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Theologie auf der Suche nach «Lucidez»

Aspekte der Theologie von João Batista Libanio

von Alexandre Pessoa Garcia (Autor:in)
©2016 Dissertation 310 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch behandelt die Theologie des brasilianischen Jesuiten und Fundamentaltheologen João Batista Libanio. Es bietet zunächst eine Präsentation seiner Bibliografie und Biografie. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Bedeutung seiner Heimat in Brasilien, Minas Gerais. Aus einer überwiegend fundamentaltheologischen Sicht nimmt der Autor anschließend eine Einordnung der Theologie Libanios vor. Außerdem arbeitet er einen Leitfaden aus dessen Theologie heraus, den er im Zweiten Vatikanischen Konzil erkennt. Das Konzil nimmt er hinsichtlich der Charakterisierung und des Verständnisses der theologischen Meinung Libanios unter die Lupe.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Widmung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Überlegungen zum Wort „Lucidez“
  • Einleitung
  • 1. Leben und Werk
  • 1.1 Leben
  • 1.1.1 In der Familie
  • 1.1.2 Die Heimat
  • 1.1.2.1 Minas Gerais
  • 1.1.2.2 Ein religiöses Land
  • 1.1.2.3 Devotio moderna
  • 1.1.2.4 Politik und Kirchenpolitik
  • 1.1.2.5 Erneuerung des Katholizismus tridentinischer Prägung
  • 1.1.2.6 Belo Horizonte
  • 1.1.2.7 Minas Gerais im Volksmund
  • 1.1.2.8 Libanio und die Heimat
  • 1.1.3 Im Seminar in Brasilien
  • 1.1.4 Im Ausland
  • 1.1.5 In der Zeit der Diktatur
  • 1.1.5.1 Die Bischofskonferenz auf nationaler Ebene
  • 1.1.5.2 Die Kirche und die Diktatur
  • 1.1.5.3 Libanio während der Diktatur
  • 1.1.6 Redemokratisierung
  • 1.1.7 Verschiedene Tätigkeiten
  • 1.2 Werk (Bibliographie)
  • 1.2.1 Bücher
  • 1.2.1.1 Portugiesisch
  • 1.2.1.2 Spanisch
  • 1.2.1.3 Italienisch
  • 1.2.1.4 Deutsch
  • 1.2.1.5 Englisch
  • 1.2.2 Einzelne Essays in Sammelbänden
  • 1.2.2.1 Portugiesisch
  • 1.2.2.2 Spanisch
  • 1.2.2.3 Italienisch
  • 1.2.2.4 Deutsch
  • 1.2.2.5 Englisch
  • 1.2.3 Lexikonartikel
  • 1.2.3.1 Portugiesisch
  • 1.2.3.2 Spanisch
  • 1.2.3.3 Italienisch
  • 1.2.3.4 Deutsch
  • 1.2.3.5 Englisch
  • 1.2.4 Artikel in Zeitschriften
  • 1.2.4.1 Portugiesisch
  • 1.2.4.2 Spanisch
  • 1.2.4.3 Italienisch
  • 1.2.4.4 Deutsch
  • 1.2.4.5 Englisch
  • 1.2.4.6 Französisch
  • 2. Einordnung
