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Das betriebsverfassungsrechtliche Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb

von Peter Illes (Autor:in)
©2016 Dissertation 223 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor setzt sich grundlegend mit dem aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG folgenden betriebsverfassungsrechtlichen Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb auseinander. Dabei werden zunächst die dogmatischen Grundlagen erarbeitet, die für eine methodisch korrekte Auslegung des Verbots von Bedeutung sind. Neben der historischen Entwicklung und dem Normzweck wird insbesondere das Verhältnis des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG zu dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in den Blick genommen. Anschließend werden im Rahmen einer umfassenden Untersuchung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG nicht nur Inhalt und Reichweite des parteipolitischen Betätigungsverbots bestimmt, sondern darüber hinaus auch die möglichen Konsequenzen einer Verbotsverletzung systematisch dargestellt und bewertet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • § 1 Einleitung
  • I. Problemstellung
  • II. Ziel und Gang der Untersuchung
  • 1. Ziel der Untersuchung
  • 2. Gang der Untersuchung
  • 1. Teil: Allgemeine Grundlagen
  • § 2 Gesetzliche Regelung
  • I. Historische Entwicklung und Entstehungsgeschichte des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • 1. Bedeutung der geschichtlichen Betrachtung
  • 2. Zeit bis Ende des ersten Weltkrieges
  • 3. Entwicklung in der Weimarer Republik
  • 4. Entwicklung im Nationalsozialismus
  • 5. Neuanfang nach 1945
  • 6. § 51 S. 2 Betriebsverfassungsgesetz 1952
  • 7. § 74 Abs. 2 S. 3 Betriebsverfassungsgesetz 1972
  • II. Systematische Stellung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG in der Betriebsverfassung
  • 1. Gesetzessystematik
  • 2. Bewusste Entscheidung des Gesetzgebers
  • III. Sinn und Zweck des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • 1. Bedeutung des Normzwecks für die weitere Arbeit
  • 2. Schutz des Betriebsfriedens und des Arbeitsablaufs
  • 3. Schutz der Meinungs- und Wahlfreiheit der Arbeitnehmer des Betriebes
  • a) Rechtsprechung und herrschende Lehre
  • b) Gegenauffassung
  • c) Stellungnahme
  • aa) Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte
  • bb) Bestimmung des Normzwecks
  • cc) Gefährdung der Meinungsfreiheit der Arbeitnehmer des Betriebs
  • dd) Interessenabwägung
  • 4. Schutz des betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes
  • a) Das Verbot als Ausgestaltung und Sicherung des in § 75 Abs. 1 BetrVG enthaltenen Neutralitätsgrundsatzes
  • b) Stellungnahme
  • 5. Fehlende Kompetenz der betriebsverfassungsrechtlichen Organe
  • a) Kein politisches Mandat des Betriebsrats
  • b) Stellungnahme
  • aa) Begrenzung der Zuständigkeit des Betriebsrats auf Angelegenheiten mit unmittelbarem betrieblichen Bezug
  • bb) Die Zuständigkeitsbegrenzung als Folge der Zwangsverfasstheit
  • cc) Verfassungsrechtliche Notwendigkeit der Zuständigkeitsbegrenzung
  • dd) § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG als Regelung über die Art und Weise der Kompetenzausübung
  • 6. Wahrung der Chancengleichheit der politischen Parteien
  • 7. Zusammenfassung
  • § 3 Verhältnis des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG zu dem Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
  • I. Vorüberlegung: Spannungsverhältnis zwischen § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
  • II. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
  • 1. Bedeutung und sachlicher Schutzbereich
  • 2. Meinungsfreiheit des Arbeitgebers
  • 3. Meinungsfreiheit des Betriebsrats als Organ
  • a) Keine treuhänderische Wahrnehmung der Arbeitnehmergrundrechte
  • b) Grundrechtsfähigkeit des Betriebsrats
  • aa) Herrschende Lehre
  • bb) Kritik an der herrschenden Lehre
  • c) Kompetenzrechtliche „Meinungsfreiheit“ des Betriebsrats
