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Linksextreme Einstellungen und Feindbilder

Befragungen, Statistiken und Analysen

von Monika Deutz-Schroeder (Autor:in) Klaus Schroeder (Autor:in)
©2016 Andere XII, 412 Seiten

Zusammenfassung

Die Autoren analysieren Strukturen und Entwicklungslinien des aktuellen Linksextremismus. Durch die Auswertung einer repräsentativen Umfrage und durch Befragungen von Jugendlichen zu linksextremen Einstellungen gelangen sie zu einer Charakterisierung von Linksextremisten und ihren zentralen Themenfeldern. Beispielhaft beleuchten sie Hassbotschaften sowie alte und neue linksextreme Feindbilder. Die Autoren halten fest, dass Linksextremisten zwar einen gewissen Einfluss innerhalb linker Milieus haben, von der Öffentlichkeit aber wenig Beachtung erfahren. Obwohl Linksextremisten den Rechtsstaat ignorieren und Pluralismus sowie parlamentarische Demokratie verachten, wird politisch links motivierte Gewalt weiterhin unterschätzt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Reaktionen auf Forschungsergebnisse
  • Forschungsstand
  • Aufbau der Studie
  • I. Repräsentative Befragung zu linksextremen Einstellungen und politisch motivierter Gewalt – eine vertiefte Analyse
  • 1. Die Linksextremismusskala
  • 2. Aussagen über Demokratie und Gesellschaft
  • 3. Aussagen zur Wirtschaftsordnung und politischen Ordnung
  • 4. Aussagen zu „Rassismus“ und „Ausländerpolitik“
  • 5. Aussagen zu einem ideologisch geprägten Geschichtsbild
  • 6. Politisch motivierte Gewalt
  • 7. Charakterisierung von Linksextremisten
  • 8. Verbreitung linksextremer Einstellungen
  • 9. Fazit
  • 10. Einordnung der empirischen Ergebnisse
  • II. Kontinuitäten und Brüche des Linksradikalismus/Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland
  • 1. Der Blick zurück
  • Wie wurde man „linksradikal/linksextrem“?
  • Politisierungsprozesse
  • Marxistische Theorie und Praxis
  • Die Gewaltfrage
  • Die Bewertung der Bundesrepublik
  • Was ist geblieben?
  • 2. Linksaffine Jugendliche heute
  • Systemwechsel?
  • 3. Fazit
  • III. Strukturen und Entwicklungslinien des aktuellen Linksextremismus
  • 1. Themen- und Aktionsfelder
  • Flüchtlingsströme und Asyl
  • Die Anschläge in Paris und die extreme Linke
  • 2. Linksextreme Gruppen und Parteien
  • Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen linksextremen Gruppen und Parteien
  • 3. Demokratieverachtung
  • Deutschland verrecke
  • We love Volkstod
  • Fehlwahrnehmungen
  • 4. Hassbotschaften
  • 5. Politisch motivierte Gewalt von „links“ und „linksextrem“
  • 6. Die Gewaltstatistik von BiblioLinX
  • Politisch motivierte Gewaltübergriffe
  • Leipzig
  • Frankfurt/Main
  • Berlin
  • Begründungen für Gewalttaten und mangelnde Distanzierung
  • Berichterstattung über Gewalttaten
  • Gewaltphantasien im linken Umfeld
  • 7. Fazit
  • IV. Alte und neue Feindbilder
  • 1. HU.BLOGSPORT als Beispiel für den Umgang mit unbequemen Wissenschaftlern
  • 2. Professoren im Visier von Linksextremisten
  • Jörg Baberowski
  • Michael Makropoulos
  • Herfried Münkler
  • Mediale Reaktionen
  • 3. Fazit
  • V. Politische Einstellungen linksradikaler/linksextremer Jugendlicher
  • 1. Politisierungsprozesse
  • 2. Themenfelder
  • Soziale (Un-)Gerechtigkeit
  • Rechtsextremismus und Antifaschismus
  • Flüchtlinge/Asylpolitik
  • Umwelt/Klima
  • 3. Deutschland – eine Demokratie?
  • 4. Soziale Marktwirtschaft?
  • 5. Grenzen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit?
  • 6. Systemwechsel?
  • 7. Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele?
  • 8. Links- und Rechtsextremismus gleichsetzen?
  • 9. Ergänzende Fragen
  • 10. Fazit
  • VI. Befragung von jugendlichen Besuchern in verschiedenen DDR-Gedenkstätten
  • 1. Erste Befragung im Stasimuseum (2014)
  • Aufbau des Fragebogens
  • Auswertung
  • Der erste Teil der Befragung – vor der Führung
  • Kenntnisse über DDR und Stasi
  • Das politische System der DDR
  • Der zweite Teil der Befragung – nach der Führung
  • Die SED und ihre Ideologie
  • Gefährdung der Demokratie
  • Zwischenfazit
  • 2. Zweite Befragung im Stasimuseum (2015)
  • Kenntnisse über DDR und Stasi
  • Politische Selbsteinstufung
  • Das politische System der DDR
  • Sozialismus/Kommunismus
  • Demokratie und Diktatur
  • Linksextremismus/Linksradikalismus
  • DDR-Bild
  • Die SED und ihre Ideologie
  • Sozialistische/kommunistische Ideen und Gruppen
  • Gefährdung der Demokratie
  • Nachwirkungen des Gedenkstättenbesuchs
  • Bedeutung von Gedenkstätten
  • Zwischenfazit
  • 3. Befragung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen 2015
  • Kenntnisse über DDR und Stasi
  • Politische Selbsteinstufung
  • Das politische System der DDR
  • Sozialismus/Kommunismus
  • Demokratie und Diktatur
  • Linksextremismus/Linksradikalismus
  • DDR-Bild
  • Die SED und ihre Ideologie
  • Sozialistische/kommunistische Ideen und Gruppen
  • Gefährdung der Demokratie
  • Nachwirkungen des Gedenkstättenbesuchs
  • Zwischenfazit
  • 4. Fazit
  • VII. Fazit und Ausblick
  • Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
  • Literatur
  • Personenverzeichnis
  • Reihenübersicht

