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Vereinbarungen über die Arbeitnehmermitwirkung nach dem Recht der Europäischen Union

Strukturprinzipien eines neuen Kollektivvertragstypus

von Willem Schulte (Autor:in)
©2016 Dissertation 278 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor untersucht vier Rechtsakte, die den Unionsgesetzgeber über Jahrzehnte beschäftigten: Die Europäische Aktiengesellschaft, die Europäische Genossenschaft, die grenzüberschreitende Verschmelzung von Kapitalgesellschaften und der Europäische Betriebsrat. Grund für die Dauer waren die national gewachsenen Mitwirkungskulturen, welche sich nicht in Ausgleich bringen ließen. Der Durchbruch gelang erst mit dem Verzicht auf einheitliche Regelungen und der Verständigung auf individuelle «Vereinbarungen mit Auffanglösung». So entstand ein neuer Kollektivvertragstypus, dessen Grundlagen als ungeklärt gelten. Der Autor untersucht diese Voraussetzungen innerhalb der jeweiligen Rechtsakte und legt den Fokus auf die Ermittlung allgemeiner Strukturprinzipien, welche für die vier Rechtsakte gleichermaßen gelten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Gliederung
  • A. Einleitung
  • B. Grundlagen
  • I. Die historische Entwicklung der Beteiligungsvereinbarung
  • 1. Historische Entwicklung auf europäischer Ebene
  • a) Anstoß für ein Tätigwerden des europäischen Gesetzgebers
  • b) Die Entwicklung der einzelnen Richtlinien
  • aa) EBR-RL
  • (1) Entwicklung vor „Entdeckung“ des Vereinbarungsmodells
  • (2) Entwicklung ab „Entdeckung“ des Vereinbarungsmodells
  • (a) Der Richtlinienvorschlag von 1990
  • (aa) Allgemeines
  • (bb) Novum der Vereinbarungslösung
  • (cc) Reaktionen
  • (dd) Scheitern des Richtlinienvorschlags
  • (b) Der Weg zur Richtlinie 94/45/EG und ihre Ausweitung
  • (c) Die Novellierung durch die Richtlinie 09/38/EG
  • bb) SE-RL
  • (1) Die Entwicklung vor Einsetzung der Davignon-Kommission
  • (a) Ausgangspunkt und Hintergrund der Mitwirkungsregelung
  • (b) Die Entwürfe von 1970 und 1975 sowie ihre Kritik
  • (c) Der dritte Entwurf von 1989 und sein Änderungsvorschlag von 1991
  • (2) Einsetzung und Ergebnisse der Davignon-Kommission
  • (a) Zusammenhang zur Richtlinie 94/45/EG und Aufgaben der Gruppe
  • (b) „Ein klares Votum für Verhandlungen“
  • (c) Die Ausgestaltung der Vereinbarungslösung
  • (3) Entwicklung nach Einsetzung der Davignon-Kommission
  • cc) Verschmelzungs-RL
  • c) Zusammenfassung: Motive des Gesetzgebers
  • 2. Historische Entwicklung in Deutschland
  • a) EBRG
  • b) SEBG
  • c) SCEBG
  • d) MgVG
  • II. Kompetenzgrundlage
  • 1. EBR-RL
  • 2. SE-RL und SCE-RL
  • 3. GV-RL
  • (a) Allgemein
  • (b) Kompetenz für Art. 16 GV-RL
  • 4. Ergebnis
  • III. Anwendbares Vertragsstatut
  • 1. Vorgaben des Gesetzgebers
  • 2. Kein europäisches Vertragsstatut
  • a) Draft Common Frame of Reference
  • b) Zum Vorschlag einer „autonom-europäischen Rechtsgeschäftslehre“
  • c) Ergebnis: (Teilweise) Anwendung der nationalen Vertragsstatuten
  • 3. Internationales Privatrecht
  • a) Anwendbarkeit
  • aa) Vertragliches Schuldverhältnis
  • bb) Keine Ausnahme nach Art. 1 II Rom I-VO
  • cc) Ergebnis
  • b) Anzuwendendes Recht für Fragen der Unterrichtung und Anhörung
  • c) Ergebnis
  • 4. Vertragsstatut bei Mitbestimmungsvereinbarungen
  • 5. Freie Rechtswahl
  • 6. Ergebnis und Einschränkung
  • IV. Die Interessenlage
  • 1. Interesse auf Arbeitgeberseite
  • a) Mitbestimmung
  • aa) Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch Zufriedenheit
  • bb) Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch Wissenseinbeziehung
  • cc) Nachteile
  • dd) Wettbewerbsfähigkeit als grundlegendes Prinzip der Mitbestimmung?
  • b) Unterrichtung und Anhörung
  • c) Sonstige Vorteile
  • 2. Interesse auf Arbeitnehmerseite
  • 3. Interesse an einer Vereinbarung
  • 4. Ergebnis
  • V. Regelungstechnik: Vereinbarungen mit gesetzlicher Auffanglösung
  • 1. Grundsätzlicher Ablauf
  • 2. „Verhandlungen im Schatten des Rechts“
  • 3. Auffanglösung oder Ausgangslösung?
  • 4. Die Auffanglösung als Wettbewerbsnachteil
  • 5. Ergebnis
  • VI. Das Vorher-Nachher-Prinzip
  • 1. SE und SCE
