscheidungsgründe zumindest auch darin gesehen wurde, die Nachprüfung in der Rechtsmittelinstanz zu ermöglichen.

Dabei sind allein die schriftlichen Urteilsgründe Grundlage der Prüfung, ob dem Tatrichter bei der Rechtsanwendung Fehler unterlaufen sind.13 Dies betrifft im Rahmen der Kontrolle der Strafzumessung sowohl die Zumessungstatsachen als auch die Zumessungserwägungen.14 Die mündlich mitgeteilten Urteilsgründe sind in der Revision nicht von Bedeutung.15 Auch den Akteninhalt darf das Revisionsgericht nicht berücksichtigen, insbesondere darf es die Urteilsfeststellungen nicht nach dem Akteninhalt ergänzen.16 Damit verbleibt einzig die Urteilsurkunde, um die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters einer revisionsrechtlichen Kontrolle unterziehen zu können; ohne schriftliche Begründung wäre diese Entscheidung bzw. das gesamte Urteil schlicht unangreifbar.

Dies bedeutet hinsichtlich der Anforderungen, die an die Strafzumessungsbegründung zu stellen sind, dass sie dem gewünschten Maß an Revisibilität Rechnung tragen müssen – die Reichweite der Revisibilität der Strafzumessungsentscheidung bestimmt Umfang und Inhalt ihrer Darstellung. Einschränkungen der Begründungspflicht sind im Lichte dieser Funktion demnach nur denkbar, soweit eine revisionsrechtliche Kontrolle ausgeschlossen ist bzw. sein soll, mit der Konsequenz, dass es im Falle der Unanfechtbarkeit einer Entscheidung gar keiner Begründung bedürfte.17

II. Kontrollfunktion

Daneben hat die Begründungspflicht auch die Funktion, den Richter bereits bei der Urteilsfindung, konkret bei der Bestimmung des Strafmaßes, zu einer gewissen Eigenkontrolle anzuhalten.18 Dieser Aspekt war bereits bei der Entwicklung ← 20 | 21 → eines Entwurfs der RStPO Ende des 19. Jahrhunderts (mit) ausschlaggebend für die Aufnahme der Verpflichtung19 des Tatrichters zur Angabe der für die Strafzumessung bestimmenden Umstände, man versprach sich eine gewissenhaftere Ermittlung und Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände.20 Auch heutzutage schreibt man der Begründungspflicht diese Funktion noch zu; der Tatrichter soll sich mit den Beweggründen für seine Strafzumessungsentscheidung auseinandersetzen.21 Dabei soll er die festgestellten Umstände sorgfältig gegeneinander abwägen und muss verdeutlichen, was ihn gerade zu dieser rechtlichen Würdigung veranlasst hat.22 Dies hält ihn bereits im Zeitpunkt der Beratung dazu an, sein Wertungsergebnis noch einmal logisch zu durchdenken und dahingehend zu überprüfen, ob es von nachgewiesenen Tatsachen belegt und von rationalen Erwägungen gelenkt wurde.23 Denn grundsätzlich können nur rational begründete Entscheidungen dieser Eigenkontrolle standhalten.24 Die Begründungspflicht zwingt den Richter also dazu, sich selbst gebührend Rechenschaft abzulegen und daher kritisch zu prüfen, ob seine Entscheidung von subjektiven Erwägungen wie etwa Vorurteilen, Antipathien oder anderen Gefühlsregungen beeinflusst wurde;25 mit den deutlichen Worten von Koch/Rüßmann26 gesagt: „Darstellungspflichten disziplinieren stärker als jeder moralische Appell.“ Ebenso prägnant formuliert Maul27: „…nur der stete Zwang zur – schriftlichen – Auseinandersetzung mit dem oft sperrigen Tatsachenmaterial eliminiert auf Dauer Unklarheit, Undeutlichkeit und Subjektivismus bei der Feststellung des Sachverhalts“. Stößt der Richter dabei tatsächlich auf derartige Rationalitätsdefizite, kann er diese Mängel beseitigen. Dies betrifft indes nicht nur irrationale Erwägungen, sondern auch sonstige im Bereich der Strafzumessung denkbare Rechtsfehler, die im Zuge der mit der Begründungspflicht einhergehenden Selbstkontrolle aufgedeckt werden (können).28

Um dieser Funktion gerecht zu werden, bedarf es einer erschöpfenden Darlegung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Umstände; nur dies ermöglicht eine umfassende Selbstkontrolle. Der Tatrichter kann dabei überprüfen, ob er ← 21 | 22 → sämtliche, in der Hauptverhandlung zu Tage getretenen Aspekte im Hinblick auf ihre mögliche Relevanz für die Rechtsfolgenentscheidung in Betracht gezogen hat, ob und gegebenenfalls weshalb sie Einfluss auf die Entscheidung haben bzw. warum dies nicht der Fall sein soll, und schließlich, ob die Abwägung dieser Faktoren das gefundene Ergebnis in rational nachvollziehbarer Weise rechtfertigt. Da diese Kontrolle im Vergleich zu der nachfolgenden eines Revisionsgerichts umfassend ist (sein soll), sind dieser Funktion auch keine Einschränkungen im Hinblick auf die Anforderungen an die Darlegung der Strafzumessungsgründe zu entnehmen.

