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Russland im 21. Jahrhundert. Reif für eine multipolare Welt?

Eine Analyse der strategischen Kultur Russlands und das daraus abgeleitete Erfordernis einer konfliktsensiblen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Russland

von Norbert Eitelhuber (Autor:in)
©2015 Dissertation XX, 484 Seiten

Zusammenfassung

Wie mit Russland reden? Angesichts der aktuellen Ukraine-Krise identifiziert das Buch die strategische Kultur Russlands, zeigt deren Auswirkung auf die heutige Außen- und Sicherheitspolitik auf und zieht Folgerungen für den Umgang mit Russland. Neorealistische Analysen können Russlands Verhalten in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts nur begrenzt erklären und führen in ihren Schlussfolgerungen zu einem Wiederaufleben der früheren Blockkonfrontation. Ein wesentlicher Wandel der strategischen Kultur erfolgte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Kooperative Politikansätze können darauf aufbauen. Der politische Westen sollte Mut zu mehr Pluralismus im internationalen System zeigen. Eine erneute Blockkonfrontation ist vermeidbar – dies ist eine zentrale Aussage des Buches.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort des Herausgebers
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Russischsprachige Begriffe
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung der Studie
  • 1.2 Aktueller Forschungsstand
  • 1.2.1 Der neorealistische Erklärungsansatz und seine Grenzen
  • 1.2.2 Die strategische Kultur Russlands als Erklärungsansatz
  • 1.3 Methodisches Vorgehen
  • 1.4 Quellenauswertung
  • 1.5 Gang der Untersuchung
  • 2. Die Theorie der strategischen Kultur
  • 2.1 Das Konzept der politischen Kultur
  • 2.2 Anwendung des Konzepts der politischen Kultur auf das der Strategie
  • 2.3 Strategische Kultur als Bestandteil des Konstruktivismus
  • 2.4 Strategische Kultur im Verständnis dieser Studie
  • 2.5 Träger der strategischen Kultur
  • 2.5.1 Eliten
  • 2.5.2 Nationale Institutionen und politischer Entscheidungsprozess
  • 2.6 Wandel der strategischen Kultur
  • 2.6.1 Kontinuierliche kulturelle Anpassungsprozesse
  • 2.6.2 Brüche in der strategischen Kultur
  • 2.6.3 Kulturelle Dilemmata
  • 2.6.4 Gesteuerte Transformationsprozesse
  • 2.7 Abgeleitete Hypothesen
  • 3. Wurzeln der strategischen Kultur Russlands
  • 3.1 Prägende Rahmenfaktoren
  • 3.1.1 Das geografische Faktum
  • 3.1.2 Ethnische Faktoren
  • 3.1.3 Das Erbe Byzanz‘
  • 3.2 Vom Kiever Reich bis zum Ende des Zarentums Russland
  • 3.2.1 Wesentliche gesellschaftliche und außenpolitische Ereignisse
  • 3.2.2 Zusammenführung der Zwischenergebnisse
  • 3.3 Russisches Kaiserreich (1721-1917)
  • 3.3.1 Wesentliche gesellschaftliche und außenpolitische Ereignisse
  • 3.3.2 Zusammenführung der Zwischenergebnisse
  • 3.4 Sowjetunion (1920-1991)
  • 3.4.1 Wesentliche gesellschaftliche und außenpolitische Ereignisse
  • 3.4.2 Zusammenführung der Zwischenergebnisse
  • 4. Russlands strategische Kultur heute – Kontinuität oder Bruch?
  • 4.1 Russlands Eliten: tief verankert im Realismus
  • 4.2 Umzingelt vom Gegner – Russlands Bedrohungswahrnehmung heute
  • 4.2.1 U.S. Doktrin „Verhinderung des Aufstiegs eines neuen Rivalen“
  • 4.2.2 Russlands außenpolitische Bedrohungswahrnehmung im Lichte der Ereignisse
  • 4.2.3 Russlands innenpolitische Bedrohungswahrnehmung im Lichte der Ereignisse
  • 4.2.4 Die Bedrohungswahrnehmung im Spiegel der Grundlagendokumente und Reden
  • 4.2.5 NATO als Hauptbedrohung?
  • 4.3 Russlands innenpolitischer Entwicklungspfad
  • 4.3.1 Die Suche nach der Russischen Idee
  • 4.3.2 Adjektive der Macht
  • 4.3.3 Artikel 14 der Verfassung – „Die Rußländische Föderation ist ein weltlicher Staat“
  • 4.4 Russlands außenpolitischer Entwicklungspfad
  • 4.4.1 Modell Europa?
  • 4.4.2 Russland als ein Pol in einer multipolaren Welt
  • 4.4.3 Wirtschaft, die wahre Legitimation
  • 4.4.4 Eine nicht-imperiale Großmacht
  • 4.4.5 Der Krieg in Georgien – Ein Beweis für Russlands neoimperiale Bestrebungen?
  • 4.4.6 Die Ukrainekrise – Beginn einer neuen Kälteperiode?
  • 4.5 Zusammenführung der Ergebnisse
  • 5. Erfordernis einer konfliktsensiblen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der Russischen Föderation
  • 5.1 Die Bedeutung der Handlungsmotive
  • 5.2 Das Konzept der kooperativen Sicherheit als Schlüssel zum Erfolg
  • 5.3 Beachtung der Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung
  • 5.4 Pluralismus im internationalen System
  • 5.5 „Regional Governance“
  • 6. Zusammenführung der Ergebnisse
  • 6.1 Zur Theorie
  • 6.2 Erkenntnisse aus der Untersuchung der Epochen
  • 6.3 Probleme im gemeinsamen Umgang
  • 6.4 Erfordernisse im Umgang
  • Zeittafel
  • Literatur und Quellenverzeichnis
  • Zusammenfassung
  • Summary
  • Заключение

