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Gegenwartsprosa im Literaturunterricht

Eine diskursanalytische Studie zur literaturdidaktischen Auswahlpraxis in den 1950er und 1970er Jahren

von Julia Heuer (Autor:in)
©2015 Dissertation 385 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch verfolgt ein zweigeteiltes Forschungsinteresse. Zum einen soll anhand literaturdidaktischer Fachzeitschriften rekonstruiert werden, welche jeweils zeitgenössischen Werke aus dem Bereich der Gegenwartsprosa von Literaturdidaktikerinnen und -didaktikern zwischen 1948 und 1959 sowie zwischen 1965 und 1975 für den Deutschunterricht ausgewählt werden. Die zweite Frage zielt auf die Präzisierung der im ersten Schritt gewonnenen Befunde: Welche Legitimationsmuster werden seitens der Fachdidaktik zur Begründung der Auswahl gewählt? Die Antworten hierauf können sowohl die Resonanz auf die jeweils zeitgenössische Literatur quantitativ nachweisen als auch die den Empfehlungsdiskurs konstituierenden rhetorischen Strategien offenlegen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung und Ziel der Studie
  • 1.2 Gegenwartsliteratur – literaturgeschichtliche Definitionsmöglichkeiten des Begriffs und seine Verwendung im Kontext der Studie
  • 1.3 Forschungstheoretische Voraussetzungen und methodische Vorgehensweise
  • 1.3.1 Kanon- und aufmerksamkeitstheoretische Problematisierungen
  • 1.3.2 Diskurs und Diskursanalyse bei Michel Foucault
  • 1.3.3 Akteurskonzepte in der historischen Diskursanalyse
  • 1.3.4 Methodik: Die Schritte der Diskursanalyse
  • 1.4 Das Quellenkorpus der analysierten Zeitschriftenaufsätze
  • 1.4.1 Der Untersuchungszeitraum 1948 bis 1959
  • 1.4.2 Der Untersuchungszeitraum 1965 bis 1975
  • 1.5 Aufbau der Arbeit
  • 2. Gegenwartsliteratur als Gegenstand des Literaturunterrichts vor
  • 2.1 Kaiserreich
  • 2.2 Weimarer Republik
  • 2.3 Nationalsozialismus
  • 2.3 Resümee
  • 3. Die Genese des literaturdidaktischen Feldes seit
  • 3.1 Die 1950er Jahre: Kontinuität und Wandel
  • 3.1.1 Die Forschungslage: Bestandsaufnahme und Neuansatz
  • 3.1.2 Die literaturdidaktischen Monographien
  • 3.1.3 Ansätze einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
  • 3.1.4 Die Debatte um Sagen und Märchen
  • 3.1.5 Krieg und Antisemitismus als Themen des Deutschunterrichts
  • 3.1.6 Zur Diskussion um neue Medien
  • 3.1.7 Die zeitgenössische Diskussion um das Lesebuch
  • 3.1.8 Resümee
  • 3.2 Die 1960er und 1970er Jahre: Theoretisierung, Politisierung und Empirie
  • 3.2.1 Strukturkundliche Ansätze
  • 3.2.2 Lernende und Lesewirklichkeit im Fokus der Literaturdidaktik
  • 3.2.3 Politisch-kritischer Deutschunterricht
  • 3.2.4 Rezeptionsästhetik und Empirie
  • 3.2.5 Resümee
  • 4. Zur Auswahlpraxis von Gegenwartsliteratur – Die zwischen 1948 und 1975 verwendeten Topoi
  • 4.1 Topoi, die sich am pädagogischen Fachdiskurs orientieren
  • 4.2 Topoi, die dem literaturdidaktischen Diskurs entstammen
  • 4.3 Topoi, die ihren Ursprung in gesamtgesellschaftlichen Normen und Diskursen haben
  • 4.4 Der „Qualitätstopos“ – orientiert am literaturwissenschaftlichen Fachdiskurs
  • 4.5 Der „Richtlinien-Topos“ – orientiert an bildungspolitischen Vorgaben
  • 4.6 Der „Thementopos“
  • 5. 1948 bis 1959. Die Theorie und Praxis der Auswahl von Gegenwartsprosa
  • 5.1 Der Stellenwert von Gegenwartsliteratur in der Literaturdidaktik
  • 5.2 Der Stellenwert von Gegenwartsliteratur in den Richtlinien und Lehrplänen für das Fach Deutsch
  • 5.3 Die Auswahl von Gegenwartsliteratur in literaturdidaktischen Zeitschriften
  • 5.3.1 Literatur der „Inneren Emigration“
  • 5.3.2 Hermann Hesse
  • 5.3.3 Thomas Mann
  • 5.3.4 Wolfgang Borchert und Heinrich Böll
  • 5.3.5 Gerd Gaiser
  • 5.4 Resümee
  • 6. 1965 bis 1975. Theorie und Praxis der Auswahl von Gegenwartsliteratur
  • 6.1 Der Stellenwert von Gegenwartsliteratur in der Literaturdidaktik
  • 6.2 Der Stellenwert von Gegenwartsliteratur in Richtlinien und Lehrplänen für das Fach Deutsch
  • 6.3 Die Auswahl von Gegenwartsliteratur in literaturdidaktischen Zeitschriften
  • 6.3.1 Günter Grass
  • 6.3.2 Uwe Johnson
  • 6.3.3 Christa Wolf
  • 6.3.4 Max Frisch
  • 6.3.5 Friedrich Dürrenmatt
  • 6.3.6 Jerome D. Salinger
  • 6.3.7 Triviales: Jerry Cotton
  • 6.4 Resümee
  • 7. Diskursanalytisches Resümee: Die literaturdidaktische Auswahlpraxis deutschsprachiger Gegenwartsprosa in der Mitte des 20. Jahrhunderts
  • 8. Zur Auswahlpraxis von Gegenwartsprosa für den Deutschunterricht nach der Jahrtausendwende – ein Ausblick
  • 9. Literaturverzeichnis
  • 9.1. Fiktionale Literatur
  • 9.2. Historische Quellentexte
  • 9.2.1 Korpustexte
  • 9.2.2 Weitere Quellentexte
  • 9.3 Forschungsliteratur
  • Danksagung