  • 2.1 Hintergrundaspekte
  • 2.1.1 Gegensätze bzw. ergänzende Erfahrungen und Übergangszeiten in seiner Biografie und in der miterlebten Geschichte
  • 2.1.2 Vielfältige Lebenserfahrungen und Lebensräume
  • 2.2 Allgemeine Aspekte seiner Fundamentaltheologie
  • 2.2.1 Biographie als „Ort“ für das Geschehen Gottes
  • 2.2.2 Existenziell
  • 2.2.3 Geschichtlichkeit des Menschen
  • 2.2.4 Phänomenologisch-hermeneutisch
  • 2.2.5 Praxis
  • 2.2.6 Eschatologisch
  • 2.2.7 Unapologetisch
  • 2.3 Grenzen zwischen Inhalt und Form
  • 2.3.1 Kirchlichkeit
  • 2.3.2 Didaktischer Charakter
  • 2.4 Eine weitere Bemerkung: keine wesentliche Wende seiner Meinung
  • 2.5 Prägungen
  • 2.5.1 Diffuse Einflüsse
  • 2.5.1.1 Nouvelle Théologie
  • 2.5.1.2 Karl Rahner
  • 2.5.2 Der wichtigste Gesprächspartner und der größte Einfluss: Henrique Cláudio de Lima Vaz
  • 2.5.3 Eine „methodologische Prägung“: strukturell-genetische Analyse
  • 3. Leitfaden: Das Zweite Vatikanische Konzil
  • 3.1 Das Konzil als relevantes biografisches Ereignis
  • 3.1.1 Ein Meister des Lebens?
  • 3.2 Das Konzil als Objekt theologischer Betrachtung
  • 3.2.1 Ein didaktisches Bemühen
  • 3.2.2 Erklärung und Verständnis
  • 3.2.2.1 Die Erklärung
  • 3.2.2.1.1 Ein theoretisches Konstrukt
  • 3.2.2.1.1.1 Das vormoderne soziale Subjekt
  • 3.2.2.1.1.2 Das moderne soziale Subjekt
  • 3.2.2.1.1.2.1 Das moderne soziale Subjekt in der Kirche
  • 3.2.2.1.2 Die Päpste
  • 3.2.2.1.2.1 Pius XII
  • 3.2.2.1.2.2 Johannes XXIII
  • 3.2.2.1.2.3 Paul VI
  • 3.2.2.1.3 Eine Querschnittsfunktion
  • 3.2.2.2 Das Verständnis
  • 3.2.2.2.1 Ordensexistenz
  • 3.2.2.2.1.1 Das Problem der marxistischen Analyse bzw. des Marxismus
  • 3.2.2.2.1.1.1 Ein umfassendes System
  • 3.2.2.2.1.1.2 Eine Ideologie
  • 3.2.2.2.1.1.3 Philosophie
  • 3.2.2.2.1.1.4 Die marxistische Analyse
  • 3.2.2.2.1.2 Eine Schlussfolgerung
  • 3.2.2.2.2 Einige erneute Wiederholungen
  • 3.2.2.2.3 Im Voraus eine Wahl
  • 3.2.2.2.4 Zwei Hauptleseschlüssel des Konzils
  • 3.2.2.2.4.1 Ekklesiologische Inversionen
  • 3.2.2.2.5 Eine Folgerung
  • 3.3 Das Zweite Vatikanische Konzil als maßgebende Instanz der Theologie Libanios
  • 3.3.1 Einige Schwerpunkte und „Inspirationsquellen“
  • 3.3.2 Prüfsteine der Wahrheit des Konzils
  • 3.3.2.1 Ökumenismus
  • 3.3.2.2 Verpflichtung gegenüber der Ethik
  • Schlusswort
  • Literaturverzeichnis

