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Das Europäische Parlament als Parlament

von Jens Ott (Autor:in)
©2016 Dissertation 318 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor geht der Frage nach, inwiefern das Europäische Parlament als Parlament definierbar ist. Erst seit dem Vertrag von Maastricht bezeichnen die Primärverträge die vormalige Versammlung der «Vertreter der Völker» als «Europäisches Parlament». Laut Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2009 ist das Europäische Parlament der Ort, an dem «die Bürgerinnen und Bürger ... auf Unionsebene unmittelbar ... vertreten» werden. Zurückhaltender urteilt das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil, demzufolge es sich in der Sache weiterhin um eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten handelt. Die republikanische Zwecksetzung eines Parlaments ist die Verwirklichung des Rechts durch die Bürger für die Bürger. Das ist der Maßstab, den der Autor an das Europäische Parlament mit seinen primärvertraglichen Befugnissen anlegt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Annäherung an den Parlamentsbegriff
  • A. Das Europäische Parlament in seiner Entwicklung: Grundlagen
  • I. Europäisches Parlament und nationale Institutionen – Annäherung an den Sachverhalt
  • II. Das Europäische Parlament im Wandel der Zeit – Entwicklungsschritte im Überblick
  • 1. Einrichtung einer Versammlung als Vorstufe des späteren Europäischen Parlaments
  • a) Montanunion
  • b) EGKS, EWG, Euratom
  • c) Einheitliche Europäische Akte
  • 2. Die Entwicklung des Europäischen Parlaments ab 1979
  • a) Direktwahlakt
  • b) Vertrag über die Europäische Union
  • c) Amsterdam
  • d) Von Nizza nach Lissabon
  • 3. Zusammensetzung und Organisation des Europäischen Parlaments in der Gegenwart (Vertrag von Lissabon)
  • a) Grundlegendes
  • b) Einfluss des Europäischen Parlaments nur im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
  • c) Enquête-Recht, Petitionsrecht, Bürgerbeauftragter
  • d) Beschlussfassung
  • e) Abgeordnete
  • f) Organe des Parlaments
  • a.a Präsident und Konferenz der Präsidenten (Art. 19, 23 GO EP)
  • b.b Das Präsidium (Art. 21, 22 GO EP)
  • c.c Quästoren (Art. 25 GO EP)
  • d.d Konferenz der Ausschussvorsitzenden (Art. 26 GO EP)
  • e.e Konferenz der Delegationsvorsitzenden (Art. 27 GO EP)
  • g) Sonstiges Organisatorisches
  • B. Das Europäische Parlament in seinem Wirken
  • I. Grundsätzliches zur Rolle des Europäischen Parlaments in den Bestimmungen des EUV/AEUV
  • 1. Die primärrechtlichen Verträge
  • 2. Entwicklung der Rahmenbedingungen seit dem Verfassungskonvent
  • 3. Heutiger rechtlicher Rahmen
  • a) Wesentlichkeitslehre
  • b) Kompetenz-Kompetenz und Demokratieprinzip
  • c) Implied powers und effet utile
  • 4. Parlament und Bürger
  • II. Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Unionsgesetzgebung
  • 1. Arbeitsweise der Europäischen Union
  • a) Überblick über das System
  • b) Weitere an der Gesetzgebung beteiligte Organe
  • a.a Der Europäische Rat
  • b.b Die Kommission
  • c.c Der Gerichtshof (EuGH)
  • 2. Verfahrensweisen der Rechtsetzung
  • a) Allgemeines
  • b) Ordentliches Gesetzgebungsverfahren Art. 289 AEUV
  • c) Besonderes Gesetzgebungsverfahren: Anhörungs-/ Konsultationsverfahren
  • 3. Art der Beteiligung des Parlaments an der Gesetzgebung nach ihm zugewiesenen Politikfeldern
  • a) Beteiligung im Anhörungs-/Konsultationsverfahren
  • a.a Bereich Wirtschaft
  • (a) Wettbewerbsregeln/ Vorschriften für Unternehmen
  • (b) Staatliche Beihilfen
  • (c) Steuerliche Vorschriften aus den Bereichen Umsatzsteuer, Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern
  • (d) Gewerblicher Rechtschutz
  • b.b Bereich Binnenorganisation