Vorwort

Dieses Buch fasst weitere Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu „demokratiegefährdenden Potenzialen des Linksextremismus“ zusammen, das von März bis Dezember 2015 im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde. Es knüpft an die im Februar 2015 veröffentlichte Studie an (Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder: Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt/Main u. a. 2015). Dabei ging es um eine vertiefte Analyse der repräsentativen Befragung zu linksradikalen/linksextremen Einstellungen sowie zu verschiedenen Dimensionen von Linksradikalismus und Linksextremismus. Wir danken den Personen, die für uns Interviews durchführten und die Ergebnisse systematisierten. Ein Dank gilt auch Frau Sara Sponholz, die die Schaubilder fertigte und einige Hintergründe recherchierte.

Unser Dank gilt zudem allen Personen, die sich für ein Interview zu ihren politischen Einstellungen bereit erklärten. Wie im ersten Teil der Studie sicherten wir ihnen Vertraulichkeit und Anonymität zu. Wie nun schon seit fast drei Jahrzehnten verdanken wir Frau Cornelia Bronder die Fertigstellung des Forschungsberichts. Sie schrieb mit gewohnter Präzision und Sorgfalt nahezu alle Teile des Manuskripts und viele Vorarbeiten. Hierfür verdient sie einen ganz besonderen Dank!

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend förderte das Projekt im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben“. Dem für uns im Ministerium zuständigen Herrn Thomas Heppener danken wir für die angenehme Zusammenarbeit; er hat sich weder in die Zielrichtung noch in die Methode des Projektes eingemischt.