← xii | xiii →Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:Parameter der strategischen Kultur nach Johnston

Abbildung 2:Parameter der russischen strategischen Kultur

Abbildung 3:Das „system of symbols“ prägende Einflussfaktoren

Abbildung 4:Parameter der strategischen Kultur in der Epoche des Großfürstentums Moskau / Zarentum Russland

Abbildung 5:Parameter der strategischen Kultur während der Epoche des Russischen Kaiserreichs

Abbildung 6:Parameter der strategischen Kultur während der Epoche der Sowjetunion

Abbildung 7:Bevölkerungsanteil unterhalb des Existenzminimums

Abbildung 8:Militärausgaben 1988-2011, Russland und USA im Vergleich

Abbildung 9:Militärausgaben 1988-2010 in Prozent vom BIP, Russland und USA im Vergleich

Abbildung 10:Popularitätswerte Putins und Medvedevs

Abbildung 11:Entwicklung des realen Einkommenszuwachses

Abbildung 12:Entwicklung des realen BIP

Abbildung 13:Ziele von Großmachtstreben

Abbildung 14:Ausprägung der Parameter der strategischen Kultur

Abbildung 15:Instrumentenmix aus „hard“ und „soft power“← xiii | xiv →

← xiv | xv →Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:Die USA sind

Tabelle 2:Probleme der Gesellschaft

Tabelle 3:Angemessene Strafe für „Pussy Riot“?

Tabelle 4:Haben wir Feinde?

Tabelle 5:Außen- und sicherheitspolitische Grundlagendokumente

Tabelle 6:Konventionelle Balance in Europa

Tabelle 7:Was für ein Staat soll Russland in der Zukunft sein?

Tabelle 8:Passt das westliche Gesellschaftsmodell zu Russland?

Tabelle 9:Bedauern Sie den Zusammenbruch der UdSSR?

Tabelle 10:Hauptgrund, warum der Zusammenbruch der UdSSR bedauert wird

Tabelle 11:Was sollte Russland vor allem sein?

Tabelle 12:Ist Russland gegenwärtig eine Großmacht?

Tabelle 13:Soll Russland wieder Supermacht werden?

Tabelle 14:Internationale Position Russlands

Tabelle 15:Welche Aussage über die Beziehungen Russlands zu anderen Staaten teilen Sie?

Tabelle 16:Welche Politik sollte Russland gegenüber der GUS verfolgen?

Tabelle 17:Welche Form der Beziehungen zwischen den früheren Republiken der UdSSR unterstützen Sie?

Tabelle 18:Welche EU-Werte sind wichtig für die Bevölkerung?