  • (a) Mitglieder des Rechnungshofes
  • (b) Europäischen Investitionsbank
  • (c) Änderung der Verträge
  • c.c Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
  • (a) Allgemeines
  • (b) Restriktive Maßnahmen
  • (c) Katastrophenschutz
  • b) Beteiligung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
  • a.a Bereich Wirtschaft
  • (a) Gemeinwirtschaftliche Dienstleistungen
  • (b) Landwirtschaft
  • (c) Binnenmarkt
  • (d) Verkehrspolitik
  • (e) Wirtschafts- und Währungspolitik
  • (f) Beschäftigungspolitik
  • (g) Verbraucherschutz
  • (h) Handelspolitik
  • (i) Industriepolitik
  • (j) Transeuropäische Netze
  • (k) Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt
  • (l) Forschung und technologische Entwicklung
  • (m) Umweltschutz
  • (n) Energie
  • (o) Tourismus
  • b.b Bereich Recht
  • (a) Verfahren bei Verstößen gegen Grundrechte und Grundfreiheiten
  • (b) Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit (PJZ)
  • (c) Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft
  • (d) Freizügigkeit, Diplomatischer Schutz, Unionsbürgerschaft
  • (e) Wahlrecht
  • (f) Freiheit, Sicherheit, Recht
  • (g) Humanitäre Hilfe
  • c.c Soziokulturelles
  • (a) Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend
  • (b) Kultur
  • (c) Gesundheitswesen
  • d.d Binnenorganisation
  • (a) Verwaltungszusammenarbeit
  • (b) Satzungsänderungen des Europäischen Gerichtshofs
  • (c) Budgetkontrolle
  • (d) Finanzierung der Union
  • (e) Kompetenzergänzung
  • e.e Außenbeziehungen
  • (a) Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
  • (b) Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr
  • (c) Assoziierungsabkommen mit Drittländern
  • (d) Entwicklungszusammenarbeit
  • (e) Wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern
  • (f) Internationale Übereinkünfte
  • (g) Abkommen zwischen der Gemeinschaft und Staaten oder internationalen Organisationen
  • III. Einstweilige Bewertung des Europäischen Parlaments im Verhältnis zu anderen Organen der Europäischen Union
  • C. Das Europäische Parlament und seine Qualität als Parlament
  • I. Die Stellung eines Parlaments nach der neuzeitlichen Staatstheorie und ihre mangelhafte Ausfüllung durch das Europäische Parlament
  • 1. Das Ideal
  • a) Rechtliche Voraussetzung für die Existenz eines Parlaments: Freiheit und Gleichheit der Bürger
  • b) Zwecksetzung für das Parlament: Recht durch die Bürger für die Bürger
  • c) Rechtfertigung der Existenz eines Parlaments: Identität und Repräsentation der Bürger
  • a.a Identität der Bürgerschaft
  • b.b Repräsentation und Vertretung der Bürger
  • d) Prinzip der Willensbildung
  • a.a Mehrheitsregel als Entscheidungsfindungspinzip
  • b.b Bürgerschaftliches Kollegialorgan
  • e) Ergebnis der Parlamentstätigkeit: Verwirklichung von Republik und Demokratie
  • 2. Die Realität des Europäischen Parlaments
  • a) Defizite des Parlaments bei der Volksvertretung
  • a.a Defizite nach demokratischem Staatsprinzip
  • b.b Defizite nach republikanischem Staatsprinzip
  • c.c Paternalismus statt Demokratie, Gleichheit und Freiheit
  • b) Mitwirken des Parlaments am Ausbau existenzieller Staatlichkeit der Europäischen Union
  • II. Das Europäische Parlament gemessen an klassischen Parlamentsfunktionen
  • 1. Mängel bei der Wahrnehmung der Artikulations- und Willensbildungsfunktion
  • 2. Defizite bei der Gesetzgebungsfunktion
  • 3. Mängel bei der Wahrnehmung der Kreations- und Legitimationsfunktion
  • 4. Defizite bei der Kontrollfunktion
  • a) Unzureichende Kontrollbefugnisse
  • b) Mangelnde Gewaltenteilung
  • III. Zusammenfassung: Nichterfüllen des im Namen Parlament zum Ausdruck gebrachten Anspruchs
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung: Annäherung an den Parlamentsbegriff