Berlin, im April 2016

Monika Deutz-Schroeder Klaus Schroeder

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Einleitung

Die Veröffentlichung der Ergebnisse unserer repräsentativen Befragung zu linksradikalen/linksextremen Einstellungen im Februar 2015 hat ein starkes mediales Echo ausgelöst. Unsere Presseerklärung,1 die die wesentlichen Ergebnisse zusammenfasste, diente dabei als Vorlage. Das zur gleichen Zeit erschienene Buch, in dem diese Ergebnisse ausführlich und differenziert eingeordnet werden, blieb dagegen anfangs weitgehend unbeachtet.2 Dies dürfte der wesentliche Grund dafür sein, dass die meisten Reaktionen auf unsere Forschungsergebnisse verzerrt oder verkürzt ausfielen.

Reaktionen auf Forschungsergebnisse

Viele Medien veröffentlichten ausgewählte spektakuläre Ergebnisse, ohne sie in den Kontext der von uns konstruierten Linksextremismusskala zu stellen. So entstand bei vielen Lesern und Rundfunkhörern der Eindruck, wenn sie einem Statement, zum Beispiel „Unsere parlamentarische Demokratie ist keine echte Demokratie, da die wirtschaftlich Mächtigen alles bestimmen“, zustimmten, gelten sie schon als linksextrem. In den meisten Ausführungen und Kommentaren fehlten auch Hinweise auf die vierstufige Antwortmöglichkeit.

Unsere Einschätzung, der aktuelle Linksextremismus sei keine Bedrohung für die politische Stabilität der Bundesrepublik, aber viele Versatzstücke eines linksextremen Denkens seien in Teilen der Mehrheitsbevölkerung angekommen, ohne dass diese es immer als linksextrem assoziieren würde, ist weitgehend untergegangen. Wir haben versucht, dies in einigen Beiträgen und Interviews zu korrigieren.3 Die meisten Kommentare gaben richtig ← 1 | 2 → wieder, dass sich in vergleichsweise hohen Zustimmungen zu einzelnen Aspekten ein großes Unbehagen mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen in unserer Gesellschaft ausdrückt. Die Akzeptanz der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung ist nicht selbstverständlich. Sie kann jederzeit nach rechts oder links kippen. Aus dieser Unzufriedenheit, die nicht nur nach unseren Ergebnissen im Osten dramatisch höher ist, speisen sich neben dem Linksextremismus auch Links- und Rechtspopulismus.4

Im Internet kommentierten ebenfalls viele Personen/Gruppen die Ergebnisse der Studie. Während sich liberale und konservative Kommentatoren in ihren Auffassungen zum Linksradikalismus/Linksextremismus weitgehend bestätigt fühlten, äußerten linke bis linksextreme prinzipielle Zweifel an der Möglichkeit, Linksextremismus zu messen. Zum einen sind sie der Meinung, Linksextremismus gebe es überhaupt nicht, zum anderen würde eine Zustimmung zu den meisten Statements der Skala nur die Realität widerspiegeln. Selbstverständlich führe Kapitalismus zum Faschismus, selbstverständlich drohe ein neuer Faschismus, selbstverständlich führe die Überwachung zu einer neuen Diktatur, selbstverständlich sei der Sozialismus/Kommunismus eine lebenswerte Alternative zu heutigen Zuständen.5 Für sie waren die Ergebnisse also nur eine Bestätigung ihrer ideologisch konstruierten Sicht auf Staat und Gesellschaft. ← 2 | 3 →

Eine reichlich konfuse Kurzbesprechung der Studie schrieb Armin Pfahl-Traughber, der ein für den schnellen Leser informatives, aber blutleeres und empirisch unbelastetes Buch zum Linksextremismus vorgelegt hat.6 So behauptet er zum Beispiel, „andere Teilergebnisse hätten darüber hinaus noch selbstkritische Reflektionen motivieren können: 20 % der Bevölkerung fordern demnach eine Revolution zur Verbesserung von Lebenslagen, aber zwei Drittel bzw. die Hälfte der Linksextremisten sollen dagegen sein?“7 Tatsächlich aber stimmen 65 % bzw. 54 % der von uns als linksextrem oder linksradikal charakterisierten Personen diesem Statement zu.8 Offensichtlich fällt es dem Autor schwer, mit empirischen Ergebnissen und ihrer Interpretation umzugehen; auch scheint er das Skalenprinzip nicht verstanden zu haben, wenn er behauptet, „nicht alle vorhandenen Positionen sind linksextremistisch im Sinne der Definition“.9