← 10 | 11 →1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Ziel der Studie

Poesie der Gegenwart im strengsten Sinn des Worts darf nie ein Gegenstand des Schulunterrichts werden. (von Raumer [1852] 1897, 132)

Diese Forderung ist der literaturpädagogischen Schrift Der Unterricht im Deutschen Rudolf von Raumers, in erster Auflage 1852 veröffentlicht, entnommen. Die Schule habe „als Bewahrerin der sich ansammelnden Schätze einzutreten und sie dem neuen Geschlecht zu überliefern und zu vermitteln“ (von Raumer [1852] 1897, 132). Für fast ein Jahrhundert entsprach der Deutschunterricht der höheren Schule dieser Forderung und blieb den Aufgaben der Kanonisierung und Tradierung treu, wenngleich sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert erste Stimmen meldeten, die diese Praxis infrage stellten. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen Debatten über die Einbeziehung zeitgenössischer Texte in den Literaturunterricht und die Auswahl geeigneter Werke jedoch einen festen Platz im literaturdidaktischen Fachdiskurs ein. Seither hat es sich die Literaturdidaktik in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen literarischer Produktion und Rezeption zur Aufgabe gemacht, Lehrerinnen und Lehrer mit dem literarischen Leben der Gegenwart bekannt zu machen.

Systematisch untersucht wurde die literaturdidaktische Auseinandersetzung mit der jeweils jüngeren und jüngsten literarischen Produktion der (jeweiligen) Gegenwart bisher nicht. Das von Jan Standke formulierte Desiderat, die Geschichte des Verhältnisses von Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur sei eine bisher „ungeschriebene“ (Standke 2014, 19), lässt sich daher ohne Weiteres auf die Historiographie der Literaturdidaktik übertragen. Die vorliegende Studie widmet sich daher einem zweigeteilten Forschungsinteresse, wobei beide Fragekomplexe unmittelbar miteinander verknüpft sind. Zum einen soll anhand eines umfangreichen Quellenkorpus rekonstruiert werden, welche jeweils zeitgenössischen Werke aus dem Bereich der Gegenwartsprosa in der Mitte des 20. Jahrhunderts von Literaturdidaktikern und Literaturdidaktikerinnen für den Deutschunterricht ausgewählt wurden. Der zweite Fragekomplex zielt auf die Begründung der im ersten Analyseschritt gewonnenen Befunde: Warum wurden bestimmte Werke ausgewählt? Diese Fragestellung bedarf jedoch einer sofortigen Präzisierung, denn die tatsächlichen Beweggründe eines Didaktikers/einer Didaktikerin für die Auswahl eines bestimmten Textes in der Vergangenheit lassen sich aus heutiger Warte nicht rekonstruieren. Es lässt sich nicht ← 11 | 12 →ermitteln, aus welchen persönlichen Motiven jemand beispielsweise im Jahr 1955 Stefan Andres’ Wir sind Utopia in einem literaturdidaktischen Aufsatz für die Zeitschrift Der Deutschunterricht interpretiert und für die Unterrichtspraxis aufgearbeitet hat – wir hätten ihn/sie seinerzeit befragen müssen. Möglich ist es jedoch, die an die Auswahl geknüpften rhetorischen Begründungsmuster dieses Didaktikers/dieser Didaktikerin zu untersuchen, um die dem Diskurs eigenen, oder besser: die den Diskurs konstituierenden rhetorischen Strategien in Fragen der Gegenwartsprosa offen zu legen. Aus diesem Grund wurde eine diskursanalytische Forschungsperspektive gewählt, deren Zentrum die Untersuchung literaturdidaktischer Legitimationstopoi bildet. Dieser methodische Zugriff ermöglicht einen äußerst differenzierten Zugriff auf den fraglichen Empfehlungsdiskurs und dessen Verschränkungen mit seinen Nachbardiskursen, wozu in diesem Falle primär der pädagogische, der literaturwissenschaftliche sowie der bildungspolitische zu zählen sind. In diachronen Längsschnittvergleichen lassen sich auf diese Weise Momente diskursiven Wandels erfassen und untersuchen, die etwa durch das Verschwinden einzelner Topoi zutage treten.

Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands auf Empfehlungen von Prosatexten resultiert aus der außerordentlichen Bedeutung dieser literarischen Gattung für den Deutschunterricht in dem fraglichen Untersuchungszeitraum. Hinzu kommen die problematischen Status zeitgenössischer dramatischer wie lyrischer Texte innerhalb des literaturdidaktischen Diskurses, deren (Ursachen-)Analyse einer eigenen Studie bedürfte. Eine zweite Begrenzung betrifft die Konzentration auf Quellen aus der Bundesrepublik Deutschland (beziehungsweise aus den westlichen Besatzungszonen). Dieses Vorgehen ist der theoretisch-methodischen Ausrichtung der Untersuchung geschuldet, welche auf die Analyse eines geschlossenen Diskursstrangs im diachronen Längsschnittvergleich abzielt und daher auf einen Quellenkorpus mit einheitlicher politischer Ausrichtung angewiesen ist. Ein Vergleich der auf diese Weise gewonnen Ergebnisse mit solchen für die Deutsche Demokratische Republik (beziehungsweise für die sowjetische Besatzungszone) wäre indessen zweifellos aufschlussreich.