  • 4. Meinungsfreiheit des einzelnen Betriebsratsmitglieds
  • a) Meinungsfreiheit als natürliche Person
  • b) Unterscheidung zwischen der Stellung als natürliche Person und der betriebsverfassungsrechtlichen Organstellung
  • aa) Notwendigkeit der Unterscheidung
  • bb) Schwierigkeit der Unterscheidung
  • cc) Abgrenzung im Einzelfall
  • III. Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • 1. Reichweite der Grundrechtsbeschränkung
  • 2. § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG als allgemeines Gesetz i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG
  • 3. Schranken-Schranken: Wechselwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts
  • a) Die Wechselwirkungslehre als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
  • b) Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit
  • c) Angemessenheit der Grundrechtsbeschränkung
  • aa) Abstrakte Güterabwägung
  • bb) Güterabwägung im Einzelfall
  • IV. Zusammenfassung
  • 2. Teil: Inhalt und Reichweite des Verbots parteipolitischer Betätigung im Betrieb
  • § 4 Persönlicher Anwendungsbereich
  • I. Verbotsadressaten
  • 1. Der Arbeitgeber
  • a) Der Arbeitgeberbegriff in § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • b) Vertreter des Arbeitgebers
  • 2. Der Betriebsrat
  • a) Der Betriebsrat als Gremium
  • b) Die Betriebsratsmitglieder im Rahmen ihrer Amtsausübung
  • 3. Der Gesamtbetriebsrat und seine Mitglieder
  • 4. Der Konzernbetriebsrat und seine Mitglieder
  • 5. Die Jugend- und Auszubildendenvertretung und ihre Mitglieder
  • a) Analoge Anwendung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG?
  • b) Stellungnahme
  • 6. Die Schwerbehindertenvertretung und ihre Mitglieder
  • 7. Der Wirtschaftsausschuss und seine Mitglieder
  • 8. Der Wahlvorstand und seine Mitglieder
  • II. Abgrenzung
  • 1. Die Arbeitnehmer des Betriebs
  • a) Keine Anwendbarkeit des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • b) Arbeitsvertragliche Grenzen politischer Betätigung im Betrieb
  • 2. Die Betriebsratsmitglieder außerhalb ihrer amtlichen Betätigung
  • a) Problemaufriss und Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • c) Kriterien für die Unterscheidung zwischen der amtlichen Eigenschaft des Betriebsratsmitglieds und der Eigenschaft als Arbeitnehmer des Betriebs
  • 3. Die Ersatzmitglieder des Betriebsrats
  • 4. Die Wahlbewerber
  • 5. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
  • 6. Die leitenden Angestellten des Arbeitgebers
  • 7. Die Gewerkschaften
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • III. Zusammenfassung
  • § 5 Sachlicher und räumlicher Anwendungsbereich
  • I. Vorüberlegung
  • 1. Rechtstatsächliche Ausgangslage
  • 2. Bestimmung des sachlichen und räumlichen Anwendungsbereichs
  • II. Parteipolitik
  • 1. Extensive Auslegung des Merkmals „parteipolitisch“
  • 2. Restriktive Auslegung des Merkmals „parteipolitisch“
  • a) Differenzierung zwischen Parteipolitik und allgemeiner Politik
  • b) Unterschiedliche Interpretation des Parteienbegriffs
  • 3. Einzelfallbetrachtung
  • 4. Stellungnahme
  • a) Notwendigkeit einer allgemeingültigen Definition des Begriffs Parteipolitik
  • b) Verbot allgemeinpolitischer Betätigung als Folge der begrenzten Zuständigkeit
  • c) Vorzüge einer restriktiven Auslegung
  • d) Der Parteienbegriff
  • 5. Beispiele für Parteipolitik
  • III. Betätigung
  • 1. Pflicht zum Einschreiten bei parteipolitischen Aktivitäten Dritter?
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • 2. Parteipolitische Meinungsäußerungen außerhalb der betrieblichen Öffentlichkeit
  • IV. Im Betrieb
  • 1. Räumliche Geltung des Verbots auf dem Betriebsgelände
  • 2. Betätigungen außerhalb des Betriebsgeländes
  • a) Betätigungen mit der Zielrichtung in den Betrieb hineinzuwirken
  • aa) Meinungsstand
  • bb) Stellungnahme
  • b) Sonstige Betätigungen außerhalb des Betriebsgeländes
  • aa) Verbot der Bezugnahme auf die betriebsverfassungsrechtliche Stellung?
  • bb) Stellungnahme
  • V. Absolutes oder relatives Verbot?
  • 1. Meinungsstand