  • 2. Grenzüberschreitende Verschmelzungen
  • 3. EBR
  • VII. Hinweise zur Methodik
  • 1. Artikel 27 und 28 GRCh
  • 2. Rückschlüsse aus parallelen Rechtsakten?
  • 3. Rückschlüsse aus Artikel 155 AEUV?
  • C. Die Parteien der Vereinbarung
  • I. Das Besondere Verhandlungsgremium
  • 1. Rechtsnatur und Rechtsfähigkeit
  • 2. Zusammensetzung
  • a) Richtlinienvorgaben
  • b) Grundsätzliche Prinzipien bei der Zusammensetzung
  • aa) Prinzip der proportionalen Repräsentation
  • bb) Prinzip der mitgliedstaatlichen Mindestrepräsentation
  • cc) Prinzip der Mindestvertretung der beteiligten Gesellschaften (Verschmelzung)
  • dd) Ergebnis
  • c) Zeitpunkt
  • d) Berücksichtigung anschließender Änderungen
  • aa) Änderungen während der Amtszeit des BVG
  • (1) SEBG, SCEBG, MgVG
  • (a) Inhalt
  • (b) „Neue Zusammensetzung“ als Anpassung des BVG ohne Neukonstituierung
  • (c) Keine unionsrechtlichen Bedenken
  • (2) EBRG
  • (3) Ergebnis: Ausgleich kollidierender Prinzipien
  • bb) Änderungen vor der Amtszeit des BVG
  • (1) SEBG, SCEBG, MgVG
  • (2) EBRG
  • cc) Änderungen nach Ende der Amtszeit des BVG
  • 3. Amtszeit
  • a) Existenz des BVG nach Abschluss einer Vereinbarung
  • b) Existenz des BVG nach Beschluss über Abbruch oder Nichtaufnahme der Verhandlungen
  • c) Ergebnis
  • 4. Rechte und Pflichten
  • a) Aufgabe des BVG
  • b) Informationsrecht
  • aa) Richtlinienvorgaben
  • bb) Informationsrecht des BVG nach dem EBRG
  • (1) Inhalt
  • (2) Zeitpunkt
  • (3) Informationsrecht als Anspruch?
  • (a) EBR kraft Gesetzes bei Ausbleiben der Information
  • (b) Untätigkeit als Verweigerung
  • (c) § 21 I 1 EBRG als abschließende Regelung
  • (d) Rechtslage bei Eintritt in die Verhandlungen und nachträglichem Informationsbedürfnis
  • (e) Ergebnis
  • cc) Informationsrecht des BVG nach SEBG, SCEBG, MgVG
  • (1) Inhalt
  • (2) Zeitpunkt
  • (3) Informationsrecht als Anspruch
  • (a) §§ 13 II SEBG; 13 II SCEBG als Anspruch
  • (b) § 15 II 1 MgVG als Obliegenheit
  • dd) Ergebnis: Kein allgemeiner Teil über das Informationsrecht des BVG
  • c) Recht auf Hinzuziehung von Sachverständigen
  • aa) Richtlinienvorgaben
  • bb) Umsetzung im EBRG
  • cc) Umsetzung in SEBG, SCEBG und MgVG
  • dd) Kostenübernahme in den Umsetzungsgesetzen
  • ee) Ergebnis
  • d) Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit
  • 5. Entsendung innerstaatlicher Mitglieder
  • a) Richtlinienvorgaben
  • b) Entsendungsverfahren nach den deutschen Umsetzungsgesetzen
  • aa) Persönliche Voraussetzungen
  • (1) EBRG
  • (a) Arbeitnehmer und leitende Angestellte
  • (b) Externe Mitglieder, insbesondere Gewerkschaftsvertreter
  • (2) SEBG, SCEBG, MgVG
  • (3) Ergebnis
  • bb) Entsendungsverfahren
  • (1) EBRG
  • (a) Grund, Systematik und ausgewogene Vertretung
  • (b) Fehlende Arbeitnehmervertretung
  • (c) Zusammenfassung
  • (2) SEBG, SCEBG, MgVG
  • (a) Allgemeines
  • (b) Quotenhafte Entsendung von bestimmten Personen
  • (aa) Jedes dritte Mitglied ein Gewerkschaftsvertreter
  • (bb) Jedes siebte Mitglied ein leitender Angestellter
  • (cc) Regelung entsprechend der „Tradition der Mitbestimmungsgesetze“
  • (c) Fehlende Arbeitnehmervertretungen
  • 6. Folge: Fragwürdige Legitimation des BVG durch die Arbeitnehmer
  • II. Der Verhandlungspartner auf Unternehmensseite
  • 1. Die „zentrale Leitung“ als Verhandlungspartner im EBRG
  • 2. Die „Leitungen“ als Verhandlungspartner in SEBG, SCEBG und MgVG
  • 3. Einflussnahme der Anteilseigner
  • a) EBR-RL
  • b) SE-RL, SCE-RL, GV-RL und Umsetzungsgesetze
  • aa) Außenverhältnis: Keine Einflussnahme der Anteilseigner
  • bb) Innenverhältnis: (Ungeschriebener) Zustimmungsvorbehalt?
  • cc) Ergebnis
  • 4. Kein „Hauch eines Insichgeschäfts“ bei Beteiligung einer AG
  • 5. Ergebnis
  • D. Verhandlungsverfahren und Vereinbarung
  • I. Das Verhandlungsverfahren
  • 1. Gesetzliche Vorgaben bezüglich des Ablaufs
  • a) Grundsätzliche Zurückhaltung des Gesetzgebers
  • b) Pflicht zur vertrauensvollen Zusammenarbeit
  • aa) Vorgaben der Richtlinien
  • bb) Verhältnis zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Gremium und Leitung
  • cc) Verhältnis zu § 2 I BetrVG