Die vorliegende Studie verbindet Interessen der literarischen Kanonforschung mit Forschungsansätzen der Wissenschaftsgeschichte, indem sie versucht, Momente des Kanonwandels mithilfe der historisch-wissenssoziologischen Diskursanalyse zu beschreiben. Ausgehend von der These, dass endgültige Antworten auf die Frage nach den Gründen der Auswahl und Kanonisierung eines Textes in der Retrospektive nur sehr schwer zu formulieren sind, kann die Toposanalyse valide Ergebnisse darüber liefern, welchen Regeln die Diskursakteure zu einem bestimmten Zeitpunkt zu folgen hatten und wann sich diese veränderten. Die Offenlegung der rhetorischen Strategien von Literaturdidaktikerinnen und ← 12 | 13 →-didaktikern eröffnet zudem die Möglichkeit einer Fachgeschichtsschreibung, die nicht auf die Beurteilung von Handlungen und Ereignissen abzielt, sondern auf „die Frage nach der Form und dem Verfahren“ (Landwehr 2004, 173). Es ist selbstverständlich, dass eine solche Verfahrensweise ausdrücklich deskriptiv1 vorzugehen hat, der Topos-Begriff in dieser Studie also an keiner Stelle pejorativ verwendet wird. Die Bedeutung dieses differenzierenden Zugriffs auf die Strukturen wissenschaftlicher Argumentation liegt indessen vor allem in seinem Potenzial für die kritische Selbstreflexion des Faches. Mit seiner Hilfe lässt sich die Historizität didaktischer Zugriffe auf Literatur aufzeigen und hinterfragen: „Diese Analysearbeit, die historische und forschungspraktische Selbstverständlichkeiten zur Disposition stellt, impliziert eine dauerhafte Haltung der Kritik gegenüber aktuellen Formen des Wissens, der Wahrheit, des Handelns und Sprechens.“ (Ebd., 172)

Für die Untersuchung wurden mit den Jahren 1948 bis 1959 sowie 1965 bis 1975 zwei in etwa gleich lange Untersuchungszeiträume gewählt. Beide umfassen einen im Folgenden näher zu beschreibenden (gesellschafts-)politischen Umbruch unterschiedlicher Qualität und Tragweite. Es ist zu betonen, dass für die Bestimmung der Zeiträume nicht lediglich auf historischen Zäsuren2 wie die Niederlage des nationalsozialistischen Regimes 1945 bzw. auf das gesellschaftlich bedeutsame „Protestjahr 1968“ Bezug genommen wurde, sondern auf deren Auswirkungen hinsichtlich des literaturdidaktischen Diskurses. Der naturgemäß engen Anbindung der Literaturdidaktik an gesellschaftspolitische Entwicklungen ist die Tatsache geschuldet, dass sich solche Umbrüche dort widerspiegeln – auch und insbesondere was die Diskussion der Integration von Gegenwartsliteratur in den Deutschunterricht betrifft. Dass es in zeitgeschichtlichen Phasen des Wandels immer auch zu Revisionsmomenten (schulischer) Literaturkanones kommt und vor diesem Hintergrund der jeweils zeitgenössischen Literatur ein gehobener Stellenwert zugesprochen wird, ist auf die veränderte Anschlussfähigkeit der literarischen Gegenstände „an politische, gesellschaftliche und kulturelle Diskurse“ (Korte 2008, 17), d. h. auf Veränderungen ihrer ← 13 | 14 →„Resonanzkonstellationen“ (ebd.) zurückzuführen. Denn: „Kultureller Umbruch und Kanondebatte sind ‚ewige‘ Komplementärbestände.“ (Gendolla/Zelle 2000, 9) Die Untersuchung dieser „Bruchstellen und Erosionen“ (Korte 1998, 19), wie sie am Beispiel der genannten zwei Untersuchungszeiträume, bezogen auf die diskursive Verhandlung von Gegenwartsprosa, seitens der Literaturdidaktik durchgeführt werden soll, ermöglicht „Einblicke in Vorgänge des Wertens, in den Aufbau und den Wandel literarischen und kulturellen Wissens, in die Bedingungen der Möglichkeit literarischer Kommunikation, in kollektive Erinnerungs- und Selbstdarstellungsrituale“ (ebd.).

Die Eingrenzung der beiden Untersuchungszeiträume lässt sich wie folgt begründen: Der erste Untersuchungszeitraum (1948 bis 1959) umfasst das erste Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik; dass er bereits ein Jahr vorher einsetzt, ist der Datierung des ältesten zu analysierenden Zeitschriftenaufsatzes geschuldet. Auf die „weltgeschichtliche Zäsur“ (Winkler 2005, 116) 1945 folgten in Deutschland die „janusköpfigen 50er Jahre“ (Bollenbeck 2000). Dieses Wechselverhältnis von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, wie es Georg Bollenbeck aus kulturwissenschaftlicher und Axel Schildt (vgl. Schildt 1995, 2002) aus historiographischer Perspektive beschrieben haben, lässt sich ohne Weiteres auf die Entwicklungen innerhalb der Literaturdidaktik übertragen. Kennzeichnend für den damaligen literaturdidaktischen Fachdiskurs ist ein Nebeneinander sich bisweilen widersprechender reformpädagogischer Traditionslinien der Weimarer Republik sowie Modernisierungstendenzen wie der Integration neuer Medienformate, beispielweise des Hörspiels, in den Deutschunterricht. Die wichtigste Veränderung markiert jedoch der Bruch mit den nationalen Bildungszielen des Faches, die ihm seinen Stellenwert im Fächerkanon einst ermöglicht hatten. Doch als im Laufe des Jahres 1945 viele Schulen in Deutschland wiedereröffneten, konnte der Literaturunterricht seine Daseinsberechtigung nicht mehr aus der Notwendigkeit nationaler Bildung ableiten – diese hatte ihre Funktion im Moment der Kriegsniederlage verloren. Ersetzt wurden die einst politischen Ziele des Literaturunterrichts durch pädagogische; fortan sollte er primär der Persönlichkeitsbildung dienen. Was die Frage der Unterrichtslektüren betrifft, so lässt sich für die späten 1940er und frühen ’50er Jahre eine Renaissance der Klassiker konstatieren,3 desweiteren konzentrierten sich die später scharf kritisierten Lesebücher auf Themen wie Natur, Familie und dörfliches Leben, wobei sie sich ← 14 | 15 →stark an den Lesebuchinhalten der Weimarer Republik orientierten.4 Diese eher restaurative Ausrichtung traf jedoch nicht auf alle Lesebücher zu5 und bedeutete zudem keinesfalls den Ausschluss von Gegenwartsliteratur. Im Gegenteil: Wie zu zeigen sein wird, herrschte nach 1945 weitgehende Einigkeit darüber, zeitgenössische Texte in den Deutschunterricht zu integrieren. Die Tatsache, dass bestimmte Werke und Autoren wie selbstverständlich von dieser Forderung ausgeschlossen wurden, steht allerdings außer Zweifel und berührt eine wichtige Frage der vorliegenden Studie, auf die in Kapitel 5 ausführlich geantwortet werden soll.

