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Wendepunkte in der Kultur und Geschichte Mitteleuropas

von E.W.B. Hess-Lüttich (Band-Herausgeber:in) Anita Czeglédy (Band-Herausgeber:in) Edit Kovács (Band-Herausgeber:in) Petra Szatmári (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 382 Seiten

Zusammenfassung

Die hier versammelten Beiträge nehmen die Vielfalt kultureller Phänomene und Produkte zu historischen Wendezeiten in den Blick. Neben Darstellungen von historischen Ereignissen beleuchten sie auch Wendepunkte in der Sprachverwendung, in narrativen Selbstkonstruktionen und in ästhetischen Konzepten. Die möglichen Formen von Beschreibung und Konstruktion, Antizipation und Erinnerung, Ideologisierung und Kritik, Eskapismus und Engagement sind im sprachlich und kulturell so unterschiedlich zusammengesetzten, mitteleuropäischen Raum auch von Problemen der Identität und Interkulturalität geprägt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Historische Wendezeiten
  • "In dieser großen Zeit". Der Beginn des Ersten Weltkrieges in den Texten von Karl Kraus
  • Bilder der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit in Günter de Bruyns Autobiographie Zwischenbilanz
  • Die Darstellung der Vertreibung in der ungarndeutschen Literatur
  • Der 23. August 1944 als historischer Wendepunkt. Eginald Schlattners Roman Der geköpfte Hahn und Paul Schusters Romanfragment Cora
  • Für Gott, Kaiser und Vaterland: (Literatur-)Unterricht im Ersten Weltkrieg
  • Wie aus Angst Interesse wird: das volatile Bild der Osmanen in der zentraleuropäischen und deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts
  • II. Narrative Konstruktionen
  • Transformationen eines zentraleuropäischen Kulturraumes infolge der historischen Wenden im 20. Jahrhundert: Ihre narrative Konstitution in der gegenwärtigen Literatur Galiziens
  • Diae diskursive Konstruktion des Mutterbildes in bürgerlichen und konfessionellen Frauenzeitschriften der Alten Frauenbewegung
  • Plural, polyphon, postkolonial? Theoretische Beschreibungs- und Interpretationsmodelle der Schweizer Literatur nach der Jahrtausendwende
  • Die Wende im ostmitteleuropäischen Raum als kulturelles Trauma? Kritische Bemerkungen zu Piotr Sztompkas Thesen
  • Selbstübersetzungen aus dem Deutschen ins Slowenische im 19. Jahrhundert. Denkt der slowenische Satiriker Jakob Alešovec (1842–1901) im Deutschen anders als im Slowenischen?
  • Der fremde Blick auf den ungarischen Raum in Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
  • III. Ästhetische Konzepte
  • Musils Kulturverständnis am Schnittpunkt von Essay und Novelle. Die Erzählung Grigia als kulturkritisches Werk 171
  • Compassion und Kontemplation in Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus als Rückwende
  • Zur Figur der Inversion in Thomas Bernhards Prosa
  • Literarische Interkulturalität als Erweiterung gesellschaftlicher Wissensvorräte. Perspektiven für die internationale Germanistik
  • Elfriede Jelineks theaterästhetisches Konzept. Ein Wendepunkt?
  • Alfons Mucha – Das slawische Epos
  • IV. Identitäten im Wandel
  • Wo liegt der Wendepunkt in Franz Kafkas Die Verwandlung?
  • Suche nach einem Heim im Unheimlichen. Ordnungsversuche in einer chaotischen Welt bei Saša Stanišić und Melinda Nadj Abonji
  • "Von uns gab es keine Spuren." Erinnerungsstrategien in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer
  • "Identitäten aus dem Menü." Identität-Switching in Doron Rabinovicis Romanen Suche nach M. und Andernorts
  • Die heilende Kraft des Wortes: Elias Canetti und Hanns-Josef Ortheil
  • V. Identitäts- und Wandelprozesse – linguistisch gesehen
  • Sprachrevolte von kurzer Dauer (?). Eine Studie am Beispiel des Präfixes para-
  • Kultur- und Sprachkontakt im Wortschatz der bairischen Dialekte in Österreich und den Sprachinseln Oberitaliens und Südosteuropas. Beispiele aus dem Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich
  • Ereignisse in der Habsburgermonarchie und Wendepunkte der rumänischen Sprache im 18. und 19. Jahrhundert
  • Zu Veränderungen der Denkweise und der Umweltsituation in Ostmitteleuropa nach der Wende – anhand von komparativen Studien der linguistischen Ökologie. Besonderheiten der Gestaltung von deutschen und russischen Öko-Witzen
  • Paradigma-Wenden im Passivsystem
  • Wendepunkte in der Phonetik?
  • Intertextualität im deutschen Mediendiskurs "Jahrestag der EU"
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