  • dd) Bedeutung der „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ in den Umsetzungsgesetzen
  • (1) Zeitraum
  • (2) Streikverbot
  • (a) Vorgaben durch die Richtlinien
  • (aa) Kompetenz für ein Streikverbot
  • (bb) Auslegung der Richtlinien
  • (b) Inhalt der Umsetzungsgesetze
  • (c) Ergebnis
  • (3) Verhandlungsanspruch bzw. -pflicht
  • (a) Verhandlungsanspruch des BVG
  • (aa) Möglichkeit der einseitigen Beendigung durch die Leitungen
  • (bb) Konsequenzen für einen Verhandlungsanspruch
  • (cc) Argumente gegen einen Verhandlungsanspruch
  • (dd) Ergebnis
  • (b) Verhandlungspflicht des BVG
  • (4) Keine Einigungspflicht
  • (5) Sonstige Ausprägungen
  • 2. Beendigungsmöglichkeiten
  • a) Nichtaufnahme oder Abbruch von Verhandlungen
  • aa) Durch das BVG
  • bb) Durch die Leitung(en)
  • b) Gemeinsame Erklärung über das Scheitern der Verhandlungen
  • aa) Generelle Möglichkeit
  • bb) Anforderungen
  • cc) Konsequenzen
  • c) Ergebnis
  • 3. Rechtsmissbrauch
  • a) Arbeitgeberseite: Drücken bestehender Arbeitnehmermitwirkung
  • b) Arbeitnehmerseite: Problematik der Normerschleichung
  • II. Die Vereinbarung
  • 1. Zustandekommen einer Vereinbarung
  • 2. Vereinbarungsautonomie und ihre Grenzen
  • a) Zuordnung zu einem Autonomiebegriff des deutschen Rechts
  • aa) Privatautonomie und Tarifautonomie
  • bb) Betriebsautonomie
  • b) Eigenständiger Autonomiebegriff
  • c) Grenzen der Autonomie
  • aa) Sinn und Zweck der Autonomie
  • bb) Systematik
  • (1) Regelungsauftrag der Parteien
  • (2) Satzungsstrenge und Satzungsautonomie
  • (a) Satzungsautonomie
  • (b) Satzungsstrenge
  • (3) Essentialia negotii
  • (a) Richtlinienvorgaben
  • (b) Umsetzungsgesetze
  • (aa) § 18 I EBRG
  • (bb) §§ 21 I, III SEBG; 21 I, III SCEBG
  • (cc) § 22 I MgVG
  • (c) Ergebnis
  • (d) Grenzen im Gründungsfall Umwandlung
  • (4) Verfassungsrechtliche Grenzen
  • (a) Grundrechtsbindung der Parteien
  • (aa) Keine Hoheitsträger
  • (bb) Keine Grundrechtsbindung durch Delegation staatlicher Zuständigkeit
  • (cc) Keine Horizontalwirkung von Art. 27 GRCh
  • (dd) Ergebnis
  • (b) Primärrechtskonforme Auslegung des Autonomiebegriffs
  • (c) Neuverhandlungen bei Verfassungswidrigkeit der Auffanglösung
  • cc) Konsequenzen für ausgewählte Problemfälle
  • (1) Der Regelungsauftrag als „Schwelle nach unten“?
  • (a) EBR
  • (b) SE, SCE und grenzüberschreitende Verschmelzungen
  • (c) Ergebnis
  • (2) Mitbestimmungsrechte im EBR, SE-BR und SCE-BR?
  • (a) Begriff der Mitbestimmung
  • (b) Keine Mitbestimmung durch den EBR
  • (c) Mitbestimmungsrechte durch den SE-BR bzw. SCE-BR
  • (d) Ergebnis
  • (3) Sachfremde Regelungen und das „Abkaufen“ von Mitwirkungsrechten
  • (4) Bestimmung der Größe des Aufsichtsorgans?
  • dd) Ergebnis: Grenzen der Beteiligungsvereinbarung
  • 3. Rechtsnatur und Rechtswirkung
  • a) Allgemeines
  • b) Europäische Vorgaben bezüglich Rechtsnatur und Rechtswirkung
  • c) Rechtsnatur
  • aa) Keine Zuordnung zu einem bestehendem Kollektivvertragstyp
  • bb) Privatrechtlicher Kollektivvertrag sui generis
  • d) Rechtswirkung
  • aa) Allgemeines
  • bb) Befugnis zur Normsetzung
  • cc) Schutzwirkung gegenüber Individualabsprachen
  • dd) Vertrag zu Lasten Dritter und Legitimation durch normative Wirkung
  • (1) Betroffene Dritte
  • (2) Legitimierender Rechtsgrund?
  • (3) Keine automatische Legitimation durch gesetzgeberischen Befehl
  • (4) Ergebnis
  • ee) Organisationsvertrag
  • ff) Art. 12 IV SE-VO
  • gg) Sonstige Argumente und Ansatzpunkte
  • hh) Verfassungskonforme Auslegung wegen Legitimationsdefiziten?
  • ii) Exkurs: Rechtswirkung der Beteiligungsvereinbarung im Vereinigten Königreich
  • e) Ergebnis: Tragende Argumente und Übertragbarkeit
  • 4. Auslegung
  • a) Grundsatz
  • b) Auslegungsregelung der §§ 1 III SEBG; 1 III SCEBG; 1 III MgVG
  • c) Existenz einer Auffanglösung
  • d) Ergebnis
  • 5. Folgen von Mängeln
  • a) Beachtlichkeit eines Mangels
  • b) Denkbare Folgen
  • aa) Keine Behebung des Mangels durch die Parteien
  • bb) Unwirksamkeit der Vereinbarung und Eingreifen der Auffanglösung
  • cc) Gesellschaftsrechtliche Folgen
  • dd) Schwierigkeiten bei einer Unwirksamkeit ex tunc?