Der zweite Untersuchungszeitraum bezieht sich weniger auf eine (welt-)politische Zäsur als auf eine Phase gesamtgesellschaftlicher Modernisierung. Im Zentrum dieses Zeitraums steht die linksgerichtete 1968er-Bewegung, deren Überzeugungen und Folgen auch im Bereich der Literaturdidaktik nicht zu übersehen sind. Diskursbestimmend wurden in dieser Zeit die Vertreter des „Kritischen Deutschunterrichts“, der im Zeichen der Kritischen Theorie „die hinter didaktischen Modellen und Konzepten stehende[n] wirtschaftliche[n] und politische[n] Interessen freizulegen trachtete“ (Müller-Michaels 2010, 45), um zu einer Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen. Das Ziel des Deutschunterrichts bestand zudem darin, bei den „jungen Menschen […] einen Prozeß der Selbstaufklärung in Gang [zu] setzen“ (Bürger 1970, 29) und ihnen „durch das Medium der Beschäftigung mit Sprache und Literatur zu helfen, sich selbst im Handlungszusammenhang gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse zu verstehen“ (Ivo 1969, 5). Zu beträchtlichen, wenn auch nicht anhaltenden Veränderungen kam es demzufolge auch auf Ebene der Unterrichtsgegenstände, wobei die Erweiterung des Literaturbegriffs deren Auswahl maßgeblich beeinflusste. Zum ersten Mal fanden Gebrauchstexte und Trivialliteratur in größerem Umfang im Unterricht Berücksichtigung, die Legitimität klassischer Literatur wurde bisweilen bestritten oder zumindest diskutiert.6 Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht zu behandeln, galt vor dem Hintergrund dieser Diskussion zweifellos als eine Notwendigkeit, wie in Kapitel 6 genauer zu zeigen sein wird.

← 15 | 16 →1.2 Gegenwartsliteratur – literaturgeschichtliche Definitionsmöglichkeiten des Begriffs und seine Verwendung im Kontext der Studie

„Definitorisch ist die ‚Gegenwartsliteratur‘ nur schwer in den Griff zu bekommen“ (Kammler/Surmann 2000, 92). Der Grund hierfür liegt in der Natur der Sache und manifestiert sich in der Frage, „wie weit die diachrone Dimension von Gegenwart zu nehmen ist“ (Kämper-van den Boogaart 2004, 251). Nicht unzutreffend hat Jürgen Egyptien zu dieser Problematik angemerkt, dass es Gegenwart streng genommen „nur für unser Erleben, nur im Jetzt“ und Gegenwartsliteratur daher auch „nur in den Weisen des Erlebens des Schreibens und des Erlebens des Lesens (und Hörens)“ (beide Zitate Egyptien 2006, 11) gibt. Daher ist Paul Brodowsky und Thomas Klupp zuzustimmen, wenn sie den Begriff „Gegenwartsliteratur“ als dichotom kennzeichnen: „Gegenwart als infinitesimale Zeitspanne, als flüchtiger Moment steht in einem Spannungsverhältnis zu der relativen Konstanz, der Fixiertheit von Literatur.“ (Brodowsky/Klupp 2010, 8f.) Um ihrer ordnenden Funktion nachkommen zu können, ist die Literaturgeschichtsschreibung dennoch auf Möglichkeiten der Abgrenzung und Periodisierung, auf „Markierung[en] in der Zeit“ (Steinwachs 1985, 315) angewiesen. Hierzu bedient sie sich (zurzeit) mit den Jahren 1945, 1968 sowie 1989 dreier zeitgeschichtlicher Zäsuren, die im Folgenden anhand exemplarischer Beispiele aus der Literaturgeschichtsschreibung zu erläutern sind7, wobei auch Beachtung finden soll, welches Verständnis von Gegenwartsliteratur momentan in der Literaturdidaktik vorherrschend ist. Gemeinsam ist den drei genannten Daten der Umstand, dass sie keine literar-ästhetischen Entwicklungen, sondern politische bzw. gesellschaftliche Umbruchsituationen markieren. Der Epochenbegriff wird hier also in seiner ursprünglichen Bedeutung – das griechische Wort „epochē“ meint so viel wie „Halte-“ oder „Zeitpunkt“ – gebraucht (vgl. Steinwachs 1985, 313). Was diese Verwendungsweise nicht leisten kann, ist die Beschreibung einer literarischen Epochenspezifik im Sinne der Zusammenfassung einer Menge von Texten, die für einen bestimmten Zeitraum eine Reihe von Gemeinsamkeiten ← 16 | 17 →aufweisen und deren Unterschiede untereinander geringer sind als im Vergleich zu Texten eines anderen Zeitraums (vgl. Eke 2012, 13).

Eine fraglos bedeutende Referenz für die Eingrenzung von Gegenwartsliteratur auf nach 1945 erschienene Werke liegt mit dem Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vor, 1978 begründet von Heinz Ludwig Arnold, seit 2012 herausgegeben von Hermann Korte. In einer neueren Vorbemerkung zu dem Nachschlagewerk legt sich Arnold jedoch nicht auf eine rigide Zeitmarkierung fest, sondern erläutert, dass es sich bei Gegenwartsliteratur um diejenige Literatur handele, „die für einen Großteil des heute lebenden Lesepublikums ‚gegenwärtig‘“ (Arnold 2002, o.S.) sei.8 Ebenfalls flexibel verfährt das Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. Hier erfolgt die Auswahl

[…] innerhalb eines zeitlichen Rahmens, dessen Horizont sich verschiebt. Mit zunehmender Entfernung vom Jahr 1945, welches Anfang der 1980er Jahre noch unangefochten als die Schwelle der Gegenwart gelten konnte, erscheint es erforderlich, den zeitlichen Fokus nach vorne zu verlegen. Das Jahr 1989 z. B. hat in zahlreichen Regionen der Welt mittlerweile ebenfalls die Bedeutung der Epochenschwelle angenommen, was die Relevanz des Datums 1945 zum Teil relativiert. (KLfG 2002, 1)