Im Portal für Politikwissenschaft schreibt Dirk Burmeister, wir hätten ein „echtes Standardwerk vorgelegt“. Darüber hinaus sei es innovativ, nicht nur den militanten Linksextremismus zu thematisieren, sondern auch die Verbreitung linksextremer Einstellungen in der Gesellschaft zu erörtern.

„Letzteres fehlt bei etlichen anderen Arbeiten, die sich häufig an der Extremismusdefinition des Verfassungsschutzes orientieren.“

Das Werk schließe „eine wesentliche Lücke in der Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus“.10

Ein sich durchziehender Vorwurf an den Ergebnissen der Studie von linker Seite ist die Behauptung, Extremismusforschung sei keine Wissenschaft, sondern „staatskonforme Ideologieproduktion“.11 ← 3 | 4 →

Reflektiertere Linke äußern sich ebenfalls skeptisch zu den Ergebnissen bzw. ihrer Interpretation, weisen jedoch auch darauf hin, dass das

Unter den Kritiken von linksradikaler/linksextremer Seite sticht die des FU-AStA hervor. Auf Basis der Presseerklärung behauptet er:

„Damit wird durch den Forschungsverbund SED-Staat, der für seine anti-linken Hetztiraden bereits bestens bekannt ist, nicht nur die umstrittene Extremismustheorie vertreten, sondern auch die vermeintlich wissenschaftliche Grundlage dafür geliefert, einen breiten Teil unserer Gesellschaft zu kriminalisieren.“

Wie der AStA zu der „Erkenntnis kommt: Vor allem sind es die sozial Benachteiligten, die nun durch die Ergebnisse der Studie kriminalisiert werden sollen“, bleibt sein Geheimnis. Die Verteidigung der gegebenen politischen Ordnung, die Meinungsfreiheit auch für die obskuren Positionen des FU-AStA miteinschließt, ist für selbigen Anlass, die Schließung des Forschungsverbundes SED-Staat zu fordern.13 Die MLPD bewertet die Ergebnisse der repräsentativen Befragung als Hoffnungszeichen für die eigene revolutionäre Arbeit.

Die NPD sieht sich durch die Ergebnisse der Studie ebenfalls in ihrer Kritik an den herrschenden Zuständen bestätigt. Insbesondere die weit verbreitete Kritik am Einfluss der Wirtschaft auf die Demokratie bestätige ihre Politik.

„Die NPD sieht sich durch die wachsenden Zweifel an der real existierenden Demokratie in Deutschland in ihrer Auffassung bestätigt, dass es grundlegender Veränderungen bedarf. […] Der Einfluss von Lobbyisten muss zurückgedrängt werden, indem Korruptionsregister auf allen Ebenen eingeführt werden, mit denen Transparenz geschaffen wird und problematische Akteure vom politischen Entscheidungsprozess ferngehalten werden. […] Nicht die NPD ist eine Gefahr für die Demokratie, die Demokratie muss vor den etablierten Parteien sowie machtgierigen Lobbyisten geschützt werden!“15

Viele linke bis linksextreme Kommentatoren, die auf die Studie eingehen, betonen die Relativität der Charakterisierung von Strömungen als extremistisch.

