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Geschlechterbilder im Vertreibungsdiskurs

Auseinandersetzungen in Literatur, Film und Theater nach 1945 in Deutschland und Polen

von Kirsten Möller (Autor:in)
©2016 Dissertation 360 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch widmet sich den Geschlechterbildern im Vertreibungsdiskurs nach 1945. Dafür analysiert die Autorin literarische, filmische und theatrale Auseinandersetzungen mit den historischen Ereignissen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung Deutscher und Polen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Zentrum steht die Frage nach den narrativen Strukturen, die das Erzählen von Heimatverlust und erneuter Beheimatung prägen. Die Autorin folgt dabei einer «gender-orientierten Erzähltextanalyse» in ihrer Einbettung in erinnerungskulturelle Zusammenhänge. Angesichts der transnationalen Dimension des Vertreibungsdiskurses überschreitet das Buch in Anlehnung an verflechtungsgeschichtliche Ansätze die Grenzen einer nationalen Erinnerungsgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Ein deutsch-polnisches Thema
  • „Die Stunde der Frauen“
  • Medien der Erinnerung
  • Struktur der Arbeit und zentrale Kategorien
  • Forschungsstand und Methode
  • 1. Heimatverlust und Geschlechterbilder
  • 1.1 Die historischen Ereignisse
  • 1.2 Flucht, Vertreibung, Umsiedlung
  • 1.3 Der deutsche Osten und die polnischen Kresy
  • 1.4 Heimat-Geschichte(n)
  • 1.5 Heimat und Nation
  • 1.6 Heimat und Identität
  • 1.7 Heimat und Geschlecht
  • 2. Ankunft und Integration nach 1945
  • 2.1 Liebe in der neuen Heimat
  • 2.1.1 Flüchtlinge und Vertriebene in der BRD
  • 2.1.2 Arno Schmidt und der Vertreibungskomplex
  • 2.1.3 Brand’s Haide (1951)
  • 2.1.4 „Drei Fahrräder müßten wir haben“ – eine Dreierbeziehung
  • 2.1.5 „Grün ist die Heide“
  • 2.2 Die emanzipierte Umsiedlerin
  • 2.2.1 Umsiedler und Umsiedlerinnen in der DDR
  • 2.2.2 Die Umsiedlerin – eine Figur in Literatur, Film und Theater
  • 2.2.3 Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961)
  • 2.2.4 Frauen und Männer im Sozialismus
  • 2.2.5 „Drama um eine Komödie“
  • 2.3 Der einsame Flüchtling
  • 2.3.1 Repatrianten in Polen
  • 2.3.2 Kazimierz Kutz und Schlesien
  • 2.3.3 Niemand ruft (1960)
  • 2.3.4 Bożek und die Frauen
  • 2.3.5 Kein Happy End
  • 3. Erinnerung und Wiederkehr nach 1989
  • 3.1 Von Opfern und Tätern
  • 3.2 Vom Ende des Kalten Kriegs bis zur Jahrtausendwende
  • 3.3 Die deutsch-polnische Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibungen nach 2000
  • 3.4 Ein deutsch-polnisches Liebespaar
  • 3.4.1 Transnationale Verflechtungen
  • 3.4.2 Günter Grass und der Vertreibungskomplex
  • 3.4.3 Unkenrufe (1992)
  • 3.4.4 „sein Nachtschatten und Echo“ – der Erzähler
  • 3.4.5 „Die Polin und der Deutsche!“ – Alexander & Alexandra
  • 3.4.6 Paarphantasien
  • 3.4.7 Indien und Danzig – Subhas Chandra Chatterjee und Erna Brakup
  • 3.4.8 „Zeit der Versöhnung“?
  • 3.5 Familiengeschichten
  • 3.5.1 Hans-Ulrich Treichel und der Vertreibungskomplex
  • Der Verlorene (1998) und Menschenflug (2005)
  • „Heimweh ohne Heimat“
  • „Vergangenheitsarthrose“ und „Geschichtsrheumatismus“
  • „Das Problem ist die Mutter.“
  • 3.5.2 Reinhard Jirgl und der Vertreibungskomplex
  • Die Unvollendeten (2003)
  • „Heimat auf paar m2 Fremde“
  • „So watt bringtse jlatt um.“
  • „!Mutter:?!“
  • 3.5.3 Olga Tokarczuk und der Vertreibungskomplex
  • Letzte Geschichten (2004)
  • „Ihr Zuhause ist der Weg“
  • „Der Körper hat ein Gedächtnis.“
  • „Es gibt keine Mütter und Töchter, Väter und Söhne“
  • 3.5.4 Transgenerationelle Tradierungen
  • 3.6 Im Diskursgeflecht mit René Pollesch
  • Ein polnischer Ethnologe, Florian Henckel von Donnersmarck und die Freifrau von Steinbach
  • Resümee
  • Dank
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Filme & Mitschnitte von Theaterstücken
  • Sekundärliteratur
  • Internetdokumente
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Ein deutsch-polnisches Thema