„Das Europäische Parlament ist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes“, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil vom 30.6.2009. Es „bleibt … in der Sache … eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten“.1 Der nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum 1.12.2009 in Kraft getretene Vertrag über die Europäische Union in der Fassung von Lissabon (EUV) spricht hingegen in Art. 10 Abs. 2 EUV ausdrücklich davon, dass die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten sind. Diesen Widerspruch zwischen der Beurteilung des Europäischen Parlaments durch das Bundesverfassungsgericht und seiner Beschreibung im genannten Primärvertrag der Europäischen Union gilt es im Folgenden aufzuklären und zu beurteilen.

Ist das Europäische Parlament ein Parlament? Auf diese Frage läuft der Titel dieser Arbeit „Das Europäische Parlament als Parlament“ letztlich zu. Seit der ersten Verwendung des Namens im Jahre 19582 ist diese Frage in weiten Teilen der Forschung und Lehre so nämlich noch nicht gestellt, geschweige denn umfassend beantwortet worden. Die Kommentarliteratur zitiert das entsprechende Organ der Gemeinschaften Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäische Atomgemeinschaft (EAG) und Montanunion – teils mit einer Andeutung von Kritik in Anführungszeichen – zumeist unreflektiert als „Europäisches Parlament“3. Die genannte Frage zu klären gilt es nach oben referierter Qualifizierung durch das Bundesverfassungsgericht („… bleibt … Vertretung der Völker …“) umso mehr, als das Europäische Parlament mit Inkrafttreten des gerichtlich beurteilten Vertrages von Lissabon ein Organ der mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Europäischen Union wurde. Dieser Reformvertrag von Lissabon löste nämlich das bisherige ← 15 | 16 → „Drei-Säulen-Konzept“ der Europäischen Union (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV) auf, demzufolge eine Europäischen Union ohne Rechtspersönlichkeit aus den supranational organisierten Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS, Euratom) sowie den intergouvernementalen Politiken Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) und Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen bestand.4

Die Bezeichnung Parlament wird weltweit für eine Vielzahl staatlicher Einrichtungen mit Versammlungscharakter verwendet, wie auch das von ihr abgeleitete Adjektiv zahlreiche Institutionen begrifflich präzisiert. Die Bundesrepublik Deutschland z.B. wird eine parlamentarische Demokratie genannt.5 Der Begriff meint im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes, dass das Volk Staatsgewalt durch ein „besonderes Organ“ ausübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), nämlich durch die parlamentarische Volksvertretung namens Deutscher Bundestag.6 Die Europäische Union reklamiert – und das ist Untersuchungsobjekt dieser Arbeit – für sich ebenfalls ein „Parlament“, für das sie alle fünf Jahre in den Mitgliedstaaten nach nationalem und damit unterschiedlichem Wahlrecht Wahlen abhält. Allein die Verwendung des Begriffs vermag den tatsächlichen Charakter des Europäischen Parlaments also nicht zu beschreiben, wie die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt.