  • ee) Ergebnis
  • c) Folgen einzelner Mängel
  • aa) Nichtbeachtung der essentialia negotii
  • bb) Verstöße gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit
  • cc) Inhalts- und Erklärungsirrtum
  • dd) Überschreitung des Regelungsauftrags
  • ee) Fehlerhafte Zusammensetzung des BVG
  • 6. Änderungen, Anpassungen und Neuverhandlungen
  • a) Änderungen
  • b) Anpassung bzw. Neuverhandlung bei „strukturellen Änderungen“
  • aa) EBR
  • bb) SE
  • (1) SE-RL
  • (2) SEBG
  • (a) Voraussetzung des § 18 III SEBG
  • (b) Folgen des § 18 III SEBG
  • (c) Zusammenhang mit § 43 S. 2 SEBG
  • cc) SCE
  • dd) Grenzüberschreitende Verschmelzungen
  • ee) Ergebnis
  • c) Neuverhandlungen bei Abbruch oder Nichtaufnahme der Verhandlung
  • d) Kein allgemeiner Neuverhandlungsanspruch, aber freiwillige Neuverhandlungen
  • 7. Beendigung und Nachwirkung
  • a) Möglichkeiten und Voraussetzungen der Beendigung
  • aa) Kündigung
  • (1) Vereinbartes Kündigungsrecht
  • (2) Kein gesetzliches Kündigungsrecht
  • bb) Ende der Laufzeit
  • cc) Einvernehmliche Beendigung durch Abschluss einer neuen Vereinbarung
  • dd) Partielle Anwendung von Beendigungstatbeständen der Auffanglösung
  • b) Folgen von Kündigung und Laufzeitende
  • aa) Kein Ausbleiben von Mitwirkung, kein Eingreifen der Auffanglösung
  • bb) Langfristige Folge: Neue Verhandlungen
  • cc) Kurzfristige Folge: Nachwirkung?
  • dd) Sonderfall EBR
  • c) Ergebnis
  • E. Exkurs: Auswirkungen auf Transnationale Unternehmensvereinbarungen
  • I. Einführung
  • 1. Begriff der Unternehmensvereinbarung und Gegenstand der Untersuchung
  • 2. Zusammenhang mit der Entwicklung des fakultativen Rechtsrahmens für Europäische transnationale Unternehmensvereinbarungen
  • 3. Unternehmensvereinbarungen in der Praxis
  • a) Restrukturierung: General Motors Europe
  • b) Datenschutz: Porr AG
  • c) Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz: Rheinmetall AG
  • II. Der Verhandlungspartner auf Arbeitnehmerseite
  • 1. EBR, SE-BR und SCE-BR als Vertretungsgremien
  • 2. Kompetenz zum Abschluss einer Unternehmensvereinbarung
  • a) Die Frage nach der Kompetenz ist eine Frage nach der Rechtsfähigkeit
  • b) Die Rechtsfähigkeit der Vertretungsgremien an anderer Stelle
  • aa) Neuvereinbarung oder Modifikation der Beteiligungsvereinbarung
  • bb) Vereinbarungen zu internen organisatorischen Fragen
  • cc) Ergebnis
  • c) Unternehmensvereinbarungen
  • aa) Richtlinien und Umsetzungsgesetze
  • bb) Beteiligungsvereinbarung
  • (1) SE-BR bzw. SCE-BR: Befugnis bei betrieblichen Mitbestimmungsrechten
  • (2) „Befugnisse“ des Vertretungsgremiums als Regelungsauftrag
  • cc) Artt. 154, 155 AEUV
  • dd) Art. 28 GRCh
  • d) Ergebnis
  • 3. Vereinbarungsmöglichkeiten bei fehlender Kompetenz
  • III. Die Unternehmensvereinbarung
  • 1. Anwendbare Vertragsordnung
  • 2. Rechtsnatur
  • 3. Rechtswirkung
  • a) Bedürfnis nach einer normativen Wirkung?
  • b) Keine normative Wirkung kraft Gesetz
  • c) Anordnung der normativen Wirkung durch die Beteiligungsvereinbarung?
  • aa) Auslegung des Autonomiebegriffs anhand von Wortlaut, Telos und Systematik
  • bb) Verfassungskonforme Auslegung
  • cc) Kein Legitimationsdefizit bei Entscheidungen in der Sphäre des Arbeitgebers?
  • d) Ergebnis
  • 4. Grenzen der Unternehmensvereinbarung
  • a) Grenzen der Beteiligungsvereinbarung?
  • aa) Modifikationen der Beteiligungsvereinbarung
  • bb) Unternehmensvereinbarungen
  • b) Autonomie Dritter
  • c) Sonstige Grenzen
  • IV. Ergebnis
  • F. Vorschläge de lege ferenda
  • I. Regelungstechnik
  • 1. Status quo
  • 2. Änderungsvorschläge
  • a) Rückzug des Gesetzgebers: „Mehr Autonomie wagen“?
  • b) Eine tragende Rolle des Gesetzgebers
  • II. Alternative Ansatzpunkt zur Ausübung von Zwang
  • 1. Branchenspezifische Musterlösungen als gesetzliche Auffangregelung
  • 2. Schlichtungsverfahren?
  • 3. „Comply or explain“?
  • III. Legitimation des BVG durch die Arbeitnehmer
  • IV. Entwicklung eines eigenen Vertragsstatuts
  • 1. Schwierigkeiten des status quo
  • 2. Eckpfeiler eines Vertragsstatuts für die Beteiligungsvereinbarung
  • G. Ergebnis und Zusammenfassung in Thesen
  • Literaturverzeichnis