  • 2. Stellungnahme
  • VI. Zusammenfassung
  • § 6 Angelegenheiten mit betrieblichem Bezug
  • I. Dogmatische Einordnung des § 74 Abs. 2 S. 3 HS. 2 BetrVG
  • 1. Überblick
  • 2. Zulässige Behandlung politischer Fragen i.R.d. Betriebsverfassung
  • 3. Verhältnis zu § 74 Abs. 2 S. 3 HS. 1 BetrVG
  • a) Ausnahme vom Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb
  • b) Geltung des Verbots auch innerhalb des Anwendungsbereichs von § 74 Abs. 2 S. 3 HS. 2 BetrVG
  • c) Stellungnahme
  • II. Begriffsbestimmung
  • 1. Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit
  • 2. Angelegenheiten tarifpolitischer Art
  • 3. Angelegenheiten sozialpolitischer Art
  • 4. Angelegenheiten umweltpolitischer Art
  • 5. Angelegenheiten wirtschaftlicher Art
  • 6. Sonstige Angelegenheiten mit unmittelbarem Betriebsbezug
  • III. Zusammenfassung
  • § 7 Verbot parteipolitischer Betätigung in der Betriebsversammlung
  • I. Funktion und Zuständigkeit der Betriebsversammlung
  • II. Regelung des § 45 S. 1 HS. 2 BetrVG
  • 1. Persönlicher Anwendungsbereich des Verbots in der Betriebsversammlung
  • a) Unmittelbare Geltung nur für Arbeitgeber und Betriebsrat
  • b) Unmittelbare Geltung für alle Teilnehmer
  • c) Stellungnahme
  • 2. Sachlicher und räumlicher Anwendungsbereich des Verbots in der Betriebsversammlung
  • a) Anwendung der Grundsätze des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • b) Auftritte von Politikern in der Betriebsversammlung
  • aa) Problemaufriss
  • bb) Grundsatz der Nichtöffentlichkeit der Betriebsversammlung
  • cc) Verbot parteipolitischer Betätigung
  • dd) Stellungnahme
  • 3. Abdingbarkeit des Verbots
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • III. Geltung des Verbots in sonstigen betrieblichen Versammlungen
  • 1. Gesetzlich vorgesehene Versammlungen
  • 2. Andere Belegschaftsversammlungen
  • IV. Zusammenfassung
  • 3. Teil: Durchsetzung des Verbots parteipolitischer Betätigung im Betrieb
  • § 8 Rechtliche Möglichkeiten gegen den Betriebsrat als Gremium
  • I. Unterlassungsanspruch
  • 1. Anspruch aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • a) Rechtsprechung
  • b) Schrifttum
  • c) Stellungnahme
  • 2. Ansprüche außerhalb des BetrVG
  • a) Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB
  • b) Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB
  • c) Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB
  • II. Feststellungsantrag
  • 1. Bedeutung des Feststellungsantrags
  • 2. Antragsbefugnis
  • 3. Feststellungsinteresse
  • III. Auflösungsantrag nach § 23 Abs. 1 S. 1 BetrVG
  • 1. Grobe Pflichtverletzung
  • 2. Berücksichtigung des Art. 5 Abs. 1 GG?
  • 3. Antragsbefugnis
  • 4. Schwierigkeiten in der Praxis
  • IV. Schadensersatz
  • V. Prozessuale Durchsetzung
  • VI. Selbsthilfe
  • VII. Zusammenfassung
  • § 9 Rechtliche Möglichkeiten gegen das einzelne Betriebsratsmitglied
  • I. Unterlassungsanspruch
  • 1. Anspruch aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • 2. Ansprüche außerhalb des BetrVG
  • II. Feststellungsantrag
  • III. Antrag auf Amtsenthebung nach § 23 Abs. 1 S. 1 BetrVG
  • 1. Grobe Pflichtverletzung
  • 2. Antragsbefugnis
  • IV. Individualvertragliche Sanktionen
  • 1. Abmahnung und außerordentliche Kündigung
  • 2. Gesteigerte Anforderungen an den wichtigen Grund i.S.v. §§ 15 Abs. 1 S. 1 KSchG, 626 Abs. 1 BGB
  • a) Rechtsprechung und herrschende Lehre
  • b) Stellungnahme
  • V. Schadensersatz
  • 1. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB
  • 2. Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • 3. Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB
  • VI. Prozessuale Durchsetzung
  • VII. Zusammenfassung
  • § 10 Rechtliche Möglichkeiten gegen den Arbeitgeber
  • I. Unterlassungsanspruch aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG
  • II. Feststellungsantrag
  • III. Zwangsverfahren nach § 23 Abs. 3 BetrVG
  • IV. Prozessuale Durchsetzung
  • V. Zusammenfassung
  • § 11 Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