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Überlegungen zum Wort „Lucidez“

Da ein der deutschen Sprache zunächst fremdes Wort bereits im Titel dieser Arbeit steht, versuche ich schon vor einer „Einleitung“, seine Bedeutung zu klären und zu begründen, warum ich diesen Begriff hier benutze.

Allgemein stammt das Wort „Lucidez“ vom lateinischen „lux“, Genitiv „lucis“,1 das Licht. In der portugiesischen Sprache ist der Terminus „Lucidez“ relativ neu und wurde erst im 19. Jahrhundert verwendet, wie nachgewiesen werden kann.2 Noch bevor das Substantiv genutzt wurde, tauchte das Adjektiv „lúcido“ auf, dessen Gebrauch schon im 16. Jahrhundert registriert wurde.3 Das Adverb „lucidamente“ war schon im 15. Jahrhundert bekannt; sein Wortstamm ist daher nachgewiesenermaßen am längsten bekannt.4

„Lucidez“ lässt sich vom Adjektiv „lúcido“ in erster Bedeutung als „Eigenschaft oder Zustand von ‚lúcido‘“ definieren.5 Dem Adjektiv „lúcido“ entsprechen mehrere deutsche Begriffe, aber für fast jeden dieser Begriffe gibt es auch ein anderes passendes portugiesisches Wort, auf das ich in Klammern hinweisen werde. So kann „lúcido“ bedeuten: „glänzend (cintilante)“, „hell, klar (claro)“, „lichtvoll (luminoso)“ oder „durchsichtig (transparente)“.6 Sprachen sind lebendig, weil die Menschen sie verlebendigen. Von daher bekommen die Begriffe im Laufe der Zeit neue Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen. In der portugiesischen Sprache kommt außer dem Faktor Zeit auch dem Faktor Region eine besondere Bedeutung zu, zumal Portugiesisch die Amtssprache von Ländern in Afrika, Amerika, Asien und Europa ist. In dieser Arbeit aber werden wir auf der allgemeinen und „offiziellen“ Ebene der Sprache bleiben, ohne ein eventuelles Lokalkolorit oder gar „Slangs“ zu berücksichtigen. Auf dieser „offiziellen“ Ebene darf auch von anderen Dimensionen des Begriffes „Lucidez“ gesprochen werden. So ← 13 | 14 → kann „Lucidez“ auch „Geistesklarheit, Intelligenz, Scharfsinn, Sehschärfe, scharfes Erkennen, breite Sicht, Besonnenheit, Wahrnehmbarkeit“ bedeuten.7 Außerdem gibt es noch eine dritte Bedeutungsvariante, so etwa „lichte Augenblicke“ oder „klare Intervalle“ bei Menschen, die geistig behindert sind oder demenzielle Probleme haben. Dazu kommt noch, dass „Lucidez“ und „lúcido“ besonders dann verwendet werden, wenn von älteren Menschen und von einem schlechten körperlichen Zustand die Rede ist: Jemand sei noch „lúcido“ oder habe „Lucidez“, sei aber nicht mehr körperlich fit. In diesem Fall wäre „Lucidez“ näher an der psychologischen Nuance des deutschen Wortes Luzidität.8

Wir könnten auch an andere Verben wie „elucidar“ („klarmachen“, „erklären“, „erläutern“) oder an das seltener gebrauchte „lucidar“ (ein Bild, eine Figur oder ein Gegenstand durch eine durchsichtige Folie [Glas, Transparentpapier] kopieren) denken. Aber es ist ausreichend, sich in dieser Arbeit auf „Lucidez“ und „lúcido“ zu beschränken.

„Lucidez“ ist immer ein zutiefst menschliches Merkmal. Nur Menschen können „Lucidez“ haben oder vielleicht besser „erfahren“. Denn „Lucidez“ ist kein Besitz, sondern vielmehr eine immerwährende Suche. Wohl kommt es vor, dass ein Substantiv mit dem Adjektiv „lúcido“ verbunden wird. Aber auch in diesem Fall ist die anthropologische Komponente unverzichtbar. Die menschliche Aktivität erzeugt etwas „lúcido“ oder trägt „Lucidez“ bei. Das deutsche Wort „Klarheit“ scheint eher eine Objekt-Eigenschaft zu sein, weniger das Merkmal eines Subjektes, und wenn es ein Merkmal des Subjektes ist, ist es normalerweise „Klarheit von (über, bezüglich) etwas“, steht also in Verbindung mit einem Gegenstand oder einer Idee. Anders verhält es sich mit „Lucidez“. Der Begriff kann sich vielmehr auch ohne einen Gegenstand oder eine Idee dazwischen mit dem menschlichen Subjekt verbinden. In der portugiesischen Sprache gibt es die Begriffe „Clareza“, der dem Begriff „Klarheit“ entspricht, und „Claridade“, der dem Begriff „Helligkeit“ nahekommt. „Erleuchtung“ klingt nach einer Eingebung. So müsste „Erleuchtung“ mit „Iluminação“ oder „Inspiração“ übersetzt werden. Wie oben erwähnt, steht „Lucidez“ in einem Verhältnis zur Vernunft, darf aber nicht mit „Vernunft“ gleichgesetzt werden, dennoch umfasst „Lucidez“ die Vernunft mit. ← 14 | 15 →

In den verschiedenen Kulturen im Allgemeinen und in den Religionen im Besonderen lässt sich von einer Symbolik des Lichtes sprechen: „Licht ist ein sich unmittelbar zeigendes kosmisches Naturphänomen. Mit seiner sichtbar machenden Kraft (Tages-, Sonnenhelle, Klarheit) verbinden sich archaische metaphorische Bedeutungen und ein religionsstiftendes und -erhaltendes Potential innerhalb historisch wandelbarer Lebens- und Erlebensräume.“9 Es lässt sich sagen, dass „Licht“ eine viel breiterer Verwendung erlaubt und „Lucidez“ sich nicht bloß durch „Licht“ („luz“) ersetzen lässt.