Tabelle 19:Beziehungen zum Westen← xv | xvi →

← xvi | xvii →Abkürzungsverzeichnis

ABM-Vertrag

Anti-Ballistic Missile Vertrag

AD

Air Defense

ALTBMD

Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BM

Ballistic Missile

BMD

Ballistic Missile Defense

ENP

Europäische Nachbarschaftspolitik

CIS

Commonwealth of Independent States (deutsch: GUS)

CFE Treaty

Treaty on Conventional Armed Forces in Europe

DPG

Defense Planning Guidance

EU

Europäische Union

EurAsEC

Eurasian Economic Community

GPV

gosprogramma vooruženija (Staatliches Rüstungsprogramm)

GUS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (englisch: CIS)

ICBM

Intercontinental Ballistic Missile

INF

Intermediate Range Nuclear Forces

Jh.

Jahrhundert

KSE-Vertrag

Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa

KSZE

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

MAP

Membership Action Plan

MGIMO

Moskovskij gosudarstvennyj institut meždunarodnych otnošenii MID Rossii (Moskauer Staatliches Institut für Internationale Beziehungen des russischen Außenministeriums)

MKV

Multiple Kill Vehicle

Mrd.

Milliarden

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NGO

Non-Governmental Organization

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

OVKS

Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit

PfP

Partnership for Peace

PNSD

Presidential National Security Directive

RSFSR

Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik

SALT

Strategic Arms Limitation Talks

SDI

Strategic Defense Initiative

← xvii | xviii →SOZ

Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

USAID

United States Agency for International Development (Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung)

U.S.S.R.

Union of Soviet Socialist Republics

VN

Vereinte Nationen

WTO

World Trade Organization

← xviii | xix →Russischsprachige Begriffe

Zur gewählten Schreibweise siehe u.a. Anmerkung.

Duma

Eine der beiden Kammern der russischen Föderalen Versammlung und gleichzeitig Parlament

gosprogramma vooruženija

Staatliches Rüstungsprogramm

kontrakniki

Zeit- und Berufssoldaten

korenizacija

Indigenisierung

landšaftnoe soznanie

Durch die Landschaft geprägtes Bewusstsein

narodnost‘

Umschreibung für „Einheit des Volkes über die Grenzen der Ethnien hinweg“

opričnina

1. Staatsterror zu Zeiten Ivan IV. zur Niederhaltung der Bojaren und Fürsten
2. Speziell verwaltetes Gebiet, direkt Ivan IV. unterstellt

pomest‘e

Land, das der Adel aufgrund seiner Dienste besaß

raskol

Kirchenspaltung

raskol’niki

Abtrünnige der religiösen Gemeinschaft (hier: Altgläubige)

semskij sobor

Ständeversammlung im 16./17. Jahrhundert

smuta

Zeit der Wirren

Svjataja Rus‘

„Heiliges Russland“

simfonija

Enges Zusammenspiel von Kirche und Staat

symphonia

Siehe: simfonija

votčina

Land, das der Adel vererben konnte

veče

Volksversammlung im mittelalterlichen Russland

← xix | xx →Anmerkung: Die Transliteration erfolgt nach den Regeln für die alphabetische Katalogisierung in wissenschaftlichen Bibliotheken RAK-WB.1 Die eine Ausnahme bilden Namen sehr prominenter Persönlichkeiten, deren Schreibweise in deutschsprachigen Texten tradiert ist. Hier wird die Schreibweise verwendet, welche den Usus darstellt. Die andere bilden Namen von Autoren, deren Texte auf Deutsch oder Englisch vorlagen. Diese wurden in der Regel in der Schreibweise des jeweiligen Herausgebers belassen. In Zitaten ist die jeweilige Schreibweise beibehalten worden.

________

1 Deutsche Nationalbibliothek (2007): Regeln für die alphabetische Katalogisierung in wissenschaftlichen Bibliotheken RAK-WB, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage (einschließlich der Aktualisierungen nach der 4. Ergänzungslieferung), Stand des Regelwerkstextes: April 2006, Leipzig, Frankfurt am Main, Berlin, S. 427.

← xx | 1 →1. Einleitung

„Alle fünf Jahre ändert sich in Russland alles, aber in 200 Jahren ändert sich nichts.“

Russisches Sprichwort

„No matter what Russia may be – imperial, communist or democratic – they see us with the same eyes as they did in the previous centuries.»