„Genau hier liegt der blinde Fleck des Extremismusdiskurses. Die herrschende politische Ordnung und die dazugehörige Mehrheitshaltung werden zugleich als ‚normaler‘, gültiger und zu schützender Zustand akzeptiert und bewertet. Als ‚extremistisch‘ werden lediglich jene Teile eines politischen Spektrums gekennzeichnet, von denen eine (vermeintlich) aktive Gefährdung der Grundwerte der zurzeit herrschenden politischen Ordnung angenommen wird. Ob die Mehrheitshaltung selbst extremistisch ist, kann unter solchen Bedingungen auch dann nicht wahrgenommen werden, wenn sie die politische Ordnung und deren Verfassung de facto von innen heraus auflöst.“16 ← 5 | 6 →

Nach dieser Logik ist die herrschende politische und gesellschaftliche Ordnung extremistisch bzw. totalitär. Antidemokratisch seien nicht die von uns als „Linksextremisten“ bezeichneten Akteure, sondern die neoliberalen Politiker, die in Deutschland den Wirtschaftsnationalismus eingeführt hätten.

In vielen Kommentaren wird behauptet, wir würden Personen schon als linksextrem etikettieren, wenn sie einem Statement zugestimmt hätten. Ein typisches Beispiel hierfür ist ein Beitrag auf dem Sprachlos-Blog:

Das Neue Deutschland kritisiert nach ähnlichem Muster die Linksextremismusskala, die nur die Realität widerspiegele und nicht linksradikale/linksextreme Einstellungen. Einige Statements seien schon deshalb fragwürdig, weil auch rechtsextrem Eingestellte zustimmen würden, die ebenfalls antikapitalistisch eingestellt seien, aber das sei ein anderer Antikapitalismus als der der Linken, nämlich ein völkischer Antikapitalismus. Für welche Auffassungen Linksextreme ein Alleinstellungsmerkmal haben, erwähnt der Autor leider nicht. Stattdessen kritisiert er uns für die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Ordnung.

„Letztendlich zeigt sich, dass es den Autoren, wie immer bei Extremismus- oder Totalitarismustheorien, um eines geht: um die Legitimation der herrschenden Ordnung aus Marktwirtschaft und freiheitlich-demokratischer Grundordnung. Doch gerade ihre eigenen Ergebnisse hätten die Autoren stutzig machen müssen. Liegt es nicht gerade an diesen Verhältnissen – und nicht an ‚totalitären Ideologien‘ –, die diese Kritik, aus welcher Richtung auch immer, hervorbringen?“18

Die linksradikale Zeitung Der Freitag äußert ebenfalls Zweifel an einigen Statements – offenbar ist auch ihrem Autor das Skalenprinzip nicht geläufig. ← 6 | 7 → Gleichzeitig wird aber hervorgehoben, wie hoch der Anteil der Befragten ist, die den Sozialismus/Kommunismus für eine bisher nur schlecht ausgeführte gute Idee halten, im Osten erstaunlicherweise deutlich mehr als im Westen, obschon die Ostdeutschen den realen Sozialismus ja erlebt hätten. Die Ergebnisse der Studie seien insgesamt eine Ermunterung für die Linke in Deutschland.

Linke „Russlandfreunde“ fühlen sich durch die Ergebnisse ebenfalls bestätigt. Die Bevölkerung würde nun allmählich wach und durchschaue das Gesellschaftssystem bzw. die negativen Folgen der Wirtschaftsordnung.

„Es wird nur das Theaterstück Demokratie aufgeführt, ohne jegliche Konsequenzen. Und das Kapital herrscht über die Herrschenden. Eine schöne, lupenreine Kapitalokratie, die als Demokratie suggeriert wird. Die angeblich so freien und demokratischen Politiker handeln nur im eindeutigen Interesse der Großindustrie – im Grunde genommen sind diese nur der verlängerte Arm, um deren Interessen durchzusetzen. Die Politik hat sich mit der Wirtschaft verbündet und so sind die Politiker zu Marionetten verkommen. […] Seit Jahrzehnten regiert in Deutschland die Wirtschaft im Verbund mit der amerikanischen Regierung. Umgang mit TTIP, der Ukraine und dem NSA-Skandal hat gezeigt, dass in Deutschland und der EU letztlich die Amerikaner die Geschicke des Landes bestimmen. Deutsche Vasallenregierung spielt dieses Spiel auch siebzig Jahre nach Kriegsende, weitgehend mit.“20