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A.   Einleitung

„Heureka! Es ist so weit, wahrlich: Es ist gelungen!“1 – mit diesen Worten beschreibt Lutter das „Wunder von Nizza“2, welches dem „Dreißigjährigen Krieg um die Mitbestimmung“3 ein Ende gesetzt und die Europäische Aktiengesellschaft (SE) ermöglicht hat. Tatsächlich war es die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat höchst unterschiedliche Ausgestaltung der Mitbestimmung, die das Gesetzgebungsverfahren zur Sackgasse machte. Wendepunkt war die Verständigung auf „Vereinbarungen mit Auffanglösung“, ein Modell, das zuvor bereits in vergleichbarer Weise den Streit um Europäische Betriebsräte (EBR) beendet und anschließend der Europäischen Genossenschaft (SCE) und grenzüberschreitenden Verschmelzungen von Kapitalgesellschaften den Weg bereitet hat. Unzählige Kommentierungen, Dissertationen, Aufsätze und Festschriftenbeiträge beschäftigen sich seither mit dieser Thematik – gleichwohl gelten deren Grundlagen noch immer als ungeklärt.

Die anfängliche Euphorie ist zumindest aus arbeitsrechtlicher Sicht nicht ganz nachzuvollziehen, schließlich wurde der „Dreißigjährige Krieg“ in keinem der Fälle beendet, sondern besteht als frozen conflict fort. Die Einigung besteht in der Nichteinigung, die Lösung des Konflikts wurde schlicht auf eine andere Ebene verschoben: Es soll nunmehr auf Unternehmensebene verhandelt werden, wie unternehmerische Freiheit auf der einen Seite und Selbstbestimmung der Arbeitnehmer sowie Demokratisierung und Machtkontrolle im Unternehmen auf der anderen Seite auszugleichen sind. Autonomie in diesem Bereich ruft angesichts des Macht- und Interessengefälles zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite augenblicklich Bedenken hervor. Der Gesetzgeber kommt diesen entgegen, indem er auf das Verhandlungsverfahren und die Vereinbarung an verschiedenen Stellen Zwang ausübt. Für die Mitbestimmung haben die Mitgliedstaaten von dem vorgenannten Verhältnis der Prinzipien ganz eigene Vorstellungen, welche man auch als „nationale Mitbestimmungskultur“ bezeichnen mag, und stellen diese unter Denkmalschutz. Die Beteiligungsvereinbarung bewegt sich also zwischen Autonomie und Zwang wie kein anderer Vertragstyp; das Verhältnis macht sie so besonders, vor allem aber so schwer greifbar und es ist der Urkonflikt vieler Problemstellungen. Wer schon nicht weiß, inwiefern die Autonomie ein tragendes Prinzip der Vereinbarung ist, kann weder die Anwendbarkeit von Normen bestimmen, welche die Autonomie mit anderen Prinzipien ausgleichen, noch kann er Rechtswirkung oder Auslegungsgrundsätze ermitteln. Wer die Rolle des Gesetzgebers bei Zustandekommen der Vereinbarung nicht kennt, kann keine Aussage über die Geltung von Grundrechten oder die Folgen von Mängeln treffen. Die Verschiebung der Regelung ← 23 | 24 → auf Unternehmensebene eröffnet daneben einen weiteren Problemkreis. Da der Gesetzgeber nicht mehr unmittelbar selbst tätig wird, ist die demokratische Legitimationskette gerissen. Arbeitnehmermitwirkung betrifft jedoch auch Personen, welche nicht an der Vereinbarung beteiligt sind, sodass der Frage nach einer Legitimation durch diese Dritten eine besondere Bedeutung zukommt. Diese Frage ist zumindest auf Arbeitnehmerseite umso interessanter, als dass der Gesetzgeber bei der Zusammensetzung der Vertretungsgremien auch andere Faktoren als deren Legitimation im Blick hatte. Diese Fragestellung strahlt auf unterschiedlichste Probleme aus, beispielsweise auf die Rechtswirkung der Vereinbarung, ihre Grenzen oder die Möglichkeit transnationaler Unternehmensvereinbarungen.

