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Sŏwŏn – Konfuzianische Privatakademien in Korea

Wissensinstitutionen der Vormoderne

von Eun-Jeung Lee (Autor:in)
©2016 Monographie 194 Seiten
Reihe: Research on Korea, Band 4

Zusammenfassung

Sŏwŏn waren konfuzianische Privatakademien, die sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Korea rasch verbreiteten. Sie waren Orte der Generierung, Weitergabe und Stabilisierung verschiedener Formen von Wissen, aber auch Institutionen mit eigenständigen Ordnungen, die ihr eigenes Funktionieren wie auch ihr Verständnis und ihren Umgang mit Wissen regulierten. Die Autorin analysiert, wie und in welcher Form das neokonfuzianische Wissen in den Sŏwŏn institutionalisiert und wie dieses institutionalisierte Wissen in der Praxis gehandhabt wurde. Sie untersucht sowohl die Akteure und Prozesse der Institutionalisierung als auch die Formen des Wissenstransfers innerhalb, zwischen und jenseits dieser konfuzianischen Privatakademien.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Koreanische Sŏwŏn als Forschungsgegenstand
  • 1. Sŏwŏn – Entdeckung der Tradition?
  • 2. Sŏwŏn als vormoderne Wissensinstitution
  • II. Errichtung der Sŏwŏn und ihre Entwicklung
  • 1. Historischer Kontext der Errichtung der Sŏwŏn
  • 1.1 Kultur der chinesischen Schriftzeichen und Herkunft des Konfuzianismus
  • 1.2 Etablierung des Konfuzianismus und staatliche Bildungseinrichtungen
  • 1.2.1 Koryŏ (918–1392)
  • 1.2.2 Chosŏn (1392–1910)
  • 1.3 Private Bildung und Bildungseinrichtungen
  • 2. Entwicklung der Sŏwŏn – Akteure, Struktur und Prozess
  • 2.1 Ursprung der Sŏwŏn in China
  • 2.2 Gründung der Sŏwŏn in Korea
  • 2.2.1 Errichtung der ersten Sŏwŏn
  • 2.2.2 Ausbreitung der Sŏwŏn
  • 2.2.3 Organisation und Funktion der Sŏwŏn
  • 2.3 Gesellschaftliche und politische Bedeutung der Sŏwŏn
  • 2.4 Auswirkungen der Ausbreitung der Sŏwŏn
  • 3. Formen des Wissenstransfers in und durch die Sŏwŏn
  • 3.1 Vorlesungen und Seminare (kanghoe und hoegang)
  • 3.2 Kultische Rituale
  • 3.3 Bibliotheks- und Verlagsfunktion
  • 3.4 Studienordnungen und Chroniken (hakkyu und sŏwŏnji)
  • III. Schlussbetrachtung
  • Exkurs: Moderne Diskurse über Sŏwŏn
  • Anhang
  • Bibliographie
  • Glossar
  • Verzeichnisse

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I.  Koreanische Sŏwŏn als Forschungsgegenstand

1.  Sŏwŏn – Entdeckung der Tradition?

Sŏwŏn waren konfuzianische Privatakademien, die sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Korea rasch verbreiteten. Sie wurden für das Studium der neo-konfuzianischen Lehre inmitten zumeist sehr schöner Landschaften und in nicht allzu großer Entfernung von menschlichen Siedlungen errichtet. Die Architektur der Sŏwŏn passte sich der Landschaft an, folgte aber ihren wesentlichen Funktionen, indem sie einen Lehr- und einen rituellen Bereich klar unterschied. Zum Lehrbereich gehörten auch eine Bibliothek sowie Unterkünfte für die Studenten, in denen sie sich auch dem Studium der klassischen Texte widmeten. Die Vorlesungshallen sind großzügig ausgelegt. Manche sind nach allen Seiten vollkommen offen, sodass diese Anlagen eine Einheit mit der umgebenden Natur bilden. Auch die Lehrer und ihre Schüler müssen sich als Teil der sie umgebenden Landschaft gefühlt haben. Von den wenigen bis heute erhalten gebliebenen Sŏwŏn werden Anstrengungen unternommen, damit neun in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen werden.