Dass Untersuchungen zur Verwendung staatsrechtlicher Begriffe stets angebracht sind, zeigt schon Aristoteles´ Satz über den Bürger: „Nicht alle bezeichnen denselben als Staatsbürger, und wer in der Demokratie ein solcher ist, ist es oft in der Oligarchie keineswegs.“7 Auch das moderne Zivilrecht mit seinem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ bestätigt die Relativität verwendeter Begriffe: Die falsche Bezeichnung ändere nichts am tatsächlich Gemeinten. Zudem – und wegen der Nähe zum Untersuchungsgegenstand besonders gewichtig – hat eine Untersuchung der Eigenart des Europäischen Gerichtshofs ergeben, dieser sei trotz seiner Benennung „kein Gericht im demokratischen Sinne“.8 ← 16 | 17 →

Im Begriff Parlament steckt das französische Verb „parler“. Es meint das unbehinderte, freie Gespräch – ein Wesensmerkmal der Freiheit. Das unbehinderte Zustandekommen von Meinungen in Gespräch und Diskussion bildet einen offenen politischen Prozess, ist somit Voraussetzung für eine politische Willensbildung und konstituierend für die freiheitliche, demokratische Grundordnung.9 „Wer den Diskurs behindert, verrät die Republik.“10 Republikanische Gesetzgebung beruht auf öffentlichem Diskurs, dem allseitigen Gespräch über das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf Grundlage der Wahrheit. Dieser Diskurs, der in Vertretung des ganzen Volkes in Form des Parlamentarismus erfolgen kann, reduziert – so schon Rousseau11 – die Irrtumsgefahr. Ergebnis ist ein allgemeines Gesetz im Namen aller, das als eindeutige Entscheidung auch alle bindet.12

Die Republik, in der jeder Bürger „sein eigener Herr“13, „selbst Politiker“14, ja sogar „Mitgesetzgeber“15 ist, benötigt nur ein Parlament, wenn das Staatsvolk größerer Staaten schon aus organisatorischen Gründen nicht mehr selbst die Politik gestalten kann, sondern von Vertretern ausüben lassen muss. „Eigentlich müsste das Volk in seiner wirklichen Gesamtheit entscheiden, wie das ursprünglich der Fall war, als sich noch alle Gemeindemitglieder unter der Dorflinde versammeln konnten; aber aus praktischen Gründen ist es heute unmöglich, dass alle zu gleicher Zeit an einem Platze zusammenkommen; auch ist es unmöglich, alle wegen jeder Einzelheit zu befragen; deshalb hilft man sich vernünftigerweise mit einem gewählten Ausschuss von Vertrauensleuten, und das ist eben das Parlament.“16 Das Staatsvolk muss gleichwohl Subjekt der demokratischen Legitimation bleiben, das das Objekt der demokratischen Legitimation, die Staatsgewalt17, über ein Organ des Volkes ausübt. Das Volk kann nur Subjekt der demokratischen Legitimation bleiben, wenn es herrschaftsfrei, also freiheitlich sich selbst mit allgemeinen Gesetzen regiert. Diese Gesetze des Volkes werden ← 17 | 18 → im Diskurs gefunden, der letztlich anhand der Mehrheitsregel einen Konsens18 herbeiführt, der im Ergebnis der Wille aller ist und damit auch alle bindet. Die Einigkeit der Willen findet im Gesetz ihren Ausdruck, was entsprechend der Legalität im Sinne einer Rechtlichkeit alles Handeln durch Gesetze des Rechts bestimmt.19 „Die ratio des Parlaments liegt … im <Dynamisch-Dialektischen>, d. h. in einem Prozeß der Auseinandersetzung von Gegenständen und Meinungen, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt.“20 Ort der Tagung und Organ des ganzen Volkes (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) aber ist das Parlament. Weil allgemeine Gesetze solche des ganzen Volkes sind und diese vom Parlament erlassen werden, ist das Parlament eine Einrichtung der Freiheit21: Es ermöglicht „in seiner Gesamtheit als Verfassungsorgan die Vertretung des ganzen Volkes“.22 Diese Grundfunktion wiederum legitimiert nach Maßgabe des Verfassungsrahmens die Ausübung der Kreationsfunktion der Regierung23, denn durch die so geknüpfte ununterbrochene Legitimationskette wird in gewissem Sinne die „Identität von Regierung und Regierten“ sichergestellt.24

Die Frage nach der Einstufung des Europäischen Parlaments als Parlament kann also erst beantwortet werden, wenn zunächst der Gehalt des Organs als Parlament durch Ermittlung seiner bisherigen primärvertraglichen Befugnisse geklärt wird. Bei dieser Beurteilung ist bedeutsam, dass das Parlament als eine Einrichtung der Freiheit begriffen wird, letztlich also als eine Einrichtung der Demokratie, weil die Freiheit nur durch Demokratie Verwirklichung findet.