ROO: Aber in diesen Gebieten wohnen doch Menschen.
STA: Wohnten. Deutsche.
ROO: Was ist mit der Bevölkerung passiert? Es gab dort einige Millionen davon.
STA: Die Bevölkerung ist weggegangen.
ROO: Alle?
STA: Die Deutschen werden repatriiert.
ROO: Und die Polen? Die sind doch im Osten?
STA: Die Polen werden ebenfalls repatriiert.1

So sprechen die Figuren Roosevelt und Stalin in dem Theaterstück Transfer! über Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von Millionen Deutschen und Polen infolge des Zweiten Weltkriegs. Das Theaterstück, eine polnisch-deutsche Koproduktion in der Regie von Jan Klata, feierte am 18. November 2006 im Wrocławski Teatr Współczesny seine Uraufführung und am 18. Januar 2007 im Theater HAU Hebbel am Ufer in Berlin Deutschlandpremiere.2 Das Publikum beobachtete eine Konferenz der Alliierten, die sich erhöht auf einem Podest abspielte, und auf der ← 9 | 10 → deren Repräsentanten die Westverschiebung Polens beschlossen.3 Zugleich erzählen deutsche und polnische Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus ihrem Leben. Die Metaphorik scheint recht einfach: oben die Herren, unter ihnen das Volk. Diese räumliche Aufteilung suggeriert eine Trennung von verantwortlichen Politikern, verkörpert durch professionelle Schauspieler, und einfachen Menschen, die sich selbst spielen. Sie vereint Deutsche und Polen als Leidtragende der Entscheidungen der alliierten Siegermächte – eine problematische Konstruktion, die nur durch den unterschiedlichen Inhalt der Erzählungen aufgelöst wird. Das Theaterstück entstand vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Debatten um den Themenkomplex Flucht, Vertreibung und Umsiedlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Indem es deutsche und polnische Zeitzeugen gemeinsam auf die Bühne bringt, folgt es einem wissenschaftlichen, politischen und medialen Trend zu einer transnationalen Herangehensweise an die Thematik.

Einen wesentlichen Streitpunkt im westdeutsch-polnischen Verhältnis bis 1990 bildete die Anerkennung der sogenannten Oder-Neiße-Grenze, der infolge des Zweiten Weltkriegs neu geschaffenen deutsch-polnischen Grenze.4 Die Westverschiebung Polens bei Kriegsende als Ergebnis der Potsdamer Konferenz im August 1945 bedeutete den Heimatverlust für Millionen von Menschen. Im Görlitzer Abkommen regelten Polen und die DDR 1950 die Anerkennung der Grenze. Die BRD vertrat in ihrer Interpretation des Potsdamer Abkommens die Auffassung, dass eine endgültige Entscheidung über die Grenze erst mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrags durch Gesamtdeutschland getroffen ← 10 | 11 → würde.5 Erst die politische Wende in Polen und der DDR und das Ende des Kalten Kriegs brachten den endgültigen Durchbruch in den offiziellen deutsch-polnischen Beziehungen: 1990 besiegelten das vereinigte Deutschland und das unabhängige Polen vertraglich ihre Freundschaft – „Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen [wurden] als Mahnung und Herausforderung zur Fortsetzung friedlicher Beziehungen beider Völker bezeichnet“.6 Die Oder-Neiße-Grenze wurde endgültig und vorbehaltlos anerkannt. Anfang des 21. Jahrhunderts trübten die Konflikte der Vergangenheit erneut das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen: Die Zeit des Nationalsozialismus, die damit verbundenen deutschen Verbrechen und die Erfahrungen der Zivilbevölkerung spielten nach wie vor eine zentrale Rolle in den deutsch-polnischen Beziehungen. Dies wurde vor allem deutlich, als die Aktivitäten des Bundes der Vertriebenen, der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen und zuletzt der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in den Fokus des öffentlichen Interesses rückten. An der Kontroverse um einen Gedenkort in Berlin entzündete sich sowohl in Deutschland als auch in Polen eine hitzige Diskussion.

An diesen Ausführungen sollte ansatzweise deutlich geworden sein, welche Bedeutung der Themenkomplex für das deutsch-polnische Verhältnis hatte und hat. Dieser Aspekt begründet den deutsch-polnischen Zugang meiner Arbeit, der ← 11 | 12 → Vor- und Nachteile birgt: Die transnationale Perspektive, die in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend Einzug in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik gehalten hat, eröffnet neue Erkenntnismöglichkeiten.7 Zugleich beinhaltet sie aber die Gefahr einer Verschleierung historischer Unterschiede und Verantwortlichkeiten. Im Zentrum meiner Arbeit steht keine streng vergleichende Perspektive auf Auseinandersetzungen mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in Deutschland und Polen, sondern eine Verfolgung von Spuren eines Erinnerungsdiskurses8, der nationale Grenzen überschreitet beziehungsweise in der Vergangenheit auch gerade nicht überschritten hat.