Auch Ralf Schnells Geschichte der deutschsprachigen Literatur setzt im Jahr 1945 ein. Zur Begründung heißt es im Vorwort: „Kein anderes Datum bis 1989 – dies gilt für Deutschland ebenso wie für Österreich und die Schweiz – bildete eine vergleichbar einschneidende Zäsur in der neueren Geschichte.“ (Schnell 2003, x) Alles, was seither geschehen ist, fände seinen Fluchtpunkt dort (ebd.). Thomas Antz wandte jedoch bereits Mitte der 1990er Jahre ein, dass mittlerweile manches dafür spräche, „die Datierungsgrenze auf das Jahr 1968 vorzurücken“ (Anz 1996, 705). Eben dieser Datierung folgt der 1992 in der Reihe Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart erschienene Band Gegenwartsliteratur seit 1968, herausgegeben von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. Diese möchten mit ihrer jüngeren Datierung verdeutlichen, „daß die ‚Gegenwartsliteratur‘ nicht länger mit der Literatur ‚nach 45‘ identisch ist, daß sie vielmehr in eine Nachkriegsliteratur und in eine neue z. T. von der Kultur des Nachkriegsdeutschland offensiv sich abgrenzende Literatur unterteilt wird“ (Briegleb/Weigel 1992, 9). Diese Abgrenzung manifestiere sich in einem „neuen literarischen Engagement“, das mit dem „Engagement von 1968 in einem komplizierten Wechselverhältnis steht: dem eines Gegensatzes ← 17 | 18 →im Großen und zahlreicher Berührungen und Korrespondenzen im Einzelnen“ (ebd.). Der Band setzt sich zum Ziel,

[…] die Kontinuitäten und Brüche der Schreibweisen und Geschichtsmythen ‚1968‘ und ‚nach 1968‘ zu untersuchen, die literarischen Veränderungen und kulturellen Bewegungen, die 68 in Gang gesetzt wurden, auch auf die ihnen immanenten Ausschlüsse und Verdrängungen hin zu befragen […]. (Ebd., 10)

Deutlich konkretere, wenn auch thematisch unterschiedliche Bezüge zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands und der seither entstandenen Literatur ziehen die Befürworter/innen einer Beschränkung der Gegenwartsliteratur auf nach 1989 entstandene Werke. So konstatieren Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers in Metzlers Deutscher Literaturgeschichte knapp: „Natürlich reagierte auch die Literatur auf die Öffnung der Mauer.“ (Opitz/Opitz-Wiemers 2013, 669) Meike Herrmann argumentiert: „Wenn die Phänomene und Staatengebilde der Nachkriegszeit […] historisiert werden, spricht einiges dafür, auch die Nachkriegsliteratur bis 1990 zu historisieren und den Begriff der Gegenwartsliteratur auf die eineinhalb Jahrzehnte seitdem anzuwenden.“ (Herrmann 2006, 110f.) Zudem folgt sie in ihren Ausführungen der Studie Helmut Schmitz’ On Their Own Terms. The Legacy of National Socialism in Post-1990 German Fiction (2004), in der dieser „die These vom Schweigen der nicht-jüdischen deutschen Nachkriegsautoren über den Holocaust“ (ebd., 116) in der vor 1990 erschienenen Nachkriegsliteratur vertritt. Der seither zu bemerkende Wandel in der literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus spricht für Herrmann daher dafür, die jüngste Zäsur in der Literaturgeschichtsschreibung etwa in den Jahren 1989/90 zu setzen. Deutlich wird jedoch sowohl bei Opitz/Opitz-Wiemers als auch bei Herrmann, dass diese definitorischen Ansätze, ob ihrer thematischer Eingrenzung, lediglich einen kleinen Ausschnitt der nach der „Wende“ entstandenen Literatur erfassen können. Zweifel grundsätzlicher Art an der kulturell-ästhetischen Dimension der Wiedervereinigung äußert Klaus-Michael Bogdal:

Ich möchte mich an der angestrebten Suche nach den Spuren des ‚Sturms der Geschichte‘ in den nach 1989 geschriebenen Romanen, Dramen, Gedichten, und Essays nicht beteiligen, sondern behaupten, daß ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte geschrieben worden wären, die wir jetzt zu lesen bekommen. (Bogdal 1998, 10)

Entsprechend heißt es bei Jürgen Egyptien: „[D]ie deutsche Einheit hat in der literarischen Entwicklung keine wesentlichen Spuren hinterlassen.“ (Egyptien 2006, 10) Dennoch findet dieser Periodisierungsversuch vermehrt Fürsprecher/innen in der Literaturdidaktik, was sich vermutlich auf den Wunsch vieler Didaktiker/innen zurückführen lässt, den Anteil junger im Deutschunterricht behandelter Texte zu vergrößern. Exemplarisch sei die folgende These Peter ← 18 | 19 →Bekes’ zitiert: „Spätestens mit dem politischen Wendejahr 1989 ist der Begriff der Gegenwartsliteratur enger zu fassen.“ (Bekes 2004, 236) Bekes argumentiert im Folgenden mit dem im Jahr 1999 von Volker Hage im SPIEGEL zum Schlagwort erhobenen Generationenwechsel deutscher Autorinnen und Autoren, den dieser Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre verortet (vgl. Hage 1999). Auch Clemens Kammler, der in etlichen Publikationen für eine stärkere Berücksichtigung von Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht plädiert hat9, moniert die synonyme Verwendung der Begriffe „Nachkriegs-“ und „Gegenwartsliteratur“ und schlussfolgert: „Die Gegenwart unserer Schulklassiker endet lange, bevor unsere heutigen Abiturienten das Licht der Welt erblickten.“ (Beide Zitate Kammler 1998, 186)

Einen alternativen Definitionsansatz jenseits historischer Zäsuren verfolgt Klaus-Michael Bogdal, indem er unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Literatur seit den 1970er Jahren deren Entwicklung betrachtet. Bogdal zufolge fänden sich „in zahlreichen Texten der siebziger Jahre Spuren der Veränderungen […], die sich als erst noch unbewußte Anpassungsbewegungen an ein verändertes soziokulturelles Gesamtgefüge in Westdeutschland deuten lassen.“ Als Beispiele nennt er die Versuche vieler Autorinnen und Autoren der 1970er Jahre, „die bis dahin normsetzenden Standards der ‚klassischen Moderne‘ zu unterbieten, zu ignorieren oder, wie bei Rolf Dieter Brinkmann, provokativ aufzuheben […].“ Der „Schlüssel für unsere Gegenwartsliteratur“ sei daher nicht „in den Ereignissen um 1989, sondern in den siebziger Jahren zu finden“ (alle Zitate Bogdal 1998, 15).