Rogosin, Dmitrij Olegovič, ehem. russischer NATO-Botschafter2

Ist das Denken, Fühlen und Handeln Russlands3 tatsächlich so tief in seiner wechselvollen Geschichte verwurzelt, dass Änderungen nur an der Oberfläche stattfinden? Wird Russland deshalb auch stets durch die gleiche alte Brille betrachtet? Ist eine Anpassung Russlands hin zu einem verantwortungsvollen und berechenbaren Akteur in einer multipolaren Welt möglich oder ist das Land gefangen in seiner Geschichte?

Es stellen sich viele Fragen, die vor dem Hintergrund unterschiedlichster Wahrnehmungen Russlands betrachtet werden wollen und auf die in dieser Arbeit mit Hilfe des Konzepts der strategischen Kultur eine Antwort gesucht wird.

Das Bild Russlands wird derzeit fast ausschließlich durch die Annexion der Krim im März 2014 sowie die fortdauernde Krise in der Ostukraine geprägt. Vielfach wird die Gefahr eines Wiederaufflammens des Kalten Krieges gesehen. Analogien zu den Interventionen der Sowjetunion werden gezogen. In den Jahren zuvor war die Wahrnehmung Russlands vielfach bestimmt durch die massive russische Intervention in Georgien im August 2008 bei der die strategische Konkurrenz mit den USA offene Formen annahm, die vehemente Ablehnung eines Raketenabwehrsystems in Europa und die russischen Vetos im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen Resolutionen, die die Gewalt des Assad-Regimes in Syrien deutlich verurteilen sollten. Die Stimmen, die den von U.S. Vizepräsident Biden bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2009 ausgerufenen „reset“4 ← 1 | 2 →bereits vor den Ereignissen in der Ukraine spöttisch zu „regret“5 abwandelten, mehrten sich. Das Bild eines großen ungezügelten Bären, der mit seinen Klauen die Nachbarstaaten greift, setzte sich fest.

Auch die innenpolitische Entwicklung Russlands deutet für viele Beobachter auf eine dauerhafte Abkehr des Landes vom Westen hin. Meist wird nicht diskutiert, ob diese Abkehr stattgefunden hat, sondern nur, wann. Das heißt, ob sie mit der Verhaftung von Michail Chodorkovskij im Jahr 2003 begann, mit Präsident Putins Brandrede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 oder mit der Unterdrückung der Oppositionsbewegung nach den Wahlen zur Duma im Jahr 2011. So gar nicht zu den liberalen Werten säkularer westlicher Demokratien schienen zu passen: Der von Putin vorangetriebene Aufbau einer „Vertikale der Macht“, der einherging mit einer weitgehenden Kontrolle beziehungsweise Überwachung der wichtigsten Massenmedien zur besseren Lenkung der Gesellschaft; der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag, welcher der Bevölkerung Stabilität, Wohlstand und ein Gefühl neuer russischer Größe im Tausch gegen einen Politikverzicht der breiten Masse geben sollte; die Politik der festen Hand seitens des Kremls sowie die Stigmatisierung Andersdenkender, um die autoritäre Macht einer kleinen, von der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützen, Elite abzusichern.

Aber zeigte sich in dieser Phase nicht auch noch ein anderes Russland? Ein Russland, das sich im April 2009 gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika dazu verpflichtete, eine nuklearwaffenfreie Welt anzustreben?6 Ein Russland, dem es gelang, nach zähen und schwierigen Verhandlungen am 8. April 2010 in Prag ein Nachfolgeabkommen zum am 5. Dezember 2009 ausgelaufenen ← 2 | 3 →START I-Vertrag zu unterzeichnen und dieses im Januar 2011 zu ratifizieren? Ein Russland, dessen damaliger Verteidigungsminister Serdjukov gemeinsam mit seinem amerikanischen Amtskollegen Gates während eines Treffens in Washington (14./15. September 2010) ein Memorandum of Understanding unterschrieb, in dem es darum geht, die Sicherheits- und Verteidigungskooperation auf das Niveau der Zusammenarbeit in anderen Bereichen zu bringen?7 Ein Russland, das in der Lage war, sich mit den USA auf ein „Framework for Elimination of Syrian Chemical Weapons“ zu einigen?8 Und wie kooperations- und integrationsfähig ist „der Westen“9 überhaupt gegenüber Russland? Nahezu völlig in Vergessenheit geriet die Kernfrage, wie eine dauerhafte gesamteuropäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands geschaffen werden kann. Galt Anfang der 1990er Jahre die von Bundesaußenminister Genscher formulierte Prämisse, dass die deutsche Einheit nicht ohne die europäische Einigung vollendet sei, deutsche Einheit und europäische Einigung somit zwei Seiten einer Medaille seien10, so konzentrierte sich seit dem Zerfall der Sowjetunion die Diskussion mehr und mehr auf Probleme der Tagespolitik. Die im Rahmen der 2+4 Verhandlungen unausgesprochene Zusage an die Sowjetunion, das Land in Europa zu integrieren, wurde nicht erfüllt. Kein Wunder, waren den Realpolitikern doch nach und nach ihre Instrumente zur Erreichung des Ziels eines einigen Europas, das über die Grenzen der Europäischen Union hinausgeht, weggebrochen.