Bei Libanio kommt das Wort „Lucidez“ häufig in verschiedenen Zusammenhängen vor. So kann in der portugiesischen Sprache quasi von polysemantischen, aber nicht divergenten Bedeutungen gesprochen werden: „Licht“, „Klarheit“, „scharfes Verständnis“, „Umsicht“, „Besonnenheit“ u. a. Bei Libanio hat „Lucidez“ keine enge oder begrenzte Bedeutung. Er benutzt das Wort mit den Bedeutungen, die seine Muttersprache erlaubt. 2008 schrieb Libanio das Buch „Em busca de Lucidez“ („Auf der Suche nach Lucidez“), dessen Untertitel „O fiel da balança“ lautet. Der Untertitel bereitet bei der Übersetzung Schwierigkeiten. „O fiel da balança“ (wörtlich: „Die Treue der Waage“) ist bis heute in Brasilien ein gerne verwendeter Ausdruck, obwohl die Waage, die den Ursprung dieser Redensart bildet, nicht mehr so oft benutzt wird. Die alten Waagen verglichen die Gewichte zweier Gegenstände miteinander. Wenn der Zeiger der Waage weder nach rechts noch nach links kippte, war das ein Zeichen für das entsprechende genaue Gewicht. So wäre „Lucidez“, gemäß dem Untertitel des genannten Buches, der (treue) Zeiger der Waage. Vielleicht könnte auch von der Verlässlichkeit des Zeigers der Waage gesprochen werden. Trotz des Titels war dieses Buch nicht unbedingt eine besondere Quelle meiner Forschung gewesen. Ich würde in diesem Zusammenhang nicht einmal von einer besonderen Quelle sprechen, aber wenn doch, würde dieses Buch bestimmt zu den fundamentaltheologischen Werken Libanios gezählt werden.