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§ 1 Einleitung

I. Problemstellung

Schon immer war die Versuchung groß, allgemeine politische Themen in die betriebliche Arbeitswelt hineinzutragen. Zu diesem Schluss gelangt man unweigerlich, wenn man die zahlreichen Gerichtsentscheidungen betrachtet, die in den vergangenen Jahrzehnten im Zusammenhang mit politischen Meinungsäußerungen im Betrieb ergangen sind. Dabei mögen sich die Erscheinungsformen politischer Betätigung im Laufe der Zeit gewandelt haben, die Intension der Akteure aber blieb immer dieselbe. Stets ging es darum, eine aktuelle, in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Frage, auch im Betrieb zu thematisieren. Offensichtlich gilt hier die Devise, dass das, was die Menschen im Privaten bewegt, auch aus dem Arbeitsleben nicht gänzlich ferngehalten werden kann. Die Entscheidungen der Gerichte können insoweit als Spiegel der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte betrachtet werden. Besonders deutlich wird dieser Aspekt, wenn man beispielhaft zwei Entscheidungen des BAG gegenüberstellt, die zeitlich knapp 25 Jahre auseinanderliegen. Während das BAG in den 1980er Jahren1 – also mitten in der Zeit des kalten Krieges – über die Zulässigkeit der Verteilung von Flugblättern durch den Betriebsrat zur Frage der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland zu entscheiden hatte, ging es in einem Beschluss aus dem Jahr 20102 unter anderem um einen vom Betriebsrat am schwarzen Brett veröffentlichten, mit „Nein zum Krieg“ überschriebenen Aufruf gegen den Irakkrieg.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit der Betrieb für eine solche „Politisierung“ offen ist. Gilt der Arbeitsplatz im Betrieb als „politikfreie Zone“3, endet gar die Demokratie „am Werkstor“4? Oder ist der Betrieb ein Ort, an dem sich die allgemeine gesellschaftliche Debatte über politischen Themen frei und ungehindert entfalten darf?

Zumindest für den Bereich der Betriebsverfassung findet sich auf diese Frage eine –auf den ersten Blick – eindeutige Antwort. Nach § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG haben Arbeitgeber und Betriebsrat jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen. Zugleich stellt der zweite Halbsatz der Bestimmung klar, dass die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen, hierdurch nicht berührt wird. Erst bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Anwendung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG im Einzelfall zahlreiche offene Fragen und Probleme mit sich bringt. So trifft das Gesetz insbesondere keine Aussage darüber, ← 17 | 18 → was unter parteipolitischer Betätigung zu verstehen ist, sodass unklar bleibt, welche konkreten Verhaltensweisen untersagt sind. In der Folge ist seit jeher umstritten, ob § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG ein umfassendes, allgemeines Politikverbot begründet, oder ob das Gesetz vielmehr zwischen verbotener parteipolitischer Betätigung auf der einen und grundsätzlich erlaubter allgemeinpolitischer Betätigung auf der anderen Seite unterscheidet. Das BAG hat diese Frage jüngst in einer Entscheidung aus dem Jahr 20105 im letzteren Sinne beantwortet und ist damit von seiner bisherigen jahrzehntelangen Rechtsprechung abgerückt. Folgt man dieser Ansicht, so schließt sich die Frage an, ob der Betriebsrat im Rahmen seines Mandats als Zwangsrepräsentant der Belegschaft überhaupt uneingeschränkt zur Abgabe allgemeinpolitischer Stellungnahmen berechtigt sein kann.

Schwierigkeiten ergeben sich nicht nur bei der Bestimmung der sachlichen Reichweite des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG. Fraglich ist ferner, ob lediglich Arbeitgeber und Betriebsrat oder darüber hinaus auch weitere Personen und Gremien unter den Anwendungsbereich des Verbots fallen. Schließlich ist in jüngerer Vergangenheit zunehmend die Problematik der Durchsetzung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG in den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt. Unklar ist in diesem Zusammenhang unter anderem, ob das parteipolitische Betätigungsverbot einen Unterlassungsanspruch gegenüber den Verbotsadressaten begründet. Auch in diesem Punkt hat das BAG6 zuletzt seine langjährige Rechtsprechung aufgegeben.