„Die Stunde der Frauen“9

Im Sommer 1944 kehrt Lena Gräfin von Mahlenberg von Berlin in ihre ostpreußische Heimat zurück. Sie will sich mit ihrem todkranken Vater versöhnen. Zum Bruch war es gekommen, als sie Ostpreußen verließ, um in Berlin ihre uneheliche Tochter großzuziehen. Eigentlich sollte sie Heinrich Graf von Gernstorff heiraten, dem sie seit Langem versprochen war. Kaum daheim muss die Gräfin auf dem von den Kriegswirren erfassten elterlichen Gut Ordnung schaffen. Doch die verlorene Heimat ist nur für kurze Zeit wiedergewonnen.

Gleich zu Beginn des TV-Zweiteilers Die Flucht (2007) von Kai Wessel wird dem Fernsehpublikum die Einfühlung in die Hauptfigur Lena Gräfin von Mahlenberg (Maria Furtwängler) nahezu aufgezwungen: Es wird gezeigt, wie sich die ← 12 | 13 → blonde Gräfin in Berlin schweren Herzens von ihrer Tochter verabschiedet und sie widerwillig einer uniformierten Verantwortlichen der Kinderlandverschickung übergibt. Die Sympathie liegt sofort bei der Gräfin, die ihr Kind in die Obhut der nationalsozialistischen Behörden übergeben muss. Ohne viele Worte und mit den ersten Bildern wird die Gräfin als passive Gegnerin des Nationalsozialismus kenntlich und zugleich ein versöhnliches Angebot gemacht: Die Flucht erlaubt das Mitfühlen mit einer moralisch integeren Person, Täterschaft und Mitläufertum sind in das Reich der Nebenfiguren verbannt.10

Mit der Ausstrahlung von Die Flucht am 4. und 5. März 2007 zur besten Sendezeit erzielte die ARD einen herausragenden Quotenerfolg.11 Es folgten zahlreiche Wiederholungen. Die Weite der sommerlich grünen und der winterlich schneebedeckten ostpreußischen Landschaften im Zusammenspiel mit der heldenhaften, mütterlich sorgenden Gestalt der adeligen Protagonistin sprachen weite Teile des TV-Publikums an. Die Geschichte der Flucht aller Bewohner eines Gutshofs, Menschen aller gesellschaftlichen Klassen, von der Gräfin bis zum Kriegsgefangenen, vor den Grausamkeiten des Krieges und seinen Exekutiven, den Soldaten von Wehrmacht und SS sowie der Roten Armee, vereinte das Publikum in der Möglichkeit des Mitleidens mit der Zivilbevölkerung. Die nationalsozialistischen Verbrechen wurden nicht verschwiegen, den Bildern der Opfer deutscher Gewalttaten – vor allem Zwangsarbeiter – standen allerdings die Bilder traumatisierter deutscher Frauen und Kinder gegenüber.12 Die Annäherung ← 13 | 14 → zwischen der Gräfin und dem französischen Anführer der Zwangsarbeiter lieferte eine in die Zukunft weisende Versöhnungsgeschichte. Am Ende trennten sich zwar die Wege der Liebenden im sommerlichen Nachkriegsdeutschland, im Raum stand aber das Versprechen eines Wiedersehens.

An dem Film Die Flucht wird auf plakative Weise deutlich, dass Geschlechterbilder und Repräsentationen von Geschlechterbeziehungen in Erzählungen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung eine bedeutende Rolle spielen. Die bildliche Funktion der weiblichen Flüchtlinge und Vertriebenen gründet sich nicht zuletzt in geschichtswissenschaftlichen Äußerungen zur überproportionalen Präsenz von Frauen in den historischen Ereignissen. So konstatierte Michael Schwartz: „[D]ie frühen Flucht- und Vertreibungserfahrungen waren – durch kriegs- bzw. gefangenschaftsbedingte Abwesenheit wehrfähiger Männer – wesentlich Frauen, alten Männern, Jugendlichen und Kindern vorbehalten geblieben“.13 Die vermeintliche geschichtswissenschaftliche Fundierung der geschlechtsspezifischen Erzählungen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung kann – folgt man Anna Rutkas Annahmen zur Funktion von Geschlechterbildern in Erinnerungsdiskursen – „manipulatorische Inhalte“14 verdecken. Mein Interesse für Geschlechterbilder und Repräsentationen von Geschlechterbeziehungen im Vertreibungsdiskurs steht im Zusammenhang der Annahme, dass „die Erinnerung an den Nationalsozialismus maßgeblich über Geschlechterbilder strukturiert“15 wird.