Bild 1: Vorlesungshalle der Pyŏngsan Sŏwŏn.

image1

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Konfuzianische Privatakademien existierten nicht nur in Korea; sie sind in allen Ländern des konfuzianischen Kulturkreises zu finden. Die ersten Privatakademien waren, wie leicht zu erraten ist, in China gegründet worden. Gerade deshalb betont die südkoreanische Vertretung bei der UNESCO die Unterschiede zwischen den konfuzianischen Privatakademien in China und Korea. So ist auf der offiziellen Homepage der Ständigen Vertretung Südkoreas bei der UNESCO zu lesen:

Konfuzianische Akademien wurden zuerst in China erbaut. Es ist bekannt, dass die chinesischen Akademien ähnliche Institutionen in Nachbarländern wie Korea, Japan und Vietnam beeinflussten, allerdings sind die Traditionen in Japan und Vietnam heute fast abgebrochen. Was die neun koreanischen Akademien, im Unterschied zum chinesischen Äquivalent, besonders macht, ist wie folgt: Verglichen mit den chinesischen Akademien, welche sich auf Unterricht und Studium konzentrieren, legen die koreanischen Sŏwŏn ihre Priorität auf soziale Erziehung und Erinnerungsrituale für weise Gelehrte. Nur in den koreanischen Akademien behalten die konfuzianischen Erinnerungsrituale, speziell für die großen Gelehrten, ihre ursprüngliche Form bei, während die Tradition in China bereits erloschen ist. Durch diese Rituale verehren die koreanischen Sŏwŏn die Tugendhaftigkeit und Gelehrsamkeit, das Verhalten und die Rechtschaffenheit der verstorbenen Weisen. Ebenso spielten sie eine signifikante Rolle in der sozialen Erziehung und im Aufbau und der Verbreitung des konfuzianischen Geistes und seiner Kultur, die großen Wert auf die Regeln des Dekorums legt. Die räumliche Komposition der koreanischen Sŏwŏn entspricht nicht dem chinesischen Typus, sondern führt eine eigene Anordnung, in Harmonie mit der Natur, ein. Während die Gebäude der chinesischen Sŏwŏn nach einer strikten Symmetrie ausgerichtet sind, nutzen die koreanischen Sŏwŏn, mit großer Flexibilität, die topografischen Gegebenheiten für die Anordnung ihrer Gebäude.1

Der Grund für die Betonung der Unterschiede und nicht der Gemeinsamkeiten liegt offenbar in den Anforderungen der UNESCO, aus der Einzigartigkeit die Schutzbedürftigkeit abzuleiten.

Interessanterweise treten diese Unterschiede aber auch in den Diskursen beider Länder auf. Während in den modernen chinesischen Diskursen die Bildungsfunktion der Privatakademien betont wird, steht in Südkorea bei diesen Diskursen die Ritualfunktion im Vordergrund. ← 10 | 11 →

Wenn man genauer hinsieht, stellt man allerdings fest, dass auch diese modernen Diskurse um die Privatakademien durch die Erfahrungen geprägt sind, die Korea und China in der Konfrontation mit der westlichen Moderne und dessen Imperialismus, sowie den sozialen und politischen Umbrüchen, die durch diese ausgelöst wurden, gemacht hatten. So wurden diese Diskurse um die Privatakademien stark durch die in der Gegenwart stattfindenden Neubewertungen des historischen Konfuzianismus und Neo-Konfuzianismus beeinflusst. Vonseiten der chinesischen Regierung wurde der Konfuzianismus lange Zeit mit dem feudalen und ausbeuterischen System des alten China gleichgestellt und deshalb abgelehnt. Das einzige im konfuzianischen Ordnungssystem enthaltene Element, das dabei nie vollkommen diskreditiert wurde, war die Betonung der Selbstkultivierung durch das Lernen und die damit einhergehende Bedeutung von Bildung für die Gesellschaft. Konfuzianische Privatakademien werden in der chinesischen Interpretation so als ein symbolisches Vehikel gedeutet, das diesen Aspekt des Konfuzianismus in die Gegenwart getragen hat. In Korea hingegen galten die Sŏwŏn lange Zeit als Inbegriff von Stagnation, Nepotismus und politischen Fraktionskämpfen, die das Land letztlich zu einer einfachen Beute des japanischen Imperialismus machten. Das wird in Nord- und Südkorea übrigens ganz ähnlich gesehen.