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dem aus § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG folgendem betriebsverfassungsrechtlichen Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb auseinander. Sie beschränkt sich damit auf die durch das Kollektivarbeitsrecht gezogenen Grenzen politischer Meinungsäußerungen. Hiervon zu unterscheiden sind die arbeitsvertraglichen Grenzen, also die Frage nach der Zulässigkeit politischer Betätigungen im Arbeitsverhältnis.7 Dieser Themenbereich wird in der vorliegenden Arbeit nur überblicksweise behandelt, soweit es für das Verständnis des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG von Bedeutung ist.

II. Ziel und Gang der Untersuchung

1. Ziel der Untersuchung

Das Verbot parteipolitischer Betätigung blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück.8 Seit der erstmaligen gesetzlichen Normierung in § 51 S. 2 BetrVG 1952 ← 18 | 19 → besteht Streit über dessen Auslegung.9 Während des Gesetzgebungsverfahrens zum BetrVG 1972 war das Verbot Gegenstand heftiger politischer Kontroversen.10 Und auch nach der Verankerung in der bis heute nahezu unverändert geltenden Vorschrift des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG 1972 setzte sich die Diskussion über die Interpretation des Verbots fort.11 Dies führte dazu, dass § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG recht schnell zum Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung wurde. Dabei stammen die Entscheidungen, die das Verständnis des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG über lange Jahre prägten, aus den 1970er12 und 1980er13 Jahren. In dieser Zeit entstanden auch zwei Dissertationen zum parteipolitischen Betätigungsverbot.14 In den folgenden Jahren kehrte – zumindest was die Rechtsprechung betrifft – merklich Ruhe ein. Fast schien es so, als wären die Probleme im Umfeld des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG im Wesentlichen geklärt. Erst im Jahr 2010 hat das BAG in einer Grundsatzentscheidung zu § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG eine weitreichende Richtungsänderung vorgenommen und seine bisherige Rechtsprechung in weiten Teilen aufgegeben.15 Dies hat in der Literatur eine wahrlich beeindruckende Flut an Reaktionen und Stellungnahmen ausgelöst.16

Es sind nunmehr über 25 Jahre vergangen, seitdem das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen worden ist.17 Vor dem Hintergrund einer sich stetig fortentwickelnden Rechtslehre und Rechtswirklichkeit, vor allem aber aufgrund des grundsätzlichen Wandels in der Rechtsprechung, erscheint eine Neubearbeitung und Neubewertung der Thematik notwendig. Dies zu leisten, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Im Rahmen einer umfassenden Untersuchung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG sollen nicht ← 19 | 20 → nur Inhalt und Reichweite des parteipolitischen Betätigungsverbots bestimmt, sondern darüber hinaus auch die möglichen Konsequenzen einer Verbotsverletzung systematisch dargestellt und bewertet werden.

2. Gang der Untersuchung

In einem ersten Teil der Arbeit sollen zunächst die dogmatischen Grundlagen erarbeitet werden, die für eine methodisch korrekte Auslegung des parteipolitischen Betätigungsverbots von Bedeutung sind (§§ 2–3). Hierzu gehört zum einen die Untersuchung der historischen Entwicklung und der Entstehungsgeschichte des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG (§ 2 I). Zum anderen sollen der Normzweck (§ 2 II) sowie die systematische Stellung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG in der Betriebsverfassung (§ 2 III) ermittelt werden. Darüber hinaus muss das Spannungsverhältnis zwischen § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG und dem Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG näher beleuchtet werden (§ 3). In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Frage nachzugehen, ob und gegebenenfalls inwieweit sich das Verbot parteipolitischer Betätigung als Beschränkung der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit der Verbotsadressaten darstellt und welche Konsequenzen sich hieraus für die Auslegung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG ableiten lassen.

In einem zweiten Teil der Arbeit sollen Inhalt und Reichweite des Verbots parteipolitischer Betätigung in den Blick genommen werden (§ 4–7). Dabei kann auf die bereits im ersten Teil herausgearbeitet dogmatischen Grundlagen zurückgegriffen werden. Von Interesse ist zum einen der persönliche Anwendungsbereich des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG, also die Frage, welcher Adressatenkreis von dem Verbot erfasst wird (§ 4). Zum anderen soll der sachliche und räumliche Anwendungsbereich des Verbots bestimmt werden, was in erster Linie eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Begriffen „parteipolitisch“, „Betätigung“ und „im Betrieb“ erfordert (§ 5). Ferner ist danach zu fragen, welche Bedeutung der Bestimmung des § 74 Abs. 2 S. 3 HS. 2 BetrVG für das Verständnis des parteipolitischen Betätigungsverbots zukommt (§ 6). Schließlich sollen die Besonderheiten bei der in § 45 S. 1 HS. 2 BetrVG angeordneten Geltung des Verbots parteipolitischer Betätigung in der Betriebsversammlung analysiert werden (§ 7).