Die Frauen in dem Film Die Flucht sind Opfer und Heldinnen, keine Täterinnen.16 Nur die Männer sind als Täter vorstellbar. Die Flucht ist so Teil eines Opferdiskurses, der in der Erinnerungskultur der 1950er Jahre wurzelt und ← 14 | 15 → Ende der 1990er Jahre erneute Popularität gewonnen hat.17 So schreibt Stephan Scholz:

Auch heute ist das weit verbreitete Bild von Frauen und Kindern im Rahmen der Erinnerung an die Vertreibung nicht nur eine Konsequenz historischer Tatsachen, sondern besitzt darüber hinaus geschichtspolitische Funktionen, unter denen die deutsche Opferstilisierung einen wichtigen Platz einnimmt.18

Neben den Geschlechterbildern, der Betonung des Opferstatus der Flüchtlinge und Vertriebenen im Bild der vergewaltigten Frauen einerseits und ihres Heldentums im Bild der Gräfin andererseits, erfüllen die im Film dargestellten Geschlechterverhältnisse eine wichtige Funktion: Mit der heterosexuellen Liebesbeziehung – zwischen der deutschen Gräfin und dem französischen Kriegsgefangenen – wird eine Aussöhnung zwischen den Völkern und eine Westbindung der BRD nachvollzogen.19 Auf den Zusammenhang von Geschlechterbildern und Opfernarrativen beziehungsweise Heldenerzählungen hat bereits Stephan Scholz mehrfach hingewiesen.20 Die Frage nach der Bedeutung der dargestellten Geschlechterbeziehungen ist bislang unbeantwortet geblieben und soll in meiner Arbeit im Zentrum stehen.

Medien der Erinnerung

„Warum erst jetzt?“21 – fragt der Icherzähler zu Beginn der Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter Grass, in deren Mittelpunkt die Erinnerung an die sowjetische Versenkung des mit deutschen Flüchtlingen voll besetzten KdF-Schiffs ← 15 | 16 → Wilhelm Gustloff im Januar 1945 steht. In der Novelle kommen die unterschiedlichen Sichtweisen dreier Generationen zusammen: Tulla Pokriefke flüchtete sich als Hochschwangere auf die Wilhelm Gustloff. In der Minute des Untergangs gebiert sie ihren Sohn Paul Pokriefke. Dieser ist mehr als 50 Jahre nach dem historischen Ereignis der Icherzähler der Novelle. Sein Sohn Konrad entwickelt eine eigene, höchst beunruhigende Herangehensweise an die Thematik.

Grass’ Novelle Im Krebsgang markierte gewissermaßen den Beginn der jüngsten Auseinandersetzung mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in Deutschland.22 Den deutschen Erinnerungsboom Anfang des 21. Jahrhunderts begleiteten deutsch-polnische Kontroversen, die sich an den Überlegungen zur Errichtung eines zentralen Gedenkorts entzündeten. Warum erst jetzt – so klangen vielfach die Kommentare, die das Auftauchen des Themenkomplexes aus den Untiefen der Vergangenheit begleiteten.23 Rasch war die Rede von einem Tabubruch – eine medienwirksame These, die allerdings einer genaueren Überprüfung nicht standhält.24

Die Erlebnisse und Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung wurden seit den historischen Ereignissen in schriftlichen und filmischen Werken sowie individuellen Erinnerungen verarbeitet – so stellt es auch Axel Dornemann in der Einleitung zu seiner Bibliographie Flucht und Vertreibung in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945 (2005) dar.25 Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit fand das Thema in der BRD vielfältigen literarischen Nachklang in so unterschiedlichen Texten wie Lise Gasts Eine Frau allein (1948), Ernst Wiecherts Roman Missa sine nomine (1950) oder So zärtlich war Suleyken (1955) von Siegfried Lenz. In äußerst populären Heimatfilmen wie Grün ist die Heide (1951) standen Flüchtlings- und Vertriebenenschicksale im Mittelpunkt, wurde ihre Ankunft und Integration in der neuen Heimat erzählt.26 Diese ← 16 | 17 → fiktionalen Auseinandersetzungen sind vor dem Hintergrund der allgemeinen Hochkonjunktur der Thematik in den 1950er Jahren zu betrachten. Anfang der 1960er Jahre richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmend auf die nationalsozialistischen Verbrechen. Doch literarische Auseinandersetzungen mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung erlangten schon in den 1970er und 1980er Jahren erneut Popularität; beispielsweise mit Unterhaltungsromanen wie Christine Brückners Poenichen-Trilogie.27

„In der öffentlichen Erinnerungskultur der SBZ/DDR spielte die Erinnerung an das Flucht- und Vertreibungsgeschehen keine Rolle, präziser: es durfte keine Rolle spielen“,28 konstatierte Björn Schaal. Organisierte Erinnerung – beispielsweise in Form von Interessenverbänden – unterband die Staatsmacht. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Thematik wurde aber vielfach geduldet:29 In Anna Seghers’ Erzählung Die Umsiedlerin (1953) sowie Heiner Müllers Komödie Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande (1961) steht die Integration in die sozialistische Gemeinschaft im Prozess der Bodenreform und Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft im Vordergrund. In den 1970er und 1980er Jahren steigerte sich in der DDR die Zuwendung zu dem Themenkomplex. Im Vordergrund stand jetzt nicht mehr nur die Integration in die sozialistische Gesellschaft, sondern auch die Erfahrung des Heimatverlusts. Christa Wolfs Kindheitsmuster (1977) ist als eines der wichtigsten Werke in diesem Zusammenhang zu nennen.