In Folge des Zerfalls der Sowjetunion nahm die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nicht nur die ehemaligen mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion auf, sondern auch noch die Nachfolgestaaten des früheren sowjetischen Imperiums. All diese Staaten waren zunächst darum bemüht, ihre wiedergewonnene Souveränität auszugestalten ← 3 | 4 →und eine eigenständige Außenpolitik zu formulieren. Der Gedanke an eine neue, ihren ehemaligen „Unterdrücker“ integrierende Sicherheitsordnung war ihnen meist völlig fremd. Sie orientierten sich vorwiegend transatlantisch. Den von Russland wiederholt vorgebrachten Wunsch, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu erarbeiten, lehnten sie ab. Von den westlichen Staaten wurde diese Thematik in die OSZE „abgedrängt“ und dümpelt seit dem Scheitern des OSZE-Gipfels in Astana (1./2. Dezember 2010)11 vor sich hin. Die zukünftigen Vorsitzen auferlegte Erarbeitung eines konkreten Aktionsplanes zur Verwirklichung einer umfassenden, kooperativen und unteilbaren Sicherheitsgemeinschaft im OSZE-Raum kommt nur schwer voran. Laut waren bereits im Vorfeld die Vorwürfe aus den USA und den osteuropäischen Staaten, es ginge Russland nur um die Schwächung der NATO und die Sicherung seines Herrschaftsanspruchs im postsowjetischen Raum. Auch andere Vorschläge Russlands zur Änderung des Institutionengefüges wurden zurückgewiesen, wie beispielweise jener zur Reform des Internationalen Währungsfonds, mit dem Vorwurf, Russland beabsichtige nur, die eigene Rolle auf der Weltbühne aufzuwerten.12