I.
Historische Wendezeiten

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Hanno Biber (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien)

"In dieser großen Zeit". Der Beginn des Ersten Weltkrieges in den Texten von Karl Kraus

"But some day people might find out what a trifling matter such a world war was as compared to the intellectual self-mutilation of mankind by means of its press and how at bottom it constituted only one of the press's emanations." This sentence by Karl Kraus is from his famous speech of 19 November 1914 In dieser großen Zeit (In These Great Times) and was published in his magazine Die Fackel (The Torch) in December 1914. When the First World War began the satirist remained silent until he spoke in public and demanded from others to remain silent in the face of the war. Karl Kraus analyzes and criticizes the role of the media, before, during and after the times, which dared to call themselves "great", when the journalistic phraseology and in particular a lack of imagination were decisive. Historical turning points were discovered and explained by the satirist at a very early stage in many of his texts, when the actors in the public and political arenas had to position themselves in a new mode. The apocalypse of the First World War, this fatal turn at the beginning of the 20th century and its cause had been uncovered by Karl Kraus by bringing light to its symptoms to be found in the language of the time when mankind fell victim to its course.

"Man könnte aber einmal dahinter kommen, welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat." Dieser Satz von Karl Kraus stammt aus seiner berühmten Anrede vom 19. November 1914 In dieser großen Zeit und steht im Heft vom Dezember 1914 seiner Zeitschrift Die Fackel. Als der Erste Weltkrieg begann, blieb der Satiriker stumm, bis er dann in diesem Text die Wirkung der Presse und die Konsequenzen für die Ereignisse erläuterte und die Geschäftsbedingungen des Journalismus, die Journalisten zur Verantwortung ziehend, darlegte. Die geschichtlichen "Wendepunkte" werden von Karl Kraus in vielen Texten kenntlich gemacht, wo die Akteure im öffentlichen und politischen Geschehen sich im Macht- und Sprachgefüge neu positionieren und daher für die Sprecher die Notwendigkeit einer auch sprachlich zu bemerkenden Neuorientierung besteht. Die Apokalypse des Ersten Weltkrieges, die fatale geschichtliche Wendung am Beginn des 20. Jahrhunderts, wird vom Satiriker beschrieben und bloßgelegt in den Symptomen der Sprache.

Am 19. November 1914 hat Karl Kraus im Mittleren Saal des Wiener Konzerthauses seine am 5. Dezember 1914 in Heft Nummer 404 der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel auf neunzehn Seiten veröffentlichte "Anrede" ← 13 | 14 → (aac.ac.at/F/404_020)1 In dieser großen Zeit (aac.ac.at/F/404_001) vorgetragen. Dieser vier Monate nach Kriegsbeginn publizierte Text ist der wohl bedeutendste zeitgenössische Text der deutschen Literatur über die Anfänge und die geistigen Ursachen des Ersten Weltkrieges, dieser fatalen historischen Wende, dem ersten gewaltigen Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts, dessen Ausmaße und Konsequenzen für die gesamte Menschheit mehr als hundert Jahre später noch immer nicht ausreichend verstanden werden.