Obwohl die Rede von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der deutschen Bevölkerung über Jahrzehnte in der polnischen Öffentlichkeit tabuisiert schien, beschäftigte sich doch beispielsweise die Geschichtswissenschaft der ← 17 | 18 → Volksrepublik schon seit Kriegsende mit der Thematik, allerdings unter bestimmten Prämissen:30 Die sogenannten wiedergewonnenen Gebiete und ihr ‚urpolnischer‘ Charakter standen im Fokus des Interesses. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand eine Reihe von literarischen Texten, kulturpolitisch gefördert, um „die Integration dieser neuen Gebiete in den polnischen Staat legitimierend zu unterstützen“.31 Diese sind allerdings bis auf wenige Ausnahmen heute in Vergessenheit geraten.32 Der Themenkomplex spielte in einigen Filmen, so z. B. in Nikt nie woła (1960) von Kazimierz Kutz, eine Rolle. Viele Auseinandersetzungen in der polnischen Literatur bis 1989 sind in den Zusammenhang der Kresy-Literatur einzuordnen: Schriftsteller wie Czesław Miłosz widmeten sich in ihren Werken den einstmals polnischen Ostgebieten, oftmals ihren Heimatorten, wobei allerdings die Tradition der Kresy stärker im Vordergrund zu stehen scheint als der Heimatverlust und die Vertreibung aus diesen Gebieten an sich.33

Das Ende des Kalten Kriegs und des Sozialismus in Ost- und Mitteleuropa hatte entscheidenden Einfluss auf die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. In Bezug auf fiktionale Auseinandersetzungen in Deutschland nach 1989/90 kann zwischen wenigstens zwei Perspektiven unterschieden werden: Zum einen sind da die literarischen Auseinandersetzungen einer Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, darunter Günter Grass, Walter Kempowski, Christoph Hein, die zumindest als Kinder oder Jugendliche direkt oder indirekt Zeugen der historischen Ereignisse wurden und sich im Alter mit neuer Vehemenz diesen Erfahrungen zuwenden. Zum anderen fällt auf, dass sich um die Jahrtausendwende vermehrt auch nachgeborene Autorinnen und Autoren der Thematik widmen: So sei hier exemplarisch auf Jörg Bernig, Tanja Dückers, Hans-Ulrich Treichel und Reinhard Jirgl verwiesen.

Unter dem Eindruck der veränderten politischen Verhältnisse arbeiteten in den 1990er Jahren vermehrt junge polnische Historikerinnen und Historiker, ← 18 | 19 → Publizistinnen und Publizisten zu dem Themenkomplex Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Ein Motiv für die Beschäftigung mit den ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Ereignissen unter neuen Vorzeichen und mit zunehmender Intensität, so Claudia Kraft,

war ein zunehmendes Interesse für die historischen Traditionen der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Die kommunistische Diktion, dass Polen nach dem Zweiten Weltkrieg in „uralte polnische Gebiete“ zurückgekehrt sei, wurde nach 1989 wie viele andere Propagandafloskeln brüchig. Die polnischen Bewohner in den Westgebieten konnten, wenn sie sich mit offenen Augen umsahen, überall Spuren der alten Bewohner jener Territorien feststellen.34

Für die aus den ehemals polnischen Ostgebieten Vertriebenen war es erst nach dem politischen Umbruch möglich, öffentlich von den Gewalt- und Verlusterfahrungen zu sprechen. Schriftsteller der Nachkriegsgeneration wie Stefan Chwin, Paweł Huelle, Inga Iwasiów oder Olga Tokarczuk machten sich mit ihren Texten auf die Suche nach den Spuren der deutschen Vergangenheit in ihrer Heimat.

Es fällt auf, dass in der öffentlichen Wahrnehmung fiktionale Auseinandersetzungen – wie eben Filme wie Die Flucht oder literarische Texte wie Im Krebsgang – eine zentrale Rolle spielen. Die Schicksale der Flüchtlinge, Vertriebenen und Umsiedler wurden seit den historischen Ereignissen nur vereinzelt im Theater dargestellt: „Bühnendramen zum Thema gibt es kaum eine Handvoll“,35 konstatierte schon Louis Ferdinand Helbig in seiner umfassenden Untersuchung für den Zeitraum bis Ende der 1980er Jahre. Er verweist auf die seiner Einsicht nach „wichtigsten dramatischen Werke zum Thema ‚Flucht und Vertreibung‘“ – Heiner Müllers Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande und Klaus Pohls Das alte Land (1984). Theaterstücke wie Jan Klatas Transfer! oder René Polleschs L’affaire Martin! sind aktuelle Beispiele für die theatrale Auseinandersetzung mit der Thematik.