Diese beispielhaft aufgerissenen Konfliktfelder mit ihren weitreichenden Konsequenzen zeigen die grundlegenden Unterschiede gegenüber bestehenden (Kollektiv-)Vertragstypen. Ziel dieser Arbeit ist zunächst, die grundlegenden Strukturprinzipien dieses neuen Vertragstypen zu erkennen und auf Grundlage dessen seine rechtliche Behandlung einzuordnen. Viele rechtswissenschaftliche Fragestellungen können ohne Gewissheit über die grundlegenden Zusammenhänge nicht zufriedenstellend gelöst werden. Dazu erfolgt die Untersuchung in mehreren Schritten: Zunächst werden die historische Entwicklung, Kompetenzgrundlage und das anzuwendende Vertragsstatut betrachtet sowie Aussagen zu der Regelungstechnik und der allgemeinen Interessenlage getroffen (B.). Sodann erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Parteien der Vereinbarung (C.) und dem Verhandlungsverfahren (D. I.), bevor die Beteiligungsvereinbarung selbst in das Zentrum der Betrachtung rückt (D. II.). Dort wird zunächst das Zustandekommen der Vereinbarung beleuchtet. Anschließend wird der Autonomie der Parteien und ihren Grenzen, der Rechtsnatur und Rechtswirkung der Vereinbarung sowie ihrer Auslegung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sodann werden die Folgen von Mängeln betrachtet, gefolgt von einer Erörterung der Möglichkeiten von Änderung, Anpassung und Neuverhandlung. Abschließend wird die Beendigung und Nachwirkung der Vereinbarung diskutiert.

Vor allem aber sucht die Arbeit nach allgemeinen Strukturprinzipien, welche für die vier Rechtsakte gleichermaßen gelten. Dieses Ziel rechtfertigt sich durch die Parallelen der Rechtsakte, welche nicht zufällig entstanden sind, sondern sich historisch durch Nachbildungen und Anpassungen erklären lassen. Der Nutzen einer Bestimmung solcher Prinzipien liegt zunächst in der Effizienz der rechtswissenschaftlichen Diskussion, denn derzeit betrachtet die Literatur die Rechtsakte überwiegend isoliert voneinander.4 Dadurch wird in einigen Bereichen nicht nur ← 24 | 25 → unnötiger Mehraufwand betrieben, sondern man gelangt teilweise in der schwer zu greifenden Materie ohne erkennbaren Grund zu unterschiedlichen Ergebnissen, während gleichzeitig verallgemeinerungswürdige Ideen und Vorschläge verkümmern. Daneben würden allgemeine Prinzipien wahrscheinlich auch für zukünftige Rechtsakte Bedeutung entfalten: Es ist nicht davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber einheitliche Mitwirkungsstandards schaffen, sondern die nationalen Mitwirkungskulturen nach wie vor unberührt lassen und deshalb dem Modell der Verhandlungen mit Auffanglösung Vorrang gewähren wird. Schließlich ist der zur Ermittlung von allgemeinen Prinzipien notwendige weite und vergleichende Blick selbst dann lohnenswert, wenn er lediglich Unterschiede aufdeckt, da sich der Inhalt einiger Vorschriften erst aus einem Vergleich ergibt.

In einem Exkurs werden die Auswirkungen der Erkenntnisse auf die unvorhergesehene Entwicklung transnationaler Unternehmensvereinbarungen dargelegt. In der Praxis überschreitet vor allem der EBR seine ursprünglich vom Gesetzgeber vorgesehene Rolle, indem er als Verhandlungspartner tätig wird und selbst Vereinbarungen, beispielsweise zu Restrukturierungen, abschließt. Da die abschließenden Arbeitnehmervertretungsgremien ihre Legitimation sowie ihre Befugnisse direkt aus der Beteiligungsvereinbarung ableiten, erwächst dieser eine tragende Rolle. Die gewonnenen Strukturprinzipien wirken sich unmittelbar auf Möglichkeit, Geltungskraft und Grenzen der transnationalen Unternehmensvereinbarung aus.

Abschließend werden Vorschläge de lege ferenda entwickelt. Dabei wird insbesondere berücksichtigt, inwiefern der auf europäischer Ebene gefundene Kompromiss die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten tatsächlich auszugleichen vermag, ob sich Interessen mittlerweile geändert haben, welche Probleme der Kompromiss aufwirft und wie sich diese durch andere Wege vermeiden lassen.

Gegenstand der Arbeit ist die Untersuchung der Rechtslage in Deutschland, gleichwohl wird stets von den Richtlinienbestimmungen ausgegangen. ← 25 | 26 →


1 Lutter, BB 2002, 1.

2 Hirte, NZG 2002, 1f.

3 Schwarz, ZIP 2001, 1847.

4 Siehe die Dissertationen für das Recht der SE: Forst, Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG; Hoops, Die Mitbestimmungsvereinbarung in der Europäischen Aktiengesellschaft; Koch, Die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern an Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsausschüssen einer Europäischen Aktiengesellschaft; Linden, Die Mitbestimmungsvereinbarung der dualistisch verfassten Societas Europaea (SE); Scheibe, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems. Für den EBR: Eckhoff, Der Europäische Betriebsrat; Schlinkhoff, Der Europäische Betriebsrat kraft Vereinbarung.

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B.   Grundlagen

I.   Die historische Entwicklung der Beteiligungsvereinbarung

Die Möglichkeit der Vereinbarung über Mitwirkungsrechte hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Dieser Prozess muss nachvollzogen werden, um das Vereinbarungsmodell verstehen zu können. Zuerst soll daher ein Blick auf die Entwicklung der Vereinbarungslösung geworfen werden, wobei der europäischen Geschichte besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

1.   Historische Entwicklung auf europäischer Ebene

Der europäische Gesetzgeber hat sich bislang an vier Stellen für die Möglichkeit einer Vereinbarung über die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer entschieden. Konkret ist dies in den Richtlinien 2009/38/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen (EBR-RL), 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (SE-RL), 2003/72/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (SCE-RL) sowie 2005/56/EG über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (GV-RL) geschehen.