Was nun die Verwendung des Begriffes „Gegenwartsliteratur“ in der vorliegenden Studie betrifft, so leuchtet es unmittelbar ein, dass keine der oben genannten zeitlichen Markierungen übernommen werden kann. Die Herausforderung besteht daher darin, für beide Untersuchungszeiträume eine jeweils angemessene Zäsur zu finden. Für den ersten Zeitraum (1948 bis 1959) fällt dieser auf die Jahrhundertwende, was eventuell zunächst etwas großzügig bemessen scheint. Es ist jedoch unbedingt erforderlich, die besondere Situation der Literatur in Deutschland nach 1945 zu berücksichtigen. Alfred Döblin hat in diesem Zusammenhang von einer „zweifach deformierten Rumpfliteratur“ (Döblin 1947, 32) gesprochen, die Deutschland nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes geblieben sei. Deformiert sei die Literatur zum einen durch die Schriftsteller/innen, die den Faschismus aktiv unterstützten und zum anderen durch jene der „Inneren Emigration“. Fünfzehn Jahre später beschrieb Fritz Martini die bis ← 19 | 20 →dato kaum veränderte literarische Situation der Bundesrepublik als Folge des Nationalsozialismus in vergleichbarer Weise: „Die Tradition wurde abgerissen; unsere Literatur konnte sich von solcher Verstörung noch nicht erholen.“ (Martini 1962, 9) Hierbei berücksichtigt er auch die problematische – und für das vorliegende Kapitel relevante – Situation der Gegenwartsliteratur:

Zwischen die Generation der Verbannten und Verbotenen, die ihre Werkwurzeln in den jetzt schon fast legendenhaft entfernten Jahren vor dem ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik gehabt haben, und die Generation nach 1945 hat sich eine Dimension der historischen Entfernung gelegt. Was jetzt im Rückgriff in einer anderen Form von geistig-literarischer ‚Restauration‘, in einer ahistorischen Wiederkehr zur erneuten Gegenwärtigkeit gebracht wird, ist weitgehend eine Literatur der Vorfahren. Das bedeutet eine geradezu paradoxe Situation; denn was für viele jetzt als Unbekanntes erscheint, ist meist bereits in die Geschichte entrückt – gegenüber der weltliterarischen Entwicklung wie gegenüber der deutschen veränderten Realitäts- und Bewußtseinslage. Diese Literatur ist nur noch in Fragmenten eine Gegenwart; denn ihre Welttotalität ist nicht mehr die unsere. (Ebd.)

Weil also, wie Martini schreibt, vielen bedeutenden Werken, „ihre rechte und eigene Zeit abgeschnitten wurde“, sie „Geschichte [wurden], bevor sie Gegenwart geworden waren“ (ebd.), sollen in der vorliegenden Studie für den ersten Untersuchungszeitraum Werke als Gegenwartsliteratur begriffen werden, die nach der Jahrhundertwende veröffentlicht wurden.

Dieser Prozess einer nachträglichen Kanonisierung kann Ende der 1960 als abgeschlossen betrachtet werden, sodass für die Eingrenzung von Gegenwartsliteratur im zweiten Untersuchungszeitraum (1965 bis 1975) ein deutlich kleineres Zeitfenster gewählt werden kann. Daher werden hier unter „Gegenwartsliteratur“ Werke verstanden, die nach dem Jahr 1950 veröffentlicht wurden. Diese deutlich engere Definition lässt sich zweifach begründen: Zum einen entspricht sie dem grundsätzlichen Reformwillen eines Großteils der damaligen Literaturdidaktiker/innen, der auch in der Diskussion um die Gegenstände des Literaturunterrichts erkennbar wird und sich beispielhaft in den damaligen Lesebuch-Debatten niedergeschlagen hat. Zum anderen spiegelt sie das in den 1970er Jahren ausgeprägte Ziel des Literaturunterrichts wider, aufgeklärte und emanzipierte Schüler/innen zu erziehen, die ihrer Umwelt kritisch entgegentreten, wie das folgende Zitat aus einem Aufsatz über fachwissenschaftliche und fachdidaktische Überlegungen zum Kriminalroman verdeutlicht: „[D]ie Schüler sollen durch die Beschäftigung mit dieser Textsorte Einsicht gewinnen in die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände, Probleme, Frustrationen und Mängel und Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung reflektieren.“ (Lange 1975, 507)

← 20 | 21 →1.3 Forschungstheoretische Voraussetzungen und methodische Vorgehensweise

Nachdem die vorangegangenen Ausführungen definiert haben, wie der Begriff „Gegenwartsliteratur“ in der vorliegenden Studie eingegrenzt wird, dient das folgende Kapitel der Darstellung ihrer forschungstheoretischen Voraussetzungen und methodischen Vorgehensweise. Ich beginne in Kapitel 1.3.1 mit der Einordnung meiner Studie in kanontheoretische Zusammenhänge, um zu prüfen, inwiefern sich die dort verwendete Terminologie für diese Untersuchung als anschlussfähig erweisen kann. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Anknüpfungsversuche der Kanontheorie an Aspekte der Aufmerksamkeitsforschung. In Kapitel 1.3.2 folgen Ausführungen zum Diskursbegriff Michel Foucaults und zur methodischen Operationalisierung seiner Theorie in der Geschichts- und Sozialwissenschaft in Form der historischen Diskursanalyse, wie sie in dieser Studie umgesetzt werden soll. Da die Position Foucaults, der zufolge nicht Individuen, sondern formale Strukturen für die Konstitution sozialer Phänomene verantwortlich zu machen sind, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive einer Modifizierung bedarf, wird in Kapitel 1.3.3 ein dem hier verfolgten Forschungsinteresse angepasster Akteursbegriff entwickelt. Das Kapitel schließt in Unterpunkt 1.3.4 mit einem Referat, in dem die einzelnen Phasen der geplanten Erhebung und Auswertung vorgestellt werden.