Struktur der Arbeit und zentrale Kategorien

Im Zentrum meiner Arbeit stehen literarische, filmische und theatrale Werke als Medien eines kollektiven Gedächtnisses,36 in denen die Ereignisse und Folgen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung erinnert werden. Dabei konzentriere ← 19 | 20 → ich mich vor allem auf die Nachkriegszeit bis Anfang der 1960er Jahre sowie auf die Zeit nach 1989/90. Die Frage nach den Kontinuitäten, Abweichungen und Umschreibungen zwischen der Erinnerungskultur der 1950er Jahre und der des beginnenden 21. Jahrhunderts in Bezug auf Flucht, Vertreibung und Umsiedlung haben auch Geesa Tuch und Alexandra Tacke gestellt.37 Ausgehend von der gegenwärtigen Verflechtung der Erinnerungskulturen nehme ich sowohl deutsch- als auch polnischsprachige Auseinandersetzungen in den Blick. Auswahlkriterium für mein Materialkorpus war darüber hinaus vor allem die Frage, ob Geschlechterbilder und insbesondere Repräsentationen von Geschlechterbeziehungen in den Werken eine Rolle spielen. Im Zentrum der ausgewählten Werke stehen Fragen von erneuter Beheimatung38 und Heimatlosigkeit, weniger von Heimatverlust und Erinnerung an die alte Heimat.

Das erste Kapitel ist eine Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff als zentralem Konzept meiner Arbeit. Dabei gehe ich davon aus, dass der Heimatbegriff keineswegs auf den deutschen Sprachraum beschränkt ist, sondern dass sich durchaus Äquivalente in anderen Sprachen – wenn auch mit anderen Bedeutungsnuancen – finden lassen. Am Beispiel des ‚deutschen Ostens‘ und der ‚polnischen Kresy‘ möchte ich zwei Heimatphantasien aufrufen, die den Zusammenhang von Heimat- und Nationenbegriff für den Vertreibungsdiskurs starkmachen. Im Laufe des Kapitels soll der Heimatbegriff dann aus unterschiedlichen Perspektiven und insbesondere in Relation zum Nationenbegriff einerseits und zum Identitätsbegriff andererseits in den Blick genommen werden. Ich fokussiere dabei auf das dem Heimatbegriff innewohnende geschlechtlich geprägte Narrativ, das Anknüpfungspunkte für Begrifflichkeiten wie Nation und Identität liefert und das als Folie für die folgenden Analysen von literarischen Texten, Filmen und Theaterstücken dienen soll.

Im Zentrum der anschließenden zwei Kapitel steht die mediale Erinnerungsgeschichte von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung nach 1945. Einleitend erfolgt jeweils ein Überblick zu den themenspezifischen zeitgenössischen Debatten, Diskursen und Ereignissen, die für die Auseinandersetzung mit den Texten, ← 20 | 21 → Filmen und Theaterstücken von Bedeutung sind. Diese Einführungen eröffnen den „Erinnerungsrahmen“,39 in dem die in den nachfolgenden Kapiteln analysierten Texte, Filme und Theaterstücke zu situieren sind. Die Diskurse, Debatten und Ereignisse haben Einfluss auf die in diesem Zeitraum entstandenen Texte, Filme und Theaterstücke, so wie diese auch Einfluss auf eben die Diskurse, Debatten und Ereignisse ausüben können.

Die Gliederung in zwei Analysekapitel folgt den für die Erinnerungsgeschichte von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung konstitutiven Zeitabschnitten, deren Beginn durch zeitgeschichtlich zentrale Zäsuren – 1945 und 1989 – markiert wird: In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand die Ankunft und Integration in BRD und DDR sowie in der Volksrepublik Polen im Vordergrund. Rainer Ohliger erläuterte, dass in der Bundesrepublik „das Thema vom Kriegsende bis in die sechziger Jahre hinein ein für die gesamte Gesellschaft bedeutendes war.“40 Im Laufe der 1960er Jahre sei es zunehmend als ein Thema der politischen Rechten definiert und in der öffentlichen Wahrnehmung von der Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen, vor allem dem Holocaust, abgelöst worden. In der Nachwendezeit rückte die Thematik erneut, allerdings unter anderen Vorzeichen in den Fokus der Öffentlichkeit.41

Das erste Analysekapitel (Kapitel 2) beschäftigt mit der literarischen, filmischen und theatralen Auseinandersetzung mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten, vor allem mit Blick auf die Ankunft in der neuen Heimat. Maren Röger hat die unterschiedlichen Herangehensweisen in BRD, DDR und Volksrepublik Polen auf den Punkt gebracht: „Während sich in der Bundesrepublik eine reichhaltige und widersprüchliche Gedenkkultur entwickelte, kam in der DDR und in Volkspolen die Zwangsaussiedlung der Deutschen nur sehr selektiv und in ideologisierter Form auf die Agenda.“42