Manchmal hatte ich den Eindruck, dass das Wort „Lucidez“ bei Libanio praktisch ein „Mädchen für alles“ sei und ein Wort, das er oft benutze, um eine Idee zu Ende zu bringen. Aber je mehr ich mit seinem Werk Kontakt aufnahm, umso mehr habe ich bemerkt, dass die Suche nach „Lucidez“ ← 15 | 16 → nicht nur Titel eines Buches oder ein beliebtes Wort, sondern ein Anliegen seiner Theologie ist. Allerdings möchte ich auch betonen, dass „Lucidez“ kein theologischer Begriff ist. Interessanterweise ist „Lucidez“ nicht bloß ein „finales Produkt“, sondern schon im Voraus eine Haltung, ein Verhalten. Nur so wird „Lucidez“ auch ein „Ergebnis“ sein können. Also ist „Lucidez“ sowohl im Detail als auch im Ganzen bedeutsam. Über diese Art Dialektik wird noch zu sprechen sein. Diese Suche bewirkt Entfaltung, sie besteht darin, die Klarheit der Terminologie zu pflegen, die Geschichte und Existenz der Menschen zu berücksichtigen, die Möglichkeiten des vorhandenen Wissens auszuschöpfen – theologisch und nicht theologisch –, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszulegen sowie Theologie und Seelsorge gegenseitig zu beleuchten und zu integrieren: das alles im Lichte der Offenbarung! Hier könnten wir vielleicht an zwei klassisch-theologische Begriffe denken: „Lumen Fidei“10 und „Lumen naturale“11. Die beiden Begriffe sind keine Schlüsselwörter in der vorliegenden Arbeit, sie können aber wegen ihrer umfassenden Bedeutung bei dieser Erklärung des Wortes „Lucidez“ helfen, seinen Bedeutungen näherzukommen. Natürlich ist die vorliegende Arbeit keine Dissertation im Fach Philologie, in der Literaturwissenschaft oder der vergleichenden Sprachwissenschaft. Alles, was ich hier zu „Lucidez“ vorbringe, auch meine Vergleiche mit der deutschen Sprache, sind nur subjektive Überlegungen, die vor dem Hintergrund bestehender Probleme der Übertragung vom Portugiesischen ins Deutsche zu sehen sind. Aus diesem Grund habe ich einige bibliografische Hinweise vorgetragen. Damit soll gesagt sein, dass der Titel „Theologie auf der Suche nach ‚Lucidez‘“ nicht bedeuten will, dass ich hier vorhätte, eindeutig und endgültig zu zeigen, was „Lucidez“ ist. Dass die Theologie Libanios eine solche Suche ist, dessen bin ich mir sicher, und ich glaube, das wird auch dem Leser klar werden. Gemäß dem Anliegen dieser Dissertation hat der Untertitel Vorrang vor dem Titel. Also bilden die „Aspekte der Theologie von João Batista Libanio“, die ich in der Dissertation aus einer nicht exklusiv, aber überwiegend fundamentaltheologischen Sicht bringe, den Schwerpunkt. „Lucidez“ wird immer wieder vorkommen, aber nicht als eine bloße erfassbare Wirklichkeit, sondern als eine innere Dynamik, als ein Prozess der Theologie Libanios. Damit ich ← 16 | 17 → nicht immer wieder das Wort „Lucidez“ beschreiben oder umschreiben muss, erscheint es als akzeptabler, den Begriff schon im Titel zu erwähnen und dann zu erklären, worum es eigentlich geht. Schließlich stellt der Titel, wie gesagt, meine Überzeugung dar, und ich werde das Thema theologisch und nicht sprachwissenschaftlich bearbeiten. Am Ende der Dissertation wird es mir wohl nicht gelungen sein – und das war auf keinen Fall mein Anliegen gewesen –, eine ausführliche Definition von „Lucidez“ zu präsentieren. Vielleicht lässt sich „Lucidez“ durch Begriffe oder Definitionen überhaupt nicht oder nur höchst unzureichend erfassen.

Ich glaube aber, es ist möglich, mit einigen praktischen Beispielen die Schwierigkeit der Übersetzung des Substantivs „Lucidez“ bzw. des Adjektives „lúcido“ zu veranschaulichen.

Der portugiesische Schriftsteller José Saramago (1922–2010) hat 2004 den Roman „Ensaio sobre a Lucidez“12 (wörtlich übersetzt: „Essay über Lucidez“) herausgegeben. Interessanterweise lautet der Titel der deutschen Übersetzung „Die Stadt der Sehenden“13. Es lässt sich sagen, dass in der deutschen Übersetzung mehr der Ort (eine Stadt), in dem sich die Handlung des Romans abspielt, und die „Protagonisten“ des Romans (die Sehenden) in den Fokus rücken. Es handelt sich sozusagen um eine Auslegung beim Übersetzen. Möglich ist auch, dass die Übersetzung so lautet, um dem Titel eines vorigen Romans (1995), „Ensaio sobre a Cegueira“14 (wörtlich: „Essay über die Blindheit“), zu entsprechen. So entstand die Übersetzung: „Die Stadt der Blinden“15.