Der dritte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Durchsetzung des Verbots parteipolitischer Betätigung im Betrieb (§§ 8–10). Dabei sollen die unterschiedlichen rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten für den Fall einer Verbotsverletzung herausgearbeitet und bewertet werden. Die Untersuchung erfolgt jeweils getrennt für die wichtigsten Adressaten des parteipolitischen Betätigungsverbots, also den Betriebsrat als Gremium (§ 8), das einzelne Betriebsratsmitglied (§ 9) und den Arbeitgeber (§ 10).


1 BAG 12.06.1986 – 6 ABR 67/84, DB 1987, 1898.

2 BAG vom 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, NZA 2010, 1133 ff.

3 Vgl. den Beitrag von Berg in: FS Gnade, 215 (215).

4 So die überspitzte Formulierung in Buchner, ZfA 1982, 49 (49).

5 BAG 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, NZA 2010, 1133 (1336 f.).

6 BAG 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, NZA 2010, 1133 (1335 f.).

7 Vgl. hierzu z. B. Preis/Stoffels, RdA 1996, 210; Zielke, Politische Betätigung von Arbeitnehmern; Zum übergeordneten Themenkreis „arbeitsvertragliche Grenzen der Meinungsfreiheit“ vgl. z. B. Kissel, NZA 1988, 145 (149 ff.); Rieble/Wiebauer, ZfA 2010, 63 (78 ff.).

8 Zur historischen Entwicklung und Entstehungsgeschichte siehe unten: § 2 I.

9 Zu § 51 S. 2 BetrVG 1952 vgl. Behnes, Die politische Tätigkeit im Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung des öffentlichen Dienstverhältnisses.

10 Hierzu siehe unten: § 2 I 7.

11 Siehe z. B.: Glaubitz, BB 1972, 1277; Gnade, ArbRdGgw, Bd. 14 (1977), S. 59; Oetker, BlStSozArbR 1983, 321; Vollmer, Grenzen der politischen Betätigung im Betrieb, 1977.

12 BVerfG 28.04.1976 – 1 BvR 71/73, NJW 1976, 1627; BAG 13.09.1977 – 1 ABR 54/76, DB 1977, 2452; BAG 21.02.1978 – 1 ABR 54/76, DB 1978, 1547.

13 BAG 12.06.1986 – 6 ABR 67/84, DB 1987, 1898.

14 Hofmann, Das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb (1984); Rüttgers, Das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb (1979).

15 BAG 17.03.2010 – 7 ABR 95/08, NZA 2010, 1133 ff.

16 Vgl. u. a. Bauer/Willemsen, NZA 2010, 1089 ff.; Burger/Rein, NJW 2010, 3613 ff.; zu Dohna-Jaeger, ArbuR 2011, 428 ff.; Husemann, AP Nr. 12 zu § 74 BetrVG 1972; Ilbertz, ZBVR online 2010, Nr. 9, 13 ff; Reichold, RdA 2011, 58 ff.; Schöne, SAE 2011, 184 ff.; Ulrici, jurisPR-ArbR, 37/2010 Anm. 1; Wiebauer, BB 2010, 3091 ff.; Wortmann, ArbRB 2011, 212 ff.

17 Vgl. die Dissertation von Hoffmann, Das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb. Kurz vor Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschien die Dissertation von Husemann, Das Verbot der parteipolitischen Betätigung, Zur Auslegung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG. Diese beschränkt sich allerdings auf die Auslegung des Begriffs der Parteipolitik und beleuchtet somit lediglich einen eng umgrenzten Teilbereich des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG.

1. Teil:
Allgemeine Grundlagen

Details

Seiten
223
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653063325
ISBN (ePUB)
9783653953039
ISBN (MOBI)
9783653953022
ISBN (Hardcover)
9783631670811
DOI
10.3726/978-3-653-06332-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Betriebsverfassungsrecht Parteipolitische Betätigung Betriebsrat Arbeitgeber
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 223 S.

Biographische Angaben

Peter Illes (Autor:in)

Peter Illes studierte Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer führenden Wirtschaftskanzlei und arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.

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