In der BRD war die Ankunft in der Fremde, die zur neuen Heimat werden sollte, allgegenwärtiges Thema. Die fiktionalen Auseinandersetzungen reichten von literarischen Texten, die kaum rezipiert wurden, bis zu beim Publikum ← 21 | 22 → höchst erfolgreichen Heimatfilmen. In Arno Schmidts literarischen Texten aus den 1950er und frühen 1960er Jahren finden sich vielfach Darstellungen von Umsiedlerinnen und Flüchtlingsfrauen in ihren Beziehungen zu einem männlichen Icherzähler, oft einem ehemaligen Soldaten. Der Kurzroman Brand’s Haide (1951) erzählt von der schwierigen Ankunft in der neuen Heimat im Bild einer Dreierbeziehung – platziert den Icherzähler zwischen zwei Flüchtlingsfrauen. Mit seiner eigenwilligen Schreibweise positionierte sich Schmidt gegen leichte Konsumierbarkeit und Integration in den bundesrepublikanischen Nachkriegsalltag. Auch in dem Heimatfilm Grün ist die Heide (1951) wird die Ankunft im Bild einer Geschlechterbeziehung, allerdings einer konventionellen heterosexuellen Zweierbeziehung dargestellt. Ein Blick auf diesen Heimatfilm rundet die Auseinandersetzung mit dem Werk Schmidts als Beispiel für eine Form der erinnerungskulturellen Aufarbeitung in der BRD ab.

In der DDR waren die Zwangsmigrationen in der Öffentlichkeit in den 1950er bzw. frühen 1960er Jahren weit weniger präsent als in der BRD. In Literatur und Theater konnte das Thema aber unter bestimmten Prämissen aufgebracht werden. Die Umsiedlerin Anna Niet ist eine der Hauptfiguren in Heiner Müllers Theaterstück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961). Sie entscheidet sich letztlich gegen das Leben mit einem Mann und für eine selbstbestimmte Existenz als Neubäuerin. Meine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Theaterstück verdeutlicht, wie sich Müller einerseits im Sinne und andererseits entgegen herrschender Doktrinen zu der Thematik positionierte. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die Figur der Umsiedlerin in der DDR-Literatur, im Film und im Theater zu einem Symbol für den Aufbau des Sozialismus als neuer Heimat der Menschen avancierte.

Ähnlich wie in der DDR spielten in der polnischen Nachkriegsgesellschaft die Zwangsmigrationen, allerdings der polnischen und deutschen Bevölkerung, offiziell nur vor dem Hintergrund des Aufbaus des Sozialismus eine Rolle. Die Umstände und der genaue Ablauf der Ereignisse wurden verschwiegen. Von Interesse waren allenfalls die Ankunft der aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten vertriebenen Bevölkerung in den sogenannten wiedergewonnenen Gebieten, den neuen polnischen Nord- und Westgebieten, sowie die damit verbundenen Aufbauleistungen. Exemplarisch untersuche ich den Film Nikt nie woła (1960, Niemand ruft) von Kazimierz Kutz, in dem die Schwierigkeiten der Ankunft in der neuen Heimat im Bild der Beziehung zwischen einem ehemaligem Untergrundkämpfer und einer sogenannten Repatriantin aus den ehemals polnischen Ostgebieten erzählt werden. ← 22 | 23 →

Im zweiten Analysekapitel (Kapitel 3) beschäftige ich mich mit fiktionalen Auseinandersetzungen mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von 1989 bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts. Die Veränderungen der politischen Landkarte Europas um 1989 veranlassten sowohl polnisch- als auch deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sich aus neuer Perspektive dem Themenkomplex zuwenden. Aber nicht nur die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche, sondern auch die zunehmende Distanz zu den Ereignissen beförderten die erinnerungskulturelle Konjunktur der Thematik. Das Kapitel beginnt mit einer Analyse der Erzählung Unkenrufe (1992) von Günter Grass, in der der Vertreibungskomplex im Bild eines deutsch-polnischen Liebespaares als Thema der deutsch-polnischen Annäherung und Versöhnung dargestellt wird. Ein Blick auf die polnische Verfilmung der Erzählung rundet das Kapitel ab. Es folgt eine Interpretation von Texten von Hans-Ulrich Treichel, Reinhard Jirgl und Olga Tokarczuk, die sich der Thematik in Form von Familiengeschichten nähern: Sie setzen sich in ihren Werken mit einem Heimatverlust auseinander, den ihre Protagonistinnen und Protagonisten (und bezeichnenderweise auch die Autorinnen und Autoren selbst) nur vermittelt durch die Erzählungen und/oder (verschwiegenen) Erfahrungen ihrer Eltern erlebt haben. Drei thematische Konstanten dominieren die so unterschiedlichen Werke: die schwierigen Beziehungen der Hauptfiguren zu ihren Müttern, ihre Identitätssuche und das existenzielle Gefühl einer allumfassenden Heimatlosigkeit. Das Kapitel schließt ab mit einer Analyse des Theaterstücks L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie. Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance (2006) von René Pollesch, das die Frage nach der Bedeutung von Heimat und Geschlecht im Zeitalter von Globalisierung und doing gender aufwirft. Das Theaterstück setzt einen Schlusspunkt unter meine Betrachtungen, indem es eine Metaperspektive eröffnet. Es steht zwischen fiktionaler Auseinandersetzung und wissenschaftlicher Positionierung, eröffnet einen Rahmen für abschließende Überlegungen.