Die Festlegung dieser Rahmenbedingung ist deshalb wichtig, weil es bereits vor der Demokratie als Parlamente bezeichnete Einrichtungen der Monarchie, der Aristokratie oder der Oligarchie gab. „Das parlamentarische System ist keine Folgerung, keine Anwendung des demokratischen Prinzips … Es beruht auf einer Verwertung und Mischung verschiedener und sogar entgegengesetzter politischer Elemente. Es benutzt monarchische Konstruktionen, um die Exekutive, d. h. die Regierung zu stärken und gegen das Parlament auszubalancieren; es verwendet den aristokratischen Gedanken einer repräsentativen Körperschaft ← 18 | 19 → … es benutzt demokratische Vorstellungen von der Entscheidungsgewalt des nicht repräsentierten, sondern unmittelbar abstimmenden Volkes…“.25

Ohne die Prämisse, dass ein Parlament eine Einrichtung der Freiheit sein muss, verlöre sich eine Einordnung des Europäischen Parlaments in der Beliebigkeit der Verwendung dieses Begriffs. Eine republikanische Vertretung des ganzen Volkes beugt dem Mangel vor, den Carl Schmitt im System des bürgerlichen Rechtsstaats sieht, dass es nämlich die letzte, unabwendbare politische Entscheidung und Konsequenz der politischen Formprinzipien umgehen will.26 Staatlichkeit ist allgemeine Gesetzlichkeit (Rechtsprinzip). Diese Gesetzlichkeit verwirklicht die Freiheit.27 Die Gesetze müssen von einem Organ des Volkes hervorgebracht werden, weshalb zum Beispiel auch das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 1 S. 2 Abgeordnete des Deutschen Bundestages als „Vertreter des ganzen Volkes“ bezeichnet. Dieser Zwang zur Vertretung gibt die Chance, in einem Erkenntnis- und Entscheidungsverfahren mittels Diskussion eine Entscheidung zu finden, die der „Tatsache Rechnung (trägt), dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von der Realisierung der Freiheit aller Personen abhängt“28, also der moralischen Kompetenz die größtmögliche Chance gegeben wird.29 Parlamentarier müssen sich der dialektischen Spannung zwischen Interessenrepräsentation und volonté générale bewusst sein. Soll eine Parlamentsentscheidung eine von allen akzeptierte sein, so muss sie in einer freien und offenen Auseinandersetzung einen Ausgleich zwischen diesen Prinzipien hergestellt haben.30 Diese schwierige Aufgabe des republikanischen Interessenausgleichs durch allgemeines Gesetz, welches die Freiheit aller verwirklicht31, stellt hohe Anforderungen an die Volksvertreter, die im Rahmen einer Bestenauslese (Art. 33 GG) ermittelt werden sollten: Die Parlamentarier müssen „citoyens“ sein, Patrioten, so Kant32, keinesfalls „in die Belange ihrer Partikularität verfangene(n) politische(n) Nullitäten“– so Hegel33 – denn als citoyens sind sie Staatsbürger und Mitinhaber hoheitlicher ← 19 | 20 → Gewalt.34 Diesem gegenüber steht bei Hegel und allen, die ihm folgen, der Privatbürger als bourgeois, als Rechteinhaber von privaten Individualrechten.35