Unmittelbar nach dem Vortrag seines Textes im Konzerthaus, worüber auch die abschließende Notiz im oben erwähnten Heft der Fackel (aac.ac.at/F/404_020) Auskunft gibt, las Karl Kraus einige Stellen aus der Bibel, aus den Büchern Jesaja und Jeremia nach der Bibelausgabe von Leander van Es und aus der Offenbarung Johannis nach Martin Luther, sowie zum Schluss seiner Vorlesung nach mehreren Gedichten von Detlev von Liliencron noch sein eigenes, bereits im Jahre 1913 verfasstes und in der Fackel vom 19. September 1913 veröffentlichtes Gedicht mit dem Titel Der sterbende Mensch (aac.ac.at/F/381_074). Die Einnahmen der Vorlesung wurden, wie in der Fackel auch erwähnt wird, "Rekonvaleszentenhäusern, zur Unterstützung wieder einrückender und invalider Soldaten, überwiesen" (aac.ac.at/F/404_020).

In dieser großen Zeit

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt (aac.ac.at/F/404_001).

Etwas mehr als vier Monate zuvor, am 10. Juli 1914, war die Nummer 400−403 der Fackel, das letzte Heft vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges erschienen, worin Karl Kraus die Bedingungen und öffentlichen Ereignisse infolge der Ermordung ← 14 | 15 → des Thronfolgers und seiner Frau in dem vierseitigen Aufsatz "Franz Ferdinand und die Talente" (aac.ac.at/F/400_001) und in einigen daran anschließenden Glossen dieses Heftes zum Thema machte.

In der Glosse So sah die erste Seite des offiziösen Organs aus verdeutlichte Karl Kraus in für seine Satiren typischer Weise den diesen geschichtlichen Wendepunkt drastisch kennzeichnenden grotesken Kontrast bereits an nur scheinbar kleinen Details der journalistischen Unfähigkeit zur Trauer um den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie, indem er aus einer Zeitung die von den Vergnügungslokal-Annoncen "Zur güldenen Waldschnepfe", "Café Ritz", "Wolf in Gersthof" umrahmte kleine Notiz Die Gruft in Artstetten mit dem darin vorkommenden Satz zitierte: "Die Trauer, die über die Monarchie gebreitet ist, hat mit dem heutigen Tag ihren Höhepunkt erreicht" (aac.ac.at/F/400_005).

Als der Erste Weltkrieg wenige Wochen später im Sommer des Jahres 1914 unter allzu lauter publizistischer Begleitung begann, hat der Satiriker im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen und bekanntermaßen auch im Gegensatz zu vielen Schriftstellern geschwiegen und nach der Sommerpause kein Heft seiner Zeitschrift herausgegeben. Erst nach mehreren Wochen hat er schließlich im Spätherbst in einem besonderen Heft, das sich von den vorangegangenen deutlich unterschied, mit dem darin enthaltenen Text seiner öffentlichen 'Anrede' auf einfache Weise, dabei jedoch die geistigen Bedingungen, die zum Krieg führen, ausführlich erörternd sein Schweigen "In dieser großen Zeit" begründet:

In seinem bekannten Aufsatz über Karl Kraus hat Walter Benjamin dieses, sein eigenes Tun und das sprachliche Handeln Anderer reflektierende Schreibprinzip, das in dieser Form der 'Anrede' "In dieser großen Zeit" besondere Gültigkeit erlangt, ein "gewendetes Schweigen" (Benjamin 1970: 108) genannt. Der Satiriker hatte nämlich sich und Allen, die "etwas zu sagen" (aac.ac.at/F/404_002) hatten, Schweigen als die angemessene Reaktion auf die Kriegsereignisse auferlegt. "Man könnte aber einmal dahinter kommen, welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat" (aac.ac.at/F/404_010). ← 15 | 16 →

In der seit dem 1. April 1899 von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift und in seinen Texten der Zeitschrift verstand ihr Autor und Herausgeber das Prinzip, das die Wirkung der Presse zum Gegenstand der Satire hat, als wichtigsten Grundsatz seiner Sprach- und Gesellschaftskritik. Zur Zeit des historischen Wendepunktes des Ersten Weltkrieges, der fast alles veränderte, erfährt dieses Schreibprinzip jedoch, das in Kommentierung des sprachlichen Geschehens durch bloße Zitierung und kritische Glossierung in Satire und Polemik allerstärkste Zeitkritik übt, seine wesentliche Bestimmung, als der Autor seine Stimme erhebt als Stimme gegen die Zeit, die nichts anderes macht, als die Stimmen der Zeit als Zeugen gegen sie selbst aufzurufen.