Den Heimatbegriff in seinen unterschiedlichen Aspekten betrachte ich als zentral für die Analyse fiktionaler Auseinandersetzungen mit den Ereignissen und Folgen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Er strukturiert und prägt in seiner gesamten Komplexität die Erzählungen von Heimatverlust und erneuter Beheimatung. Dabei gilt mir – im Anschluss an Jens Korfkamp – Heimat als eine „gesellschaftliche[…] Kategorie“,43 die weder als eine „quasi naturgegebene anthropologische Konstante eine vorpolitische Einheit darstellt […] [noch] sich ← 23 | 24 → ausschließlich durch einen strikt subjektiven Charakter auszeichnet.“44 Die Art und Weise der oft impliziten Bezugnahme der literarischen Texte, Filme und Theaterstücke auf den Heimatbegriff bzw. das ihm zugrunde liegende Konzept ist auf ihre Funktion und Intention hin zu prüfen. Eine besondere Herausforderung stellt das Zusammenbringen des Heimatdiskurses mit polnischsprachigen Auseinandersetzungen mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung dar: Auch wenn der Heimatbegriff nicht in jeder Hinsicht und mit all seinen Facetten zu übersetzen ist, möchte ich doch den Versuch wagen, ihn auch in die Analyse der polnischsprachigen Auseinandersetzungen einzubringen.

Die ursprüngliche Vielschichtigkeit des Heimatbegriffs lässt sich in verschiedene Bedeutungsspektren aufschlüsseln, die in der Vergangenheit unterschiedlich starke Ausprägung fanden: So hat der Begriff starke räumliche, zeitliche und soziale Komponenten. Die populäre Definition von Heimat als (verlorenem) Ort der Kindheit verweist auf eine wichtige Bedeutungsebene: Heimat gilt als Ort einer symbiotischen, unhinterfragten Verschmelzung zwischen Mensch und Umwelt wie im Dasein des Ungeborenen im Mutterleib oder in den frühen Kindheitsjahren. Heimat wird so im Bild der Mutter-Kind-Beziehung ausphantasiert. Gisela Ecker beschrieb dieses Phänomen als eine „ödipale Spur“,45 die sich durch den Heimatdiskurs zieht – Heimweh als Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib, als Verlangen nach einer unmöglichen Einheit, Identität. Christina von Braun verglich das „portative Vaterland des Judentums“ mit dem Heimatbegriff als „portatives Mutterland“: „Diese Heimat will nicht als ‚Text‘ wahrgenommen werden; sie will sich dem Unbewussten so einschreiben, dass die Buchstaben nicht mehr erkennbar sind.“46 Es handelt sich hier also um einen dem Unbewussten zugeordneten Begriff – das verweist zum einen auf seine schwere Greifbarkeit, zum anderen auf seine weiblichen Codierungen. Peter Blickle hat die geschlechtlichen Implikationen des Heimatbegriffs im Rekurs auf antike Mythen bestimmt.47 Nach Blickle wurde das traditionelle ödipale Heimatnarrativ nach 1990 um Varianten ergänzt. Heimat betrachte ich als einen Begriff ← 24 | 25 → und ein Konzept, für das ein von Geschlechterbildern und Repräsentationen von Geschlechterbeziehungen bestimmtes Narrativ von zentraler Bedeutung ist.

Welcher Begriff von Geschlecht steht hier im Hintergrund? Ich benutze das deutsche Wort Geschlecht als (inadäquates) Äquivalent zu dem englischen Begriff gender, der seine Wurzeln in US-amerikanischen Diskursen hat und seit den 1990er Jahren eine ausführliche Diskussion auch im deutschsprachigen Raum erlebte.48 Dabei steht die soziokulturelle Konstruktion von Geschlechtlichkeit im Mittelpunkt.49 Mit Inge Stephan verstehe ich gender und damit Geschlecht als eine Kategorie, die „nach dem Wert, der Funktion und den Konsequenzen von Differenzierungen, Polarisierungen und Hierarchisierungen in historischen, sozialen, politischen und kulturellen Kontexten“50 fragt. Der Blick auf die geschlechtlich geprägten Symbolisierungen im Heimatdiskurs kritisiert vermeintlich naturgegebene Tatsachen und politische Eindeutigkeiten.

Details

Seiten
360
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653063165
ISBN (ePUB)
9783653953152
ISBN (MOBI)
9783653953145
ISBN (Hardcover)
9783631670743
DOI
10.3726/978-3-653-06316-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Heimat Erinnerungskultur Flucht und Vertreibung Familiengeschichten
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 360 S.

Biographische Angaben

Kirsten Möller (Autor:in)

Kirsten Möller studierte Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft in Berlin und Poznań. Seit 2015 ist sie im Bereich Lektorat am Axel Springer-Stiftungslehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) tätig.

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Titel: Geschlechterbilder im Vertreibungsdiskurs
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