Republikanisch betrachtet „soll das Parlament, der Regierung übergeordnet, die ganze Nation repräsentieren und in öffentlicher Diskussion zu Gesetzen finden, die vernünftige und generelle Normen zur Regelung des gesamten staatlichen Lebens enthalten“.36 Hier wird im Zusammenhang mit dem Begriff Parlament der Begriff Nation gebraucht. Auf europäischer Ebene aber ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge „ein auf Staatsgründung zielender Wille nicht feststellbar.“ Damit fehlt es „gemessen an den verfassungsstaatlichen Erfordernissen … der Europäischen Union auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation“.37 Den hier hergestellten Zusammenhang zwischen dem Volk und seinem Repräsentationsorgan namens Parlament brachte Freiherr vom Stein mit seiner prägnanten Formulierung bereits in seinem Abschiedsschreiben vom 24.2.1809 auf den Punkt: Das Parlament ist eine „allgemeine Nationalrepräsentation“.38

Weil das Bundesverfassungsgericht von dieser Warte aus Art. 10 Abs. 2 EUV mit dessen Postulat, die „Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene (seien) unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“, zurückweist39, wird zu untersuchen sein, ob die Europäische Union doch von einem Volk getragen wird, das bereits vorläufig so politisch organisiert ist, dass es legitime Staatsgewalt hervorbringen kann40. Gibt es also auf Unionsebene ein Volk, das als Unionsvolk als pouvoir constituant ein wahres Europäisches Parlament einrichten kann? Weiterhin ist zu fragen, ob es sich bei diesen Anforderungen um notwendige Merkmale der Parlamentseigenschaft handelt.41 ← 20 | 21 →

Grundlegend hat W. Bagehot42 bereits 1867 die Funktionen eines Parlaments beschrieben: Dieses spielt eine wichtige Rolle bei der Regierungsbildung (Kreationsfunktion) und kontrolliert in Folge die Regierung sowie die Verwaltung (Kontrollfunktion). Weiterhin ist das Parlament entscheidend an der Gesetzgebung einschließlich der Haushaltsbestimmungen (Gesetzgebungsfunktion) beteiligt. Im Parlament sollen alle relevanten politischen Fragen behandelt (Willensbildungs- und Willensmobilisierungsfunktion) und letztlich in der Öffentlichkeit verbreitete Meinungen und Interessen zugespitzt formuliert werden (Artikulationsfunktion). So wichtig die einzelnen Funktionen auch sind, erst im Zusammenklang ergeben sie einen aus dem Freiheitsprinzip erwachsenden Maßstab der Parlamentsarbeit.43 „Die Freiheit als Autonomie des Willens liegt (nämlich) allem objektiven Recht und allen subjektiven Rechten zugrunde.“44

Das Parlament nach dem von Abbé Sieyès in die republikanischen Verfassungen der Neuzeit eingebrachten republikanischen Prinzip45 besteht aus Vertretern, weil ein höchstpersönlicher Vertragsschluss aller Bürger mit allen Bürgern in allen Angelegenheiten irreal ist.46 Abgeordnete haben, sollen sie Vertreter des Volkes sein, also ein freies Mandat, geben wie Vertreter nach bürgerlichem Recht eine eigene Willenserklärung in fremdem Namen ab (§ 164 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Rechtsfolgen dieser unmittelbaren Vertretung47 in Form der verabschiedeten Gesetze wirken dann unmittelbar gegen den Vertretenen, das Volk als Gesamtheit der Bürger.

Die sich bereits nach dem Bisherigen andeutende Vielfalt der Interpretationen der Institution Parlament würde in ihrer Komplexität noch dadurch erhöht, dass die Eigenschaft des Europäischen Parlaments im Europa der 28 jeweils vor dem Hintergrund der jeweils eigenen verfassungsrechtlichen Lehre zu würdigen wäre.