Es hat diese "Bewandtnis", wie Walter Benjamin sagt

In dieser großen Zeit (aac.ac.at/F/404_001) begründete Karl Kraus das seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges sich abverlangte Schweigen und forderte es von einer geistigen Welt, die mit lautem Ton der Kriegsbegeisterung die Ereignisse an der sogenannten Front und im sogenannten Hinterland angetrieben hatte. Karl Kraus hat unmittelbar nach dem Sommer 1914 bis zur gesprochenen 'Anrede' und den sie begleitenden Texten dieser Vorlesung – außer dem kurz danach veröffentlichten Heft Anfang Dezember 1914 – kein Wort gesagt. Vielmehr hat er gerade mit dem Text In dieser großen Zeit den Versuch unternommen, sein Schweigen zu begründen und es in einer ihm möglichen Form darzulegen, um den Ereignissen und geistigen Ursachen des Weltkrieges in adäquater Form schriftstellerisch beizukommen. Und im Zentrum der geistigen Ursachen des Weltkrieges steht für Karl Kraus In dieser großen Zeit die Phrasenhaftigkeit der Presse.

Als der Erste Weltkrieg begann, blieb der Satiriker stumm, bis er dann in diesem Text die Wirkung der Presse und die Konsequenzen für die Ereignisse erläuterte und die Geschäftsbedingungen des Journalismus, die Journalisten zur Verantwortung ziehend, darlegte.

Die geschichtlichen "Wendepunkte" wurden von Karl Kraus auch bereits in vielen Texten vor der 'großen Zeit' dort kenntlich gemacht, wo die Akteure im öffentlichen und politischen Geschehen sich im Macht- und Sprachgefüge neu positionieren und daher für die Sprecher die Notwendigkeit einer auch sprachlich zu bemerkenden Neuorientierung besteht.

Karl Kraus hat dann sein Schweigen in den ersten Monaten des Ersten Weltkrieges fortgesetzt und ein weiteres Mal in einem weiteren von ihm ebenfalls als "Anrede" (aac.ac.at/F/405_004) bezeichneten Text mit dem Titel Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit (aac.ac.at/F/405_014), den er bei seiner Vorlesung am 13. Februar 1915 im Kleinen Musikvereinssaal am Ende vorgetragen hatte und dann am 23. Februar 1915 in der Fackel brachte, erneut begründet.

Das Vorlesungsprogramm wurde mit dem Text Ein Tag aus der großen Zeit (aac.ac.at/F/405_001) begonnen, wo Karl Kraus, sich als "nur ein einfacher Zeitungsleser" (aac.ac.at/F/405_001) bezeichnend, zwei zeitgenössische Zitate aus der Presse einander gegenüberstellte und den Krieg, der sich in den Köpfen der Menschheit vorformt und im Zeitungszitat notiert ist, seinen Lesern und Zuhörern deutlich macht. In einem für die Satire von Karl Kraus typischen Verfahren wird in der linken Spalte ein Zeitungsbericht des grausam "tödlichen" (aac.ac.at/F/405_002) Kriegsgeschehens in den Schützengräben konfrontiert mit einem zeitgleichen Bericht über eine grausam bedenkenlos-heitere Veranstaltung aus dem Wiener "Kaffeehausleben" (aac.ac.at/F/405_002) in der rechten Spalte.