1.3.1 Kanon- und aufmerksamkeitstheoretische Problematisierungen

Prozeduren der Textauswahl, wie sie in der vorliegenden Studie untersucht werden, setzen Kanonbildungs- bzw. Kanonisierungsprozesse in Gang, ohne dass solche von den Auswählenden intendiert sein müssten. Simone Winko bezeichnet den literarischen Kanon daher als Produkt eines „invisible-hand-Phänomens“ (vgl. Winko 2002). Es soll in diesem Kapitel daher der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern sich theoretische Aspekte und Termini der literarischen Kanonforschung für die vorliegende Studie als ertragreich erweisen können. Berücksichtigt werden sollen in diesem Zusammenhang außerdem Überlegungen aus dem Bereich der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeitstheorie, wie sie neuerdings auch in den Horizont der Kanonforschung10 rücken.

Literarische Kanonbildung definiert Simone Winko als Deutungs- und Selektionsprozess, in dem „literaturinterne und soziale Komponenten auf komplexe ← 21 | 22 →Weise zusammenspielen“ (Winko 1999, 596). Das Resultat dieses Prozesses stellt der Kanon dar, „ein Korpus von Texten […], das eine Gesellschaft oder Gruppe für wertvoll hält und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“ (ebd., 585). Hieraus folgt, dass ein Werk „nicht an sich wertvoll oder auch wertlos“ (ebd., 586) ist, sondern diese Zuschreibung immer erst bezogen auf die jeweils geltenden Wertmaßstäbe erhält. Bei literarischen Kanones handelt es sich um unabgeschlossene, flexible Gebilde11, die sich je nach „Kanontektonik“ (Korte 2002, 34) in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß verändern können, indem neue Autorinnen und Autoren oder Texte neu kanonisiert, alte dekanonisiert und einstmals dekanonisierte erneut rekanonisiert werden.

Wie sich außerdem an der Definition Winkos ablesen lässt, geht die literarische Kanonforschung von einer großen Vielfalt an Partialkanones mit Gültigkeit für eine jeweils näher zu bestimmende Gruppe aus. Welche Kriterien der Textauswahl zur Konstituierung eines Kanons führen, kann sich von Fall zu Fall stark unterscheiden. Sie sind zum einen „historisch und kulturell variabel; ihre Geltung hängt auch von der jeweiligen Träger- oder Interessengruppe ab, die die Kanonisierung vollzieht“ (Winko 1999, 596). Zudem nennt Winko drei Kanonfunktionen: Erstens können Kanones über die in den kanonisierten Texten repräsentierten Werte zur Identitätsstiftung einer Gruppe beitragen, zweitens dienen sie den Mitgliedern einer Gruppe zur Distinktion gegenüber anderen (Legitimationsfunktion) und schließlich liefern Kanones Handlungsorientierung (vgl. ebd., 597). Darüber hinaus dienen Kanones natürlich der Tradition. Als Folge der bewußten Pflege ausgewählter Werke bewahren sie das kulturelle Gedächtnis.12 Dass der Kanon, gerade weil er der Identitätsstiftung und Distinktion von Gruppen dient, auch „Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument“ (Anz 2002, 27) ist, verdeutlicht Hermann Korte am Beispiel des Lektürekanons am preußischen Gymnasium des 19. und frühen 20. Jahrhundert:

Der gymnasiale Schulkanon ist Ausdruck gesellschaftlicher Elitebildung und durch ein Ensemble administrativer Entscheidungen, Gesetze, Regeln sowie durch ein System innerinstitutioneller Kompetenzen so ausgestattet, dass sich in der kulturellen Konstruktion des Kanons die gesellschaftlich Machtförmigkeit des preußischen Gymnasiums ständig reproduziert. (Korte 2011, 15)

← 22 | 23 →Die am Gymnasium vermittelten Kenntnisse der nationalen Klassiker berechtigten somit zur Teilhabe an „herrschenden Lebensstilen“ (Korte 2010, 63). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich der Stellenwert dieses Kanonwissens freilich stark verringert. Seither kommt dem Kanon primär eine Orientierungsfunktion zu.13 Daher dient für Günther Buck der Bedeutungswandel des Kanons als ein Unterscheidungsmoment der „neuen“ von der „alten“ Schule: War die „‚alte‘ Schule […] eine Schule der Kanones, weil sie ihre Aufgabe als die Aufgabe der Tradition, der Überlieferung eines Maßgeblichen“ verstanden hatte, so sei die „primäre Absicht“ der „‚neue[n] Schule‘ […] die Ertüchtigung zur Gegenwart“ (Buck 1983, 352 f.).14