Gab es in den 1990ern zunächst noch widerstreitende Lager, die mal die NATO, mal die Europäische Union (EU) als Kern der europäischen Integration sahen, war doch beiden Ansätzen gemein die Unterschätzung der Aversion, ja teilweise des Hasses der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise deren Nachfolgestaat – der Russischen Föderation. Die ablehnende Haltung der neuen Mitgliedstaaten verhinderte jeglichen Konsens in den Bündnissen über eine Integration Russlands in Europa, machte nahezu jede konstruktive Annäherung zunichte. Nicht nur aufgrund der Auflösung der bipolaren Weltordnung, sondern auch aufgrund dieses Verhaltens wurde der Zusammenbruch der Sowjetunion ein bedeutsames Ereignis für die strukturelle Stabilität des internationalen Systems. Bis in die Gegenwart wirkt die gemeinsame Geschichte der neuen souveränen Nachbarstaaten mit der Sowjetunion nach und wurde 2008 durch den Krieg in Georgien nochmals vertieft. ← 4 | 5 →Geradezu reflexhaft stellten sich viele mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten auf die Seite Georgiens. Und obgleich man spätestens eineinhalb Jahre nach dem Konflikt mit den Erkenntnissen der Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia13 zweifelsfrei wusste, dass Georgien der Aggressor war, der die ersten Artilleriesalven gegen die südossetische Bevölkerung und die russischen Friedenstruppen abgegeben hat und damit zugleich gegen seine mit dem Sotchi-Agreement eingegangene völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung verstoßen hat, änderte sich an der Haltung der neuen NATO-Mitgliedstaaten nichts. Sie rekurrieren weiterhin auf die aus westlicher Sicht unverhältnismäßige Reaktion Russlands. Deshalb konnte 2010 nur mühsam und auf massiven Druck Deutschlands hin auf dem Gipfel in Lissabon das neue strategische Konzept der NATO verabschiedet werden, das die Russische Föderation als strategischen Partner bezeichnet.14 Der Weg nach Lissabon wurde durch die klar formulierten „10 Punkte für ein strategisches Konzept“ von Bundesverteidigungsminister Jung geebnet.15 Doch der in Lissabon demonstrierte Konsens basierte auf einem Kompromiss, abgetrotzt von den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten. Insbesondere die baltischen Staaten drangen auf NATO-Eventualfallplanungen, die ihre Staaten umfassen sollten. Obgleich diese gegen Russland gerichteten Planungen geheim sein sollten, gelangten sie an die Öffentlichkeit.16 Diese Maßnahmen und Erklärungen sandten eine deutliche Nachricht nach Moskau. Wir trauen Euch nicht! Kurz nach dem Gipfel in Lissabon begannen zudem einige mittel- und osteuropäische Staaten, den verhandelten Konsens klammheimlich auszuhöhlen. Mal wurden technische Bedenken beim Informationsaustausch der Allianz mit Russland vorgebracht, mal wurden möglichst große Volltruppenübungen der NATO an den ← 5 | 6 →Grenzen der Russischen Föderation gefordert17; Nadelstiche, die russische Reaktionen provozieren sollten – und dies auch taten. Das neben der Ukrainekrise offensichtlichste Hindernis bei der Kooperation zwischen NATO und Russischer Föderation stellt der Aufbau eines NATO-Raketenabwehrsystems dar. Russland sieht durch dieses System langfristig seine nukleare Zweitschlagkapazität und damit die ultimative Garantie seiner Souveränität gefährdet. Es misstraut Äußerungen der NATO-Mitglieder, dass das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet sei.

In der Europäischen Union ist bislang kein substantielles Vorankommen bei der Neuverhandlung des 2007 ausgelaufenen und seitdem nur auf jährlicher Basis verlängertem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1997 oder dem für die Integration Russlands so wichtigen Schritt einer Abschaffung der Visapflicht zu erkennen. Russland hat sich wiederholt bereit erklärt, umgehend alle Visabeschränkungen abzuschaffen, sollte die EU bereit sein, den gleichen Schritt zu gehen. Noch behindern nicht zeitgemäße Visaregelungen den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch sowie das Kennenlernen der Menschen. Gerade Letzteres galt bei der Annäherung der Erbfeinde Deutschland und Frankreich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges als eines der wirksamsten Mittel zur Überwindung der tiefen Kluft zwischen den Völkern.

Russlands Rolle in den Vereinten Nationen wird von den einen als Blockademacht beschrieben18, von den anderen als unabhängig, ziemlich aktiv bei der Formulierung der Positionen des Sicherheitsrates und der Unterstützung regionaler zwischenstaatlicher Organisationen, die in Übereinstimmung mit der Strategie der Vereinten Nationen regionale Sicherheit fördern.19 Größte Hindernisse bei der Kooperation im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind derzeit die unterschiedlichen Perzeptionen der Intervention in Libyen und – eng damit verbunden – die abweichenden Vorstellungen zum weiteren Vorgehen im Falle Syriens.

← 6 | 7 →Unversöhnlich stehen sich zwei Sichtweisen auf Russland gegenüber. Während beispielsweise der damalige georgische Präsident Miheil Saakašvili die Furcht vor der Rückkehr eines imperialistischen Russlands, „[that would] rebuild its empire, seize greater control of Europe’s energy supplies and punish those who believed democracy could flourish”20, nährte und auch die damalige amerikanische Außenministerin Clinton die russischen Anstrengungen, eine größere wirtschaftliche Integration in Eurasien zu erreichen, als „move to re-Sovietize the region“ bezeichnete,21 weisen andere darauf hin: „it is more likely that Russia’s strategic aims are modest, largely confined to its own neighbourhood, and typical for a major power”22. Moskaus Handeln wird eher als eine Reaktion auf das Agieren des Westens im postsowjetischen Raum wahrgenommen. Je nachdem, welche der beiden Sichtweisen zutreffend ist, ergeben sich aus neorealistischer Sicht für die Interaktion mit Russland unterschiedliche Antworten.