Die geschichtliche Wende dieses Krieges wird verdeutlicht an den Kontrasten dieser Zeit, die der Satiriker in den sprachlichen Zeugnissen der Presse seiner Zeit findet, die er in einem tödlich-lebendigen Zusammenspiel vorfindet und nicht mehr zu kommentieren braucht, sondern nur noch zeigen muss, was gesagt und gedruckt wurde. Das Schweigen des Satirikers ist in der Wirkung dieser Kon­traste und der Bedeutung der ihn so erreichenden und ihn betroffen machenden Berichte begründet und er, der nunmehr als "nur ein einfacher Zeitungsleser" (aac.ac.at/F/405_001) unter dem Eindruck der Geschehnisse nun nur mehr eine ← 17 | 18 → Deutung der Ereignisse versucht und folglich nicht mehr in derselben Weise wie vor Beginn des Krieges zu schreiben vermag:

Karl Kraus hat sich dann ein Jahr nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, im Sommer 1915 in einer ganz besonderen Form zum "Bruch des Schweigens" (aac.ac.at/F/413_025) entschlossen, indem er Die letzten Tage der Menschheit verfasste, sein wohl bekanntestes Werk, ein satirisches Drama, das literarisch das bewältigt und gestaltet, was der Satiriker In dieser großen Zeit aufmerksam beobachtet und zitiert hatte.

In der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit werden die Ereignisse des Krieges im Hinterland und die Zeitungsberichte von den Fronten, die geistigen und seelischen Abgründe und Urgründe des Krieges in einem monumentalen, aus vielen aneinandergereihten, auf Zitaten aus der Tagespresse beruhenden Szenen bestehenden Drama in fünf Akten mit Vorspiel und dem apokalyptischen Epilog "Die letzte Nacht" dargestellt. Das in den Sommern von 1915–1917 verfasste Drama erscheint jedoch erst unmittelbar nach dem Krieg in den Sonderheften der Fackel,2 und wird dann erneut veröffentlicht in Buchform, umgearbeitet in etwas veränderter Form 1922 in zwei Auflagen und 1926.

Im Verlauf der Ereignisse des Jahres 1915 wird der Weltkrieg vom Satiriker in der Fackel in zahlreichen Texten, die in dramatischer Gestaltung in vielen Fällen auch in den 'letzten Tagen der Menschheit' vorkommen, dokumentiert. Er versucht umso stärker sein Wort gegen "den großen Wortmisthaufen der Welt" (aac.ac.at/F/413_025) zu richten. "(Aus einer Tragödie »Die letzten Tage der Menschheit. Ein Angsttraum«. Schluß eines Aktes.)" (aac.ac.at/F/406_166) wird im F­ackel-Heft vom 5. Oktober 1915 am Ende des Heftes und der Aphorismenserie "Nachts" (aac.ac.at/F/406_094) ein "Monolog des Nörglers" (aac.ac.at/F/406_166) wiedergegeben, dem "die letzte sittliche Aufgabe bleibt: mitleidslos diese bange Wartezeit zu verschlafen, bis ihn das Wort erlöst oder die Ungeduld Gottes" (aac.ac.at/F/406_168). ← 18 | 19 →

Am Anfang dieses Heftes vom Oktober 1915 werden wiederum in auch graphisch sichtbarem Kontrast zueinander und sehr eindringlich Zwei Stimmen (aac.ac.at/F/406_001) zu Gehör gebracht, eine von Papst Benedikt XV. und eine von dem Chefredakteur Benedikt aus der Neuen Freien Presse und so nebeneinander zur Dokumentation des sich ereignenden Zivilisationsbruches dieses historischen Wendepunktes zitiert. Diese Textmontage bildet später die Grundlage für zwei unmittelbar aufeinander folgende Szenen der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, wo die druckräumliche Gegenüberstellung in der Zeitschrift zu einer szenischen und dramatischen Aufeinanderfolge im Schauspiel umgestaltet wird (Kraus 1986: 190 f.).