In einem ausführlichen Beitrag werfen uns „Lenin-Freunde“ vor, wir seien besorgt, „dass durch die gegenwärtige Dominanz islam- und rechtsextremistischer Themen in der Diskussion der Krieg des bürgerlichen Staates gegen den Kommunismus zu kurz komme“, aber diese Sorge sei unbegründet, da der bürgerliche Staat „als nationales Kriegswerkzeug des Kapitals gegen ← 7 | 8 → die Arbeit gar nicht umhin kann, den Krieg gegen den Kommunismus, den Krieg gegen die Werktätigen, die das Joch der kapitalistischen Lohnarbeit abschaffen wollen, primär und permanent zu führen“. Die von uns und anderen bürgerlichen Wissenschaftlern behauptete „offene Gesellschaft“ gebe es überhaupt nicht. Der Begriff verschleiere, „dass die bürgerliche Gesellschaft kardinal in kapitalistische Herrenmenschen und proletarische Untermenschen gespalten ist“ und überhaupt: Den Kommunismus hätten wir nicht verstanden. Doch einige Ergebnisse der Studie fallen „für die Zukunft des Kommunismus recht positiv aus“.21

Den Vorwurf, wir würden die parlamentarische Demokratie zu Unrecht für eine Demokratie halten, erheben viele linke Kommentatoren. Typisch hierfür ist der Beitrag von Jürgen Meyer „Viele Deutsche denken radikal links – im Osten gar 28 %“. Er konstatiert:

„Man hält also an einem bürgerlichen und altbackenen Demokratiebegriff fest, der Demokratie weitgehend als parlamentarische Demokratie betrachtet. Nur existiert diese Demokratie real gar nicht mehr.“

Perfide sei zudem unsere Differenzierung zwischen radikaler und extremer Linker.

„Offensichtlich geht es darum, die Reformer zu puschen und damit die Spaltung der Linken weiter voranzutreiben. […] Davon sollte sich die Linke nicht beirren lassen und dieser Spaltung der Linken energisch entgegentreten.“22

Die wissenschaftliche und mediale Beachtung des Linksextremismus liegt weiterhin deutlich hinter der des Rechtsextremismus, wie Vergleiche der Treffer auf Google und auf verschiedenen Portalen zur politischen Bildung zeigen. Für das Stichwort „Linksextremismus“ hat Google ungefähr 180.000, für „Rechtsextremismus“ 836.000 Ergebnisse. Für „Rechtsextremismus in Deutschland“ liefert Google 480.000, für „Linksextremismus in Deutschland“ 134.000 Treffer.23 ← 8 | 9 →

Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich 96 mal „Linksextremismus“ und 250 mal „Rechtsextremismus“.24 Deutlich weiter gehen die Ergebnisse auseinander, wird die brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung betrachtet. Für den Suchbegriff „Linksextremismus“ zeigt die Seite 20 Ergebnisse, für „Rechtsextremismus“ 1.840. Auf dem Hauptstadtportal Berlin, das auch die Berliner Landeszentrale für politische Bildung umfasst, lauten die entsprechenden Zahlen 191 („Linksextremismus‘ “) zu 17.400 („Rechtsextremismus“).25

Ein ähnliches Missverhältnis zeigt sich bei den Beständen von Bibliotheken zu Links- und Rechtsextremismus.