Libanio hat mit Maria Clara Lucchetti Bingemer das Buch „Escatologia Cristã“16 geschrieben. Dieses Buch wurde ins Deutsche mit dem Titel „Christliche Eschatologie“17 übersetzt. Libanio hat die Kapitel I bis V und Bingemer das Kapitel VI des Buches geschrieben. Das Substantiv „Lucidez“ und das Adjektiv „lúcida“ kommen jeweils zweimal vor, und zwar in den Kapiteln, die von Libanio geschrieben wurden. Hier werde ich mich nicht ← 17 | 18 → mit der „Theologie“ und dem Zusammenhang und auch nicht mit der Übersetzungsqualität beschäftigen, sondern ich werde einfach das portugiesische Original und die deutsche Übersetzung darstellen. So schreibt Libanio: „Ainda estamos muito virgens numa pastoral coerente e lúcida com esses ritos, que penetram muito o universo religiosos do católico, sobretudo nas regiões em que a presença negra é significativa.“18 In der deutschen Übersetzung ist zu lesen: „Wir haben noch wenig Ahnung von einer klaren, zusammenhängenden Pastoral für diese Riten, die insbesondere in Gebieten mit bedeutendem schwarzen Bevölkerungsanteil das religiöse Universum der Katholiken in Brasilien stark durchdringen.“19Weiter sagt Libanio: „Tais movimentos mostram como há um capital religioso popular à espera de uma catequese lúcida e crítica.“20 In der Übersetzung steht: „Da ist ein religiöses Kapital im Volk, das nur auf eine klare und kritische Katechese wartet.“21 Jetzt können wir zwei Fälle heranziehen, in denen das Substantiv „Lucidez“ vorkommt. Im Original steht: „Nas vascas da agonia, não conseguimos pensar lucidez de entrega ou oblação.“22 In der Übersetzung steht: „Mitten im Todeskampf gelingen uns Menschen meist keine hehren Gedanken an Hingabe und Aufopferung.“23 In Libanios Text können wir noch lesen: „A lucidez da entrega de Joana d’Arc e a inconsciência de uma morte escondida, camuflada, embelezada de fora, para apagar-lhe todo impacto.“24 Das wurde wie folgt übersetzt: „Die leuchtend klare Hingebe der Jeanne d’Arc sticht deutlich ab von der Bewusstlosigkeit eines Todes, der versteckt, kaschiert und äußerlich geschönt wird, um ihm jede Wirkung zu nehmen.“25 Mit diesen Beispielen wird klar, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, wie das Wort „Lucidez“ übersetzt werden kann. In Libanios Werk wird in diesem Zusammenhang deutlich, was damit gemeint ist. Außerdem werde ich mich in dieser Arbeit um Verständlichkeit bemühen, wobei diese ← 18 | 19 → Erklärung schon Teil dieser Bemühung ist, wenn es um den Begriff Lucidez geht. Oft wird es aber nicht erforderlich sein, (wiederholte) Erklärungen zu präsentieren, weil entweder der Zusammenhang schon klar ist oder weil vorher schon eine Erklärung gegeben wurde.

Bis jetzt haben wir Beispiele von Übersetzungen vom Portugiesischen ins Deutsche angeführt. Aber jetzt können wir einen anderen Weg einschlagen. Zuerst werde ich ein Beispiel aus der Erzählung „Der kleine Prinz“ des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) nennen. Diese Erzählung ist im Original in Französisch verfasst und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderen auch ins Deutsche und Portugiesische. In einer brasilianischen Ausgabe – ich habe keinen Vergleich mit anderen brasilianischen Ausgaben oder mit portugiesischen Ausgaben aus anderen Ländern angestellt – kommt das Adjektiv „lúcidas“ (feminin, Plural) einmal vor: „Quando encontrava uma que me parecia um pouco lúcida, fazia com ela a experiência do meu desenho número 1, que sempre conservei comigo.“26 In der deutschen Übersetzung steht: „Wenn ich jemanden traf, der mir ein bisschen heller vorkam, versuchte ich es mit meiner Zeichnung Nr. 1, die ich gut aufbewahrt habe.“27 Im franzözischen Original ist zu lesen: „Quand j’en recontrais une qui me paraissait un peu lucide, je faisais l’expérience sur elle de mon dessin numéro 1 que j’ai toujours conservé.“28 Ich glaube, statt des Adjektivs „heller“ der deutschen Übersetzung hätten ruhig auch andere Begriffe wie „intelligenter“, „vernünftiger“, vielleicht sogar „luzider“ u. a. stehen können. Es gibt also mehrere Möglichkeiten der Übersetzung.