Zunächst wird geklärt, weshalb der europäische Gesetzgeber überhaupt im Bereich der grenzüberschreitenden Arbeitnehmermitwirkung tätig geworden ist, um dann einen näheren Blick auf die Entwicklung der Vereinbarungsmodelle in den Richtlinien zu werfen. Auf diese Weise sollen die Motive des Gesetzgebers für eine Vereinbarungslösung bestimmt werden.

a)   Anstoß für ein Tätigwerden des europäischen Gesetzgebers

Die jeweiligen Richtlinien enthalten unterschiedliche Ansatzpunkte, aufgrund derer sich der europäische Gesetzgeber zu einer grenzüberschreitenden Regelung der Mitwirkungsfrage entschlossen hat. Die Mitwirkung durch den EBR soll ein Problem lösen, welches das Zusammenwachsen Europas durch die Vollendung des Binnenmarktes nach sich zieht.5 Die dadurch zunehmende Internationalisierung von Unternehmen und ihre grenzüberschreitenden Tätigkeiten sorgen dafür, dass Entscheidungen, die von Unternehmen mit Sitz im Ausland getroffen werden und die sich im Inland auswirken, grundsätzlich nicht den inländischen Mitwirkungsregeln ← 27 | 28 → unterliegen.6 Das drohende Leerlaufen der innerstaatlichen Regelungen und die damit verbundene Möglichkeit der Unternehmen, die Arbeitnehmer der ausländischen Tochtergesellschaften vor vollendete Tatsachen zu stellen, war Anstoß für Überlegungen zu einer grenzüberschreitenden Information und Anhörung durch einen EBR.7

Im Rahmen der SE-RL bzw. SCE-RL stellt sich die Lage anders dar. Anstoß war hier das aus den Gesichtspunkten der Effizienz, Transparenz und eingesparten Transaktionskosten erwachsende wirtschaftliche Bedürfnis nach einer grenzüberschreitenden Gesellschaftsform8, die aber nicht ohne Regelung der Arbeitnehmermitwirkung geschaffen werden konnte.9 Die Mitwirkung wurde hier nicht geregelt, um wie beim EBR neue Probleme durch neue Standards zu lösen, sondern um eine Umgehung bereits geschaffener Standards zu verhindern. Ähnliches gilt für die GV-RL. Zwar unterliegt hier die entstehende Gesellschaft dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sich ihr Sitz befindet. Es bestand jedoch die Sorge, dass der Sitz einer verschmolzenen Gesellschaft in einem Mitgliedstaat liegt, der keine oder geringere Beteiligungsrechte kennt.10 Somit ist der europäische Gesetzgeber auch hier tätig geworden, um eine Umgehung bereits geschaffener Standards zu verhindern.

b)   Die Entwicklung der einzelnen Richtlinien

Die Darstellung der Entwicklung beschränkt sich angesichts des beträchtlichen Umfangs auf Grundzüge. Ausführlich werden nur die Entwicklungen betrachtet, die für die Entwicklung des Vereinbarungsmodells von Bedeutung sind.

aa)   EBR-RL

(1)   Entwicklung vor „Entdeckung“ des Vereinbarungsmodells

Der EBR hat schon früh Erwähnung in der Diskussion über die Arbeitnehmermitwirkung auf Gemeinschaftsebene gefunden. In einem „Vorschlag einer Verordnung des Rates über das Statut Europäische Aktiengesellschaft“ von 197011 wurde er erstmalig in den Art. 100ff. genannt und war stark am deutschen Recht angelehnt.12 Die Europäische Aktiengesellschaft hat aber in Form diesen Statuts keine Zustimmung gefunden, sodass sich zunächst auch kein EBR schaffen lies.13 ← 28 | 29 →

Ein erster „herausgelöster“ Versuch zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ohne gesellschaftsrechtlichen Zusammenhang fand 1980 durch die sogenannte Vredeling-Richtlinie statt.14 Auch wenn diese Richtlinie sowie ihr geänderter Vorschlag von 198315 keine Errichtung eines EBR, sondern ein dezentrales Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren vorsahen, werden sie als Vorgänger der später verabschiedeten Richtlinie 94/45/EG bezeichnet.16 Die Richtlinie scheiterte letztlich am Widerstand der Wirtschaftsverbände und der britischen Regierung.17 Es wurde kritisiert, dass die sozialen Rahmenbedingungen, die politischen Hintergründe und die einzelnen Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer von Staat zu Staat sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und eine Regelung deshalb nicht einheitlich erfolgen könne.18 Daneben wurde die Rechtsgrundlage des Art. 100 EWGV für nicht ausreichend erachtet19 und man befürchtete, dass ausländische Investoren abgeschreckt werden könnten20.