Der Name Sŏwŏn (chin. Shuyuan) bedeutet wörtlich übersetzt „Haus“ oder „Halle der Bücher“. In historischen Dokumenten taucht eine Institution mit dieser Bezeichnung zum ersten Mal in China im 8. Jahrhundert, also während der Tang-Dynastie, auf. Es handelte sich dabei um eine staatliche Behörde, die Bücher herstellte und aufbewahrte. In Korea wurde im 10. Jahrhundert eine Behörde (susŏwŏn) eingerichtet, die ebenfalls für die Herstellung und Aufbewahrung von Büchern verantwortlich war. Seither wurden sowohl in China als auch in Korea von privaten Personen Häuser errichtet, die die Bezeichnung Sŏwŏn trugen und der Lektüre von dort selbst aufbewahrten Texten und der Unterweisung von Schülern dienten. So wandelten sich die Akademien allmählich von rein archivarischen Institutionen zu Orten der Wissensvermittlung, die auch immer öfter staatliche Bildungs- und Zeremonialaufgaben übernahmen. In den am koreanischen Hof geführten Annalen, in denen wichtige politische und gesellschaftliche Ereignisse täglich festgehalten wurden, finden die Sŏwŏn im 14. und 15. Jahrhundert des Öfteren Erwähnung, d.h. schon vor Gründung der ersten ← 11 | 12 → konfuzianischen Privatakademie im Jahr 1543, die den Namen Paegundong Sŏwŏn trug. Diese wurde in Anlehnung an die 1180 entstandene chinesische Privatakademie Bailudong Shuyuan errichtet.

Ihre Größe war nach heutigen Maßstäben sehr bescheiden. Allerdings ist diesen Akademien ein hohes Maß an Komplexität und Reflexivität zuzuschreiben. Sie setzten einerseits eine bedeutend weiter zurückreichende Tradition lokaler staatlicher und privater Schulen fort, andererseits waren diese Sŏwŏn eng mit dem Wirken neo-konfuzianischer Gelehrter verbunden, für die sie sowohl eine lokale Basis als auch ein Instrument der Ausbreitung ihrer Lehre darstellten.

Die neo-konfuzianische Lehre bezeichnet eine in China seit dem 13. Jahrhundert dominante konfuzianische Lehre oder auch Schule, die sich selbst als tohak (chin. daoxue) bzw. „Lehre des [wahren] Weges“ definierte und in Korea in Anlehnung an ihre programmatische Fokussierung sŏngnihak (Lehre von [Mensch-]Natur und Prinzip) genannt wurde. Im heutigen China hingegen wird sie als Song-Ming lixue (Lehre des Prinzips während der Song- und Ming-Dynastien) bezeichnet. Die neo-konfuzianische, wie auch die konfuzianische, Lehre als konzeptuelles Ganzes wurde in der Vormoderne mit Ausnahme von Kontexten der Abgrenzung, etwa gegen den Buddhismus, eher zurückhaltend in Oberbegriffen gefasst.

Die heute in Ostasien wie im Westen üblichen Begriffe Konfuzianismus und Neo-Konfuzianismus sind ursprünglich westliche Prägungen und nicht immer vollständig deckungsgleich mit den vormodernen Konzeptualisierungen. Dennoch werden sie von diesen ausgehend gedacht und sind mit denselben oder sogar stärkeren Zuschreibungen von Stabilität und Kontinuität versehen, die im kolonialen Diskurs als Nachweis für die Stagnation Koreas und im national-historischen Diskurs gewissermaßen positiv gewendet als Erklärung für die Langlebigkeit der Chosŏn Dynastie dient.2

Lange Zeit bestimmten ausgesprochen negative Wahrnehmungen der konfuzianischen Akademien die koreanische Geschichtsschreibung. Diese wurden, oft noch unter dem Einfluss kolonialer japanischer Historiographie, als Hindernis für das Entstehen einer koreanischen Moderne verstanden ← 12 | 13 → und als private Villen einer dekadenten Oberschicht beschrieben.3 Erst mit der politischen Instrumentalisierung des Konfuzianismus unter Park Chung Hee entwickelte sich eine neue Sichtweise auf das Erbe der Sŏwŏn.4 Ihre Aktivitäten werden seitdem nicht mehr nur als eine auf den engsten Familienkreis bestimmter Clans beschränkte Institution gesehen, sondern als kulturelles Erbe des Landes öffentlich und offiziell gepflegt. Allerdings spielen in vielen Akademien Koreas auch heute noch private Familien eine wichtige Rolle. Zum Teil stellen sie sich selbst in die Tradition einzelner Akademien und führen deren Kulte und Rituale weiter. Dadurch werden die Akademien noch deutlicher als Symbol und Überbleibsel einer vergangenen koreanischen Gesellschaft und ihrer Werte wahrgenommen. Der Antrag Südkoreas bei der UNESCO ist auch vor diesem Hintergrund der Erfindung einer Tradition im Sinne nationaler Historisierungsversuche zu betrachten.