III. Umgrenzungsfunktion

Die schriftlichen Urteilsgründe dienen ferner dazu, den Lebenssachverhalt zu schildern, der Gegenstand des Verfahrens und damit Grundlage der Entscheidung war.29 Nur durch die Beschreibung, welche Tat i.S. des § 264 StPO abgeurteilt ist, kann der Umfang der Rechtskraft30 und damit auch die Reichweite der strafklageverbrauchenden Wirkung des Urteils bestimmt31, also die Einhaltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ (Art. 103 III GG) gewährleistet werden. In Bezug auf die Strafzumessungsbegründung kommt dieser Funktion allerdings keine Bedeutung zu.

IV. Informationsfunktion

Die Informationsfunktion umfasst zwei relevante Aspekte: Einerseits geben die Urteilsgründe anderen Gerichten und der Rechtswissenschaft Aufschluss über vertretene Rechtsauffassungen und Argumentationslinien32, was hier allerdings als gesonderte Funktion der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und Rechtsfortbildung untersucht werden soll33, andererseits enthalten sie für später auf das rechtskräftige Urteil zurückgreifende Stellen notwendige Informationen, die dem Urteilstenor allein regelmäßig nicht zu entnehmen sind.34 Dies betrifft insbesondere die Vollstreckung der im Urteil festgesetzten Strafe mit allen dazugehörigen Maßnahmen.35 Grundlage der Vollstreckung ist zwar lediglich die Urteilsformel (vgl. § 451 I StPO), der Begründung des Urteils kommt allerdings insoweit ← 22 | 23 → maßgebliche Bedeutung zu, als Entscheidungen nach den §§ 453 ff. StPO zu treffen sind (z. B. über die Strafrestaussetzung gemäß §§ 453 StPO, 57 StGB).

Darüber hinaus liefert die Entscheidungsbegründung – vornehmlich die Darstellung der persönlichen Verhältnisse – wichtige Anhaltspunkte für die Ausgestaltung des Vollzugsplans,36 etwa im Hinblick auf notwendige Therapiemaßnahmen, die Eignung für Aus- und Weiterbildungsangebote oder die Frage eines möglichen Arbeitseinsatzes. Eine intensive Begutachtung des Betroffenen seitens der Vollzugsbehörde vor Erstellung des Vollzugsplans kann dadurch freilich nicht ersetzt werden.

Des Weiteren dient die Urteilsbegründung als Informationsquelle für das Gericht, das sich im Falle erneuter Straffälligkeit als Nächstes mit dem Verurteilten zu befassen hat,37 insbesondere wenn eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB vorzunehmen ist oder die Vorverurteilung als Strafschärfungsgrund in die Rechtsfolgenentscheidung einbezogen werden soll.

Schließlich enthalten die Gründe relevante Informationen für die Ausübung des Begnadigungsrechts.38

Konkrete Anforderungen an die Darstellung der Strafzumessungsbegründung lassen sich dieser Funktion kaum entnehmen. Allerdings kann die Entscheidungsbegründung wohl nur dann als taugliche Auskunftsquelle für später darauf zurückgreifende Stellen dienen, wenn entsprechende Informationen in ausreichendem Maße dort enthalten sind. Insofern gilt, dass eine Information regelmäßig umso aufschlussreicher ist, je detaillierter und umfangreicher sie dargelegt wird, insbesondere birgt das Verschweigen einzelner Aspekte die Gefahr der Verfälschung des Gesamteindrucks, so dass festzuhalten bleibt, dass etwaige Einschränkungen der Begründungspflicht dieser Funktion zuwider liefen. Dies betrifft insbesondere die Strafzumessungsentscheidung, da diese aufgrund der vorzunehmenden Ganzheitsbetrachtung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit39 vornehmlich die für Entscheidungen der Vollstreckungs- und Vollzugsbehörde relevanten Aspekte enthält. ← 23 | 24 →

V. Aufklärungsfunktion

Details

Seiten
274
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653065060
ISBN (ePUB)
9783653952315
ISBN (MOBI)
9783653952308
ISBN (Paperback)
9783631671450
DOI
10.3726/978-3-653-06506-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Strafzumessungsentscheidung Rechtsfolge Sanktionenrecht Begründungspflicht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 274 S.

Biographische Angaben

Christin Antje Reichenbach (Autor:in)

Christin Reichenbach studierte Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminalwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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