Aufgrund dieser misslichen Lage hat der Rat am 21.7.1986 beschlossen, die Beratungen vorläufig zu unterbrechen.21 Die Kommission wurde gleichwohl aufgefordert, ihre Arbeit in diesem Bereich im Rahmen des Sozialen Dialogs fortzusetzen.22

(2)   Entwicklung ab „Entdeckung“ des Vereinbarungsmodells

(a)   Der Richtlinienvorschlag von 1990

(aa)   Allgemeines

Dieser Aufforderung ist die Kommission nachgekommen und legte 1990, beflügelt von Nr. 17 der kurz zuvor beschlossenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte23, einen Richtlinienvorschlag „über die Einsetzung Europäischer Betriebsräte zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit ← 29 | 30 → operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen“ vor.24 Damit wurde erstmals die Etablierung eines EBR ohne gesellschaftsrechtlichen Zusammenhang versucht, was ein wesentlicher Unterschied25 zu dem dezentralen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren der Vredeling-Richtlinie war. Rechtsgrundlage sollte auch hier Art. 100 EWGV sein.

(bb)   Novum der Vereinbarungslösung

Eine der wichtigsten Neuerungen war die in Art. 5 I EBR-RL-Entwurf 1990 vorgesehene Möglichkeit, die gesamte Ausgestaltung des EBR durch Vereinbarung herbeizuführen. Wenn eine Vereinbarung ausblieb, sollte nach Art. 7 I EBR-RL-Entwurf 1990 eine gesetzliche Auffanglösung greifen. Diese sah die Anwendung der Mindestvorschriften des Mitgliedstaats vor, in dem die zentrale Leitung des Unternehmens bzw. das herrschende Unternehmen einer Unternehmensgruppe ansässig ist.

Die Auffanglösung mit ihrem Verweis auf die nationalen Vorschriften zeigt, dass die Kommission das Problem der unterschiedlichen nationalen Strukturen erkannt hatte und eine einheitliche Lösung nicht mehr in Betracht kommen ließ. Die Kommission hat aber nicht nur auf eine einheitliche, sondern auch auf eine zwingende Regelung verzichtet. Gänzlich neu war die Möglichkeit, dass die Unternehmensleitung mit dem aus Arbeitnehmervertretern bestehenden Besonderen Verhandlungsgremium (BVG) die Arbeitnehmermitwirkung autonom durch Vereinbarung regeln können sollte. Der Richtlinienentwurf gab keinen konkreten Inhalt vor, sondern enthielt in Art. 6 EBR-RL-Entwurf 1990 lediglich einige Gegenstände, zu denen die Vereinbarung Aussagen zu treffen hatte.

Erwägungsgrund Nr. 1026 besagte, dass auf diese Weise „den jeweiligen Umständen entsprochen“ werden soll. Der Richtlinienentwurf wollte also nicht nur die nationalen Strukturen berücksichtigen, sondern auch die der einzelnen Unternehmen. Es sollte jeweils eine maßgeschneiderte Lösung gefunden werden, um so die praktische Umsetzbarkeit zu erhöhen und dem Flexibilitätsbedürfnis der Arbeitgeber gerecht zu werden.27 Die Vereinbarung über die Arbeitnehmermitwirkung mit gesetzlicher Auffanglösung hat also in diesem Richtlinienvorschlag von 1990 seine erste Ausprägung gefunden. ← 30 | 31 →

(cc)   Reaktionen

Die Vereinbarungslösung ist grundsätzlich auf positive Resonanz gestoßen.28 Der nach Art. 198 EWG anzuhörende Wirtschafts- und Sozialausschuss befürwortete sie ausdrücklich29 und das Europäische Parlament stimmte dem Vorschlag insgesamt zu, betonte aber Kompetenzstreitigkeit.30 Keine Zustimmung fand die Vereinbarungslösung auf Arbeitgeberseite – man sprach hier wegen der Einschränkung durch die gesetzliche Auffanglösung von „Scheinverhandlungen mit Zwangscharakter“.31 Auch in den übrigen Punkten lehnten die Arbeitgeberverbände den Richtlinienvorschlag ab.32 Die Kritik verschob sich nach Wegfall des Problems der unterschiedlichen nationalen Strukturen schwerpunktmäßig auf andere Gründe: Fehlende Kompetenzen, hoher bürokratischer Aufwand, zu hohe Kosten sowie die drohenden Verzögerungen von Entscheidungen sollten den Richtlinienvorschlag nicht hinnehmbar machen.33

(dd)   Scheitern des Richtlinienvorschlags

Dass es letztendlich nicht zu einer Verabschiedung der Richtlinie kam, lag aber vor allem an dem anhaltenden Widerstand der britischen Regierung.34 Die Regierung erklärte sogar eine kategorische Ablehnung für alle zukünftigen verbindlichen europäischen Regelungen im Bereich der Arbeitnehmermitwirkung.35 Obwohl 11 der damals 12 Mitgliedstaaten dem Richtlinienvorschlag grundsätzlich positiv gegenüberstanden, machte diese Blockadesituation aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses nach Art. 100a II EGV eine Verabschiedung des Richtlinienvorschlags von 1990 sowie des Änderungsvorschlags von 199136 unmöglich.37 ← 31 | 32 →

(b)   Der Weg zur Richtlinie 94/45/EG und ihre Ausweitung

Details

Seiten
278
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653064704
ISBN (ePUB)
9783653952438
ISBN (MOBI)
9783653952421
ISBN (Hardcover)
9783631671337
DOI
10.3726/978-3-653-06470-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Europäische Aktiengesellschaft SE Europäische Genossenschaft SCE Mitbestimmung Auffanglösung Europäischer Betriebsrat EBR
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 278 S.

Biographische Angaben

Willem Schulte (Autor:in)

Willem Schulte studierte Rechtswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und wurde dort promoviert.

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Titel: Vereinbarungen über die Arbeitnehmermitwirkung nach dem Recht der Europäischen Union
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