Eine Betrachtung aus 28 nationalen Blickwinkeln mit jeweils wieder heterogenen staatsrechtlichen Meinungen würde den Rahmen dieser Arbeit freilich sprengen. Die Beurteilung der Themenfrage wird daher auf Basis der deutschen ← 21 | 22 → Staatslehre erfolgen. Dieser Blickwinkel ist arbeitsökonomisch notwendig, für eine in Deutschland erstellte Untersuchung aber auch sachlich nach deutscher Staatslehre/bundesdeutscher Verfassungsnorm geboten, weil die Fundamentalnorm des Art. 20 Abs. 2 GG – die wirkungsvolle Vertretung der Bürger im Parlament – von Art. 79 Abs. 3 GG unter den Schutz der Unabänderlichkeit gestellt ist. Die Beurteilung des Europäischen Parlaments wird insbesondere auf der Grundlage der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie der veröffentlichten deutschen Literatur zu Parlament und Parlamentarismus vorgenommen werden. Um nicht von der Masse des vorhandenen Schrifttums erdrückt zu werden, ist zudem eine Auswahl namhafter Repräsentanten vielfach vertretener Meinungen erforderlich. Freilich werden auch beachtenswerte weitere Ansichten in die Beurteilung des Europäischen Parlaments einbezogen werden.


1 BVerfGE 123, 267 (373); i.d.S. auch K. A. Schachtschneider, Der Vertrag über die EU und das Grundgesetz, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 396, 406.

2 ABl. 1958, S. 6f; G. Ziegler, Die Stellung des Europäischen Parlaments, in: I. v. Münch, (Hrsg.) Staatsrecht – Europarecht – Völkerrecht (Festschrift für H. J. Schlochauer), 1981, S. 947 ff. (952); M. Schweitzer, Europarat, WEU, NATO, Europäisches Parlament, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, hrsg. H.-P. Schneider, W. Zeh, S. 1675.

3 R. Geiger, EUV/ EGV, Kommentar, 4. Aufl. 2004, Art. 189 EGV, Rdn. 1.

4 BVerfGE 123, 267 (293 ff.).

5 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 20, II. Abschn., II, Rdn. 82; H. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rdn. 19; K. Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 23; F. K. Fromme, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes, DÖV 1970, 518 (518).

6 P. Badura, Parlament und Demokratie, in: HStR, Band I, 2. Aufl. 1995, § 23, S. 955.

7 Aristoteles, Politik, S. 103, 1274b 39 ff.; siehe auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 210.

8 K. A. Schachtschneider, Verfassungsrecht in der Europäischen Union, Teil 2, S. 72; siehe auch T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 11, 239.

9 F. E. Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG Komm. II, 5. Aufl. 2001, Art. 20, Rdn. 17.

10 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 586.

11 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 28, 73.

12 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 244 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 669.

13 Kant, Über den Gemeinspruch, ed. Weischedel, S.151; i.d.S. auch ders., Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, S. 204 ff; ders., Metaphysik der Sitten, S. 432 ff.

14 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 219.

15 Kant, Über den Gemeinspruch, ed. Weischedel, S. 150.

16 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 42.

17 F. E. Schnapp, in: von Münch/Kunig, GG Kommentar II, Art. 20 Rdn. 20, 23.

18 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 145; F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, S. 25 ff., 54 ff.

19 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Repubilk, S. 333.

20 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43.

21 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 638.

22 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 647.

23 H. Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: H.-P. Schneider, W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 121 ff.

24 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 234 ff.

25 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 304 f.

26 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 305.

27 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637.

28 J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, S. 25.

29 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 645.

30 E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 40.

31 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 662.

32 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 146, 151.

33 Vgl. W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 308 f.

Details

Seiten
318
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653063394
ISBN (ePUB)
9783653952971
ISBN (MOBI)
9783653952964
ISBN (Paperback)
9783631670873
DOI
10.3726/978-3-653-06339-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Schlagworte
Staatstheorie Demokratie Republik Europäische Union
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 318 S.

Biographische Angaben

Jens Ott (Autor:in)

Jens Ott studierte Rechtswissenschaft in Erlangen. Er ist als Syndikus bei einem Softwarehaus und IT-Dienstleister sowie als Rechtsanwalt in eigener Sozietät tätig.

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Titel: Das Europäische Parlament als Parlament
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