Aufgrund der faktischen Pluralität literarischer Kanones hat Renate von Heydebrand die Unterscheidung zwischen Kanones mit weiter bzw. enger sozialer und/oder temporaler Reichweite, also zwischen Kernkanones und akuten Kanones, eingeführt (vgl. Heydebrand 1996, 614). Während der Kernkanon laut Heydebrands vielzitierter Definition eine „strenge Auswahl von Autoren und Werken der Literatur […], die eine Gemeinschaft für sich als die vollkommensten anerkennt und mit Argumenten verteidigt“ (Heydebrand 1991, 4), umfasst, enthalten akute Kanones Autoren und Werke „entweder nur für kurze Zeit, etwa aufgrund literarischer Moden und aktueller Vorlieben“, oder weil sie „einen schwachen Kanonisierungsgrad haben und im Prinzip durch andere Variablen leicht zu ersetzen wären“15 (Korte 2002, 35f.). Bildlich gesprochen lagern akute Kanones an den Rändern von Kernkanones, sie werden deshalb auch als „Randkanones“ (Heydebrand 1996, 614) bezeichnet. Für das Forschungsinteresse meiner Studie ist eine weitere terminologische Differenzierung Heydebrands von besonderem Interesse, wonach ein Teil des Randkanons vom sogenannten „Kanon des Gegenwärtigen“ eingenommen werde, „der noch durch keine Geschichte legitimiert“ (Heydebrand 1991, 6) sei. Es drängt sich die Frage auf, ob nicht die im Folgenden zu konstruierenden Lektürelisten mit ← 23 | 24 →dem von Heydebrand vorgeschlagenen Terminus zu bezeichnen wären – zumal sie an anderer Stelle zur Disposition stellt, ob „ ‚wilde’ oder ‚aktive‘ Kanones […] nicht künftig – im Gefolge des Geltungsschwunds des einen verbindlichen, gepflegten Kanons – als solche gesehen und erforscht werden sollten“ (Heydebrand 1996, 613f.). Diesem Vorschlag nachzukommen, wäre jedoch sowohl in grundsätzlicher kanontheoretischer als auch in spezieller, diese Studie betreffender Hinsicht problematisch. Zunächst unternimmt die Begrifflichkeit vom „Gegenwartskanon“ die Quadratur des Kreises: Kanonisierter Literatur muss, so will es die Definition, Werthaltigkeit zugesprochen worden sein. Aus dieser resultiert die Verbindlichkeit des Kanons: „[D]er Normativität der Wahl [entspricht] die Normativität des Gewählten: Was durch Kanonisierungsprozesse entsteht, kann kein willkürlich zusammengesetztes Korpus sein, sondern muss nicht nur sinnvoll, sondern auch wertvoll sein.“ (Winko 2002, 19) Diese Kriterien ist ein sogenannter „Gegenwartskanon“ jedoch nicht in der Lage zu erfüllen. Denn fundierte Werturteile16 über ein literarisches Werk, so sie noch in relativer Zukunft Gültigkeit beanspruchen wollen, sind ohne eine gewisse zeitliche Distanz kaum möglich: „Literarischer Wert wird erst im nachhinein bestärkt oder entdeckt. […] Gerade über die Zeit, der man selbst angehört, läßt sich am schwersten urteilen.“ (Schlaffer 2002, 133)

Es ließe sich einwenden, dass heute grundsätzlich – und sicher zu Recht – von einer Relativierung des Geltungsbereiches von Literaturkanones17 ausgegangen wird. So spricht Karl Eibl von einem „Abbau fixierter zentraler Orientierungsmäler“ und einer Schwerpunktverlagerung von den festen zu den flüssigen Aggregatzuständen“18 (Eibl 1996, 76) und Alois Hahn fragt, „ob der Ausdruck Kanon angesichts der ‚Zerbröckelung‘ seiner Inhalte […] in sachlicher und seiner Instabilität in zeitlicher Hinsicht […] nicht eigentlich unangemessen ist“ (Hahn 1996, 461). Auch Korte konstatiert, dass heute kaum noch von einer „geschlossene[n] Kanonarchitektur“ die Rede sein könne. Vielmehr erscheine der Kanon gegenwärtig „als Phänomen der gesellschaftlichen Beschleunigung“ (Korte 2008, 20) – aber er verschwinde nicht. Im Gegenteil: „Kontingente Strukturen destabilisieren die feste Größe kanonisierter Gegenstände, sorgen aber ← 24 | 25 →zugleich dafür, dass literarische Re-Kanonisierungen und sogar literarische Wiederentdeckungen mit hoher kultureller Resonanz rechnen können.“ (Ebd., 21) Aus diesem Grund bezeichnet Korte den Kanon als ein „janusköpfige[s]“ (ebd.) Phänomen, das sowohl Momente der Beschleunigung als auch der Entschleunigung in sich vereine. Der Kanon bleibt (noch). Die beschriebenen Wandlungsprozesse ändern nichts an der genuinen Verbindlichkeit des Kanons – oder, wie Buck es ausdrückt: „Kanon, das ist Tradition und Hingabe an Tradition.“ (Buck 1983, 352) Gegenwartsliteratur hingegen, die diesen Namen verdient19, kann wohl in kanonischen Randbereichen existieren, nicht aber im Kernkanon. Aus diesem Grund bezeichne ich die Darstellung der von mir erhobenen qualitativen Daten in Tabellenform als „Auswahllisten“, nicht als „Gegenwartskanones“.

Wichtiger noch als die heikle (und empirisch nicht messbare) Frage nach der Gültigkeit literarischer Wertungen sind in diesem Zusammenhang die zwei Dimensionen von Kanonizität, die Elisabeth Kampmann in ihrer Dissertation formuliert hat: die Dauer der diskursiven Präsenz eines Werks und seine öffentliche Reichweite20. Kanonizität wird von Kampmann jeweils unterschieden von den Status der Etabliertheit und Publizität. Unter ersterem versteht sie die „diskursive oder (multi-)mediale Präsenz eines literarischen Textes“ (Kampmann 2011, 32) über den zeitlichen Rahmen seiner Neuerscheinung hinaus. Publizität hingegen meint „die starke Resonanz […], die ein Text oder dessen Autor im unmittelbaren Umfeld der Publikation hervorruft“ (ebd.), sie ist dementsprechend nicht an Dauer gebunden. Betrachtet man den Status von Gegenwartsliteratur im Prozess der Kanonisierung, wie Kampmann ihn skizziert, wird deutlich, dass Neuerscheinungen zwar ein hohes Maß an Publizität – auch innerhalb der Literaturdidaktik – erlangen können, von Kanonizität aber nur gesprochen werden kann, wenn die öffentliche Resonanz längere Zeit anhält. Demnach hängt es entscheidend von der Länge des Untersuchungszeitraums ab, ob sich ← 25 | 26 →Kanonisierungsprozesse bzw. Momente der Öffnung schulischer Lektürekanones21 beschreiben lassen.22

Details

Seiten
385
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653061437
ISBN (ePUB)
9783653954258
ISBN (MOBI)
9783653954241
ISBN (Hardcover)
9783631669976
DOI
10.3726/978-3-653-06143-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Gegenwartsliteratur Literaturdidaktik Deutschunterricht Toposanalyse Kanonforschung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 385 S., 7 Tab.

Biographische Angaben

Julia Heuer (Autor:in)

Julia Heuer studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Siegen und war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am germanistischen Institut der Universität Osnabrück im Bereich Literaturdidaktik tätig.

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Titel: Gegenwartsprosa im Literaturunterricht
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