Dem hingegen lässt sich mittels der einseitigen Betonung der Rolle der Sŏwŏn als religiöse und kulturelle Einrichtung kein umfassendes Bild der Sŏwŏn als vormoderne Wissensinstitution gewinnen. Es steht aber außer Frage, dass innerhalb der Sŏwŏn verschiedene wissensbezogene Bereiche gebündelt und verschränkt wurden, Wissen also u.a. produziert, normiert, legitimiert, gesichert, weitergegeben und verbreitet wurde. Bei der Sŏwŏn handelt es also auch um eine Wissensinstitution.

2.  Sŏwŏn als vormoderne Wissensinstitution

Die frühen Sŏwŏn, mit denen wir uns in diesem Buch vorrangig befassen, wurden Mitte des 16. Jahrhunderts gegründet. Sie reihen sich in eine lange und mit verschiedenen Stabilitätszuschreibungen versehene konfuzianische Tradition ein, stellen aber im Hinblick auf ihre Konfiguration eine neue Qualität an institutioneller Eigenständigkeit dar. Sie folgten zwar insofern dem Grundmuster der staatlichen Schulen und Universitäten, als sie das Studium konfuzianischer Schriften mit konfuzianischen Kulten verknüpften, unterscheiden sich allerdings deutlich von diesen, durch die Formung einer akademischen Gemeinschaft, die die Staatsexamen zur Beamtenauswahl ← 13 | 14 → als das Hauptziel der Bildung grundsätzlich ablehnten oder zumindest infrage stellten. In ihrem Mittelpunkt stand ausschließlich das intellektuelle Bemühen um das Wissen der neo-konfuzianischen Lehre an sich und seine praktische Anwendung.

Konfuzianische Privatakademien lassen sich insofern als eine mit einem expliziten Geltungsanspruch versehene Institutionalisierung und Menge von Verkörperungen von Wissen beschreiben. Denn sie waren nicht nur Orte der Generierung, Weitergabe und Stabilisierung verschiedener Formen von Wissen, sondern auch Institutionen mit eigenständigen Ordnungen, die ihr eigenes Funktionieren wie auch ihr Verständnis und ihren Umgang mit Wissen regulierten und reflektierten. Sie waren als solche auch eine „gesellschaftliche Konstruktion“5, die sich in der Interaktion der Gelehrten seit dem 16. Jahrhundert in Chosŏn herausgebildet hat.

Die Geschwindigkeit der Verbreitung der Sŏwŏn in Korea war beeindruckend. Seit der Gründung der ersten konfuzianischen Privatakademie Paegundong Sŏwŏn 1543 wurden innerhalb eines Jahrhunderts über 165 weitere Sŏwŏn gegründet.6 In der bisherigen Forschung wurde dies häufig als gewichtiger Indikator entweder bei der Durchsetzung politischer Ansprüche lokaler neo-konfuzianischer Eliten7 bzw. der neo-konfuzianischen Lehre als solcher oder einer entsprechenden gesellschaftlichen Transformation jenseits von Hauptstadt, Bürokratie und Elite betrachtet.8 Hingegen sind der Prozess und die Formen der Etablierung und Verbreitung der Sŏwŏn als Wissensinstitution, die im Zentrum dieses Buches stehen, bisher kaum untersucht worden.9

Details

Seiten
194
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653063370
ISBN (ePUB)
9783653952995
ISBN (MOBI)
9783653952988
ISBN (Hardcover)
9783631670866
DOI
10.3726/978-3-653-06337-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Ostasien Wissenstransfer Institutionalisierung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 194 S., 10 s/w Abb., 5 Tab.

Biographische Angaben

Eun-Jeung Lee (Autor:in)

Eun-Jeung Lee ist Politologin und Lehrstuhlinhaberin am Institut für Koreastudien der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen interkulturelle politische Ideengeschichte, interkulturellen Wissenstransfer sowie Politik und Gesellschaft in Korea und Ostasien.

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