Im nächsten Heft der Fackel (10. Dezember 1915) wird dann in dem Aufsatz Schweigen, Wort und Tat (aac.ac.at/F/413_025) von Karl Kraus in ebensolcher spiegelsymmetrischer Entsprechung der Text Eeextraausgabeee –! (aac.ac.at/F/413_001) als erster Text dem Gedicht Wiese im Park (aac.ac.at/F/413_128) als letztem Text antithetisch entgegengestellt, und damit der bemerkenswerte Wechsel des Autors vom Schweigen zum Schreiben und zur "Bewältigung in Tätigkeit" (Benjamin 1970: 108) begründet.

Die Apokalypse des Ersten Weltkrieges, die fatale geschichtliche Wendung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wird vom Satiriker beschrieben und bloßgelegt in den Symptomen der Sprache. Für den Autor der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit zeigte sich der Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieges in besonderer Weise in den Phrasen und den Handlungen der Zeit.

Dem Satiriker hat sich bereits in der Zeit vor der 'großen Zeit' eine geistige und reale Apokalypse offenbart, die er in den Texten seiner Zeitschrift seit 1899 in unzähligen Beispielen zitierte, kritisierte und kommentierte, die über den Ersten Weltkrieg und das, was danach kam, noch viel weiter hinausging, als der "Nörgler" (Kraus 1986: 87) 1917 es vorhergesagt hatte: "Der Menschheit wird die Kugel bei einem Ohr hinein und beim andern herausgegangen sein" (aac.ac.at/F/445_002). ← 19 | 20 →

Bibliographie

AAC – Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL, im Internet unter: "Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899−1936", AAC Digital Edition No. 1, <http://www.aac.ac.at/fackel>

Benjamin, Walter 1970: "Karl Kraus", in: Benjamin, Walter: Über Literatur Frankfurt a. M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp 232): 104−139

Kraus, Karl 1986: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, hg. von Christian Wagenknecht (= Karl Kraus Schriften Band 10), Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Details

Seiten
382
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653064315
ISBN (ePUB)
9783653952537
ISBN (MOBI)
9783653952520
ISBN (Hardcover)
9783631671214
DOI
10.3726/978-3-653-06431-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
multikulturelle Räume Interkulturalität narrative Konstruktionen Kultur- und Sprachkontakte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 382 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

E.W.B. Hess-Lüttich (Band-Herausgeber:in) Anita Czeglédy (Band-Herausgeber:in) Edit Kovács (Band-Herausgeber:in) Petra Szatmári (Band-Herausgeber:in)

Ernest W.B. Hess-Lüttich, Dr. phil., Dr. paed., Dr. phil.habil., Dr. h.c., Hon.Prof. Linguistik TU Berlin, Hon.Prof. German U Stellenbosch, Prof. em. Germanistik U Bern, Autor/Hrsg. v. ca. 60 Büchern und 360 Aufsätzen, Präsident div. Gesellschaften (GiG, DGS u.a.), Mitglied div. editorial boards und advisory boards (u.a. Österr. Akad. d. Wissenschaften), Ehrenmitglied der GuG, zahlreiche Gastprofessuren auf allen Kontinenten. Anita Czeglédy ist Lehrstuhlleiterin und Dozentin für Literaturwissenschaft am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Károli-Gáspár-Universität Budapest (Ungarn). Ihre Forschungstätigkeit fokussiert auf österreichische und deutsche Gegenwartsliteratur mit den Schwerpunkten Gedächtnis- und Identitätsforschung, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Literatur der Ungarndeutschen. Edit Kovács ist Dozentin für Literaturwissenschaft am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Károli-Gáspár-Universität Budapest (Ungarn). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich österreichische und deutsche Gegenwartsliteratur, Literatur und Ethik, Literatur und Recht sowie Literatur und Fotografie. Petra Szatmári ist Hochschulprofessorin am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Károli-Gáspár-Universität Budapest (Ungarn). Ihre Forschungsschwerpunkte sind agensdezentrierte Konzeptualisierungen (diachron, synchron, kontrastiv), Grammatikalisierungsprozesse und kontrastive Linguistik. Emese Zakariás ist Assistentin am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Károli-Gáspár-Universität Budapest (Ungarn) mit den Forschungsschwerpunkten Morphosyntax und kontrastive Linguistik.

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