Zum Schluss noch eine weitere Reihe von Textbeispielen, die aus dem Deutschen ins Portugiesische übersetzt wurden. Auf diese Weise soll gezeigt werden, welche deutschen Worte mit „Lucidez“ übersetzt wurden. Dazu habe ich einen beliebigen Autor gewählt, in dessen Werk in der brasilianischen Veröffentlichung mehrmals das Wort „Lucidez“ vorkommt. Seit den 1970er-Jahren erschienen in Brasilien Übersetzungen von Werken westlicher ← 19 | 20 → Philosophen und Denker, und zwar in der Reihe „Os Pensadores“. Aus dieser Reihe habe ich das Werk Friedrich Wilhelm Nietzsches (1844–1900) ausgewählt. Dabei wurde nicht das Gesamtwerk Nietzsches, sondern es wurden nur Teile einiger Bücher übersetzt. Darin kommt das Wort „Lucidez“ sechsmal vor.29 Mit einer Ausnahme wurde dabei „Besonnenheit“ durch das Wort „Lucidez“ übersetzt. Um den Sinnzusammenhang zu verdeutlichen, zitiere ich vollständige Sätze, auch wenn diese manchmal etwas lang sind. In „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ können wir lesen: „Während das im Schoße der theoretischen Kultur schlummernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er also seine eigenen Konsequenzen zu ahnen beginnt: haben große allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewußt, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen.“30 Im Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ steht: „Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden.“31 In dem Werk „Die ← 20 | 21 → fröhliche Wissenschaft“ ist das Wort Besonnenheit auch zu finden: „Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutierbares; er verlor jedes Mal seine Philosophen-Besonnenheit und geriet in Entrüstung, wenn er jemanden hier zögern und Umschweife machen sah.“32 Im Werk „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ ist zu lesen: „Der Philosoph sucht den Gesamtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend wie der Religiöse, nach Zwecken und Kausalitäten spähend wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Widerschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin in geschriebenen Versen zu projizieren weiß.“33

Wie festgestellt werden kann, wurde das Wort „Besonnenheit“ fünfmal durch das Wort „Lucidez“ ins Portugiesische übersetzt. Könnte das andeuten, dass dies die geeignetste Übersetzung wäre? Nicht unbedingt! Wie gesagt, es gibt eine Ausnahme in dem Werk Nietzsches, in der das Wort „Klarheit“ mit „Lucidez“ übersetzt wird: „Daß aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Platos Schilderung als der letzte der Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verläßt, um einen neuen Tag zu beginnen; indes hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träumen.“34 Über das Verhältnis der Begriffe von „Klarheit“ und „Lucidez“ habe ich oben schon einiges gesagt. Was das Verhältnis von „Besonnenheit“ und ← 21 | 22 → „Lucidez“ betrifft, so bringt ein Wörterbuch Deutsch-Portugiesisch zahlreiche Bedeutungen für „Besonnenheit“, aber „Lucidez“ fehlt: „reflexão“, „prudência“, „circunspecção“, „precaução“, „discrição“.35

Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es mir wegen einer gewissenen Komplexität bei Übersetzungen verständlich – nicht selbstverständlich, aber doch verständlich –, wenn das Wort „Lucidez“ in seiner originalen Form verbleibt. Außerdem ist in einer Dissertation über den Theologen João Batista Libanio dieses Wort, wie wir im Weiteren sehen werden, durchaus angemessen.