Im ersten Fall wäre eine harte Haltung gegenüber weiteren russischen Vorstößen, verbunden mit nicht verhandelbaren Forderungen nach einer Transformation des russischen politischen Systems, angebracht. Eine außen- und sicherheitspolitische Annäherung an Russland könnte frühestens dann erzielt werden, wenn Russland eine nach westlichem Verständnis freiheitliche Demokratie geworden ist. Dieser Ansatz birgt allerdings die Gefahr eines Zirkelschlusses. Lukjanow weist darauf hin, dass die Transformation eines Landes erschwert wird, wenn es Objekt der globalen Konkurrenz wird. „Die Einmischung von außen kann die internen Prozesse unterschiedlich beeinflussen, sie kann den Regimewechsel beschleunigen, aber auch das alte Regime konservieren und Wandel verhindern. In beiden Fällen hat das für die Modernisierung verheerende Folgen.“23

Aus Sicht derjenigen, die das Wiederaufleben eines imperialen Russlands nicht befürchten, böten dagegen ernsthafte Verhandlungen für eine mittel- und ← 7 | 8 →langfristige Integration Russlands in euroatlantische Strukturen einen konstruktiven Ansatz. Für eine Phase des Übergangs müsste mit einem Staat kooperiert werden, der von manchem westlichen Staat als faktische Autokratie eingestuft wird. Langfristig könnte so aber eine tiefgreifende Transformation Russlands und ganz Europas erreicht werden, Russland sich als verantwortungsvoller Akteur auf der internationalen Bühne etablieren. Voraussetzung ist eine konfliktsensible Kooperation, die russische Interessen berücksichtigt und – behutsam – eine demokratische Entwicklung der Gesellschaft unterstützt.

Zudem entsteht der Eindruck, die Akteure des täglichen politischen Geschäfts bekommen heutzutage die minutenaktuellen Soundbites der internationalen Politik per Twitter und Liveticker, aber kaum einer hört noch die Melodie. Diese Arbeit soll einen Beitrag leisten, das übergeordnete Ganze und die es bestimmenden Grundströmungen klarer zu erkennen, damit politische Entscheidungen losgelöst von tagespolitischen Ereignissen getroffen werden können. Nur so kann eine handlungsleitende Strategie entwickelt werden.

1.1 Fragestellung der Studie

Die beschriebenen meist neorealistisch geprägten Erklärungsansätze russischen Handelns scheinen nicht in der Lage zu sein, die Verhaltensweisen Russlands hinreichend zu erfassen. Zu häufig herrscht entweder Unverständnis über außen- und sicherheitspolitische Reaktionen Russlands oder werden diese unterschiedlich, teils sogar gegensätzlich interpretiert. Daher werden manchmal auch Begriffe aus der Psychologie verwendet, um russisches Verhalten zu erklären. Von „kindlicher Rebellion“, „Hysterie“, „verletztem Ego“, „paranoiden, aggressiven Impulsen“, „Borderline-Persönlichkeit“ oder „Paranoia“ ist die Rede.24 Der Übertragung von bei Individuen beobachtbaren klinischen Krankheitsbildern auf Staaten als Akteure im internationalen System wird in dieser Arbeit nicht weiter gefolgt. Die Nutzung psychologischer Begriffe wird eher als attributive Beschreibung beobachteten Verhaltens gewertet.

Details

Seiten
XX, 484
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060454
ISBN (ePUB)
9783653955033
ISBN (MOBI)
9783653955026
ISBN (Hardcover)
9783631669464
DOI
10.3726/978-3-653-06045-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Ukrainekrise Multipolare Welt Kooperative Sicherheit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XX, 484 S., 15 farb. Abb., 19 Tab.

Biographische Angaben

Norbert Eitelhuber (Autor:in)

Norbert Eitelhuber ist Diplom-Kaufmann und erwarb einen Master of Advanced Studies in International and European Security an der Universität Genf. Seine Promotion schloss er an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg ab. Er ist Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr. Zuvor war er u. a. Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.

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