An dieser Stelle sind meine Überlegungen zum Wort „Lucidez“ beendet. Abschließend möchte ich noch ein eigenes Erlebnis schildern, das meine Überlegungen zur Übersetzungsproblematik und schließlich meine Entscheidung, dieses fremde Wort in der Dissertation, sogar schon im Titel, zu verwenden, gefördert hat. Es war ein Geburtstag, der Abend war bereits angebrochen. Die Gäste waren schon fast alle gegangen, nur die Tochter, der Schwiegersohn, die beiden Enkelkinder des Geburtstagkindes und ich waren noch im Hause, natürlich auch die Gastgeber. Die beiden Kinder, Luis und Augustin, hatten schon gegessen und genug gespielt. Als sie wieder zum Tisch kamen, beschlossen sie, Rätsel zu lösen. Luis trug am häufigsten Rätsel vor, der Vater, Nana, dessen Namen ich erst an dem Abend erfahren hatte, nämlich Stephan, trug auch ab und zu einige Rätsel vor. Ich konnte nur zuhören. Kaum, dass ich die Rätsel überhaupt verstanden hätte; lösen konnte ich keines. Oft waren die Antworten Tiernamen, die ich auf Deutsch nie zuvor gehört hatte. Mehrmals hatte Nana versucht, mir die Rätsel zu erklären. Auf einmal sagte Luis ganz spontan: „Alexander“ – so werde ich oft in Deutschland genannt –, „du hast noch kein Rätsel gestellt, jetzt bist du dran.“ Was sollte ich denn unternehmen? Ich hatte mich noch nie mit deutschen Rätseln beschäftigt. Was mir übrig blieb, war, ein Rätsel, das mir aus meinem Land bekannt war, zu übersetzen. So fiel mir zuerst ein: „O que é, o que é que cai em pé e corre deitado?“ Das übersetzte ich wie folgt: „Was ist, was stehend fällt und liegend läuft?“ Wir benutzen normalerweise dasselbe Verb („correr“) für „laufen“ und „fließen“. Heute nehme ich an, dass die Frage nicht verstanden wurde. In diesem Moment aber war mir ← 22 | 23 → das nicht klar. Ich dachte, dass die Schwierigkeit am Rätsel liege. Dann sagte ich mit einem fast kindlichen Stolz, dass die Lösung der Regen sei. Ich versuchte, dies sogar mit Händen und Füßen zu zu veranschaulichen. Luis aber verstand mich nicht. Dann sagte Nana ganz diskret, denn er wollte mich nicht verlegen machen: „Fließen, Luis, fließen.“ Da bekam ich mit, dass das, was ich gesagt hatte, ja gar nicht passte. Das Rätsel war unverständlich. Meine Folgerung: Das bekannteste Rätsel in Brasilien, das praktisch jedes Kind dort kennt, ist unübersetzbar.

Ich kann sagen, dass ich an diesem Abend die Bedeutung des italienischen Sprichwortes etwas besser verstanden habe: „Traduttore, traditore“, also „der Übersetzer ist ein Verräter bzw. ein Betrüger“. Auch wenn ich vielen Übersetzern wegen ihrer Bemühungen sehr dankbar bin, ist es doch wahr, dass manchmal zu „übersetzen“ bedeutet, den Sinn zu „verraten“ und den Leser zu „betrügen“. Natürlich sage ich das im Sinne des italienischen Wortspiels, denn in Wirklichkeit sind die Übersetzer Fachleute, die ihre Fachkenntnisse zur Übertragung des Wissens einsetzen. ← 23 | 24 →


1   Vgl. Cunha, Luz, 484.

2   Vgl. Machado, Lucidez, 1140.

3   Vgl. ebd.

4   Vgl. ebd.

5   Vgl. Ferreira, Lucidez, 854.

6   Dicionários Editora, Lúcido, 652.

7   Vgl. Ferreira, Lucidez, 854.

8   Vgl. Dicionários Editora, Lucidez, 652: „Geistklarheit; (psicol.) Luzidität; Heilsehen.“

9   Paus, Licht, 900.

10 Vgl. Kunz, Glaubenslicht, 718–720.

11 Vgl. Jorissen und Anzulewicz, Lumen Naturale, 1120 f.

12 Vgl. Saramago, José, Ensaio sobre a Lucidez, Lisboa, 2004.

Details

Seiten
310
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653061413
ISBN (ePUB)
9783653954272
ISBN (MOBI)
9783653954265
ISBN (Hardcover)
9783631669969
DOI
10.3726/978-3-653-06141-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Befreiungstheologie Fundamentaltheologie Lateinamerika
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 310 S.

Biographische Angaben

Alexandre Pessoa Garcia (Autor:in)

Alexandre Pessoa Garcia studierte Philosophie und Theologie in Brasilien und wurde in Würzburg in Fundamentaltheologie promoviert. Er ist katholischer Pfarrer in der Pfarrei São José Operário im Bistum Osasco im Bundesland São Paulo und Mitglied des Teams für geistliche Begleitung des Priesterseminars sowie Leiter der Abteilung für Sozialseelsorge im Bistum.

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Titel: Theologie auf der Suche nach «Lucidez»
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