„Die zwanzig größten wissenschaftlichen Bibliotheken boten im Zeitraum von Januar bis August 2013 in den Kategorien ‚Rechtsextremismus‘/‘-radikalismus‘ insgesamt knapp zwölfmal so viele Titel wie in den Kategorien ‚Linksextremismus‘/‘-radikalismus‘. An einigen Standorten fielen die Ergebnisse noch drastischer aus. Die Staatsbibliothek Berlin etwa wies für die Suchkombination ‚Rechtsextremismus‘/‘-radikalismus‘ 3.531 Texte aus, jedoch nur 92 Titel für ‚Linksextremismus‘/‘-radikalismus‘ (das entspricht einem Verhältnis von 1: 38,4.“26

Auf der Seite der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin liefern der FU Katalog und die Seite Primo zusammen 197 Ergebnisse für das Stichwort „Linksextremismus“, 1.639 für Rechtsextremismus.27

Wir halten weiterhin an einem modifizierten Extremismusbegriff fest, auch wenn wir durchaus kritische Punkte am Extremismusmodell sehen.28 Für wesentlich halten wir die Annahme, dass sich Extremismus nur relativ von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Ordnung aus definieren lässt. Bewertungsmaßstäbe für extremistische Kräfte sind insofern die Werte einer zivilen Gesellschaft mit einer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Von dieser Warte aus erfolgen unsere Einordnungen und Differenzierungen. ← 9 | 10 →

Politische Bestrebungen, die sich aktiv gegen die in der Verfassung – dem Grundgesetz – niedergelegten Werte und Institutionen richten, charakterisieren wir als extremistisch. Wer den Pluralismus und die parlamentarische Demokratie sowie den Rechtsstaat abschaffen will, wird aus Sicht des demokratischen Verfassungsstaates als Extremist eingeordnet, nicht zuletzt auch dann, wenn er anführt, eine „echte Demokratie“ oder den Kommunismus errichten zu wollen. Hiervon unterscheiden wir „radikale“ Bestrebungen. Wer zum Beispiel die Wirtschaftsordnung grundlegend verändern will, aber Werte und Bestimmungen der Verfassung respektiert, gilt uns als „radikal“ und nicht als „extremistisch“.29

Ein Problem bleibt die genaue Bestimmung der Trennlinien zwischen radikalen und extremen Linken. In linken Milieus verschwimmt diese Differenzierung zugunsten gemeinsamer Aktivitäten gegen die bestehende Ordnung. Wenn linke Gruppen und Personen offen ihr Ziel proklamieren, die bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat zerschlagen zu wollen, um eine neue, anarchistische oder kommunistische Gesellschaft zu errichten, ordnen wir sie als „extremistisch“ ein.

Die Verwendung des Extremismusbegriffs bedeutet für uns keineswegs eine Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Beide unterscheiden sich nach unserer Auffassung in Theorie und Praxis deutlich voneinander; ihre Gemeinsamkeit besteht allerdings im Kampf gegen eine offene, pluralistische Gesellschaft, um diese und den Einzelnen einer verordneten – unterschiedlichen – Weltanschauung zu unterwerfen. Sie lehnen gemeinsam die Pluralität der Interessen, das Mehr-Parteien-System und das Oppositionsrecht ab und hängen weitgehend einem Denken in Freund-Feind-Kategorien an. Sie stehen als extreme Positionen konträr zur Werteordnung einer pluralistischen Gesellschaft.

Unter Bezugnahme auf Norberto Bobbio setzen wir gegen extremistische Einstellungen das Konzept einer „positiven Ungleichheit“ – die Singularität des Einzelnen, die sich von dem (linken) Gleichheitsgedanken, aber auch von der (rechten) anthropologisch gesetzten Ungleichheit unterscheidet.30 ← 10 | 11 → Wir teilen zudem Raymond Arons Wertschätzung der liberalen Gesellschaft und der Freiheit des Individuums. Er bezeichnet den Marxismus-Leninismus als einen Aberglauben, der sich gegen Widerlegung immunisiert hat. Der Westen dagegen lebt und überlebt nur durch den Pluralismus, der ihm immer wieder Anstöße zur Reform und Modernisierung liefert.31

Als entscheidendes Charakteristikum von Linksextremismus sehen wir insofern seine Absicht, politische und soziale Pluralität und Vielfalt abschaffen zu wollen. Das von Linksextremisten propagierte Ziel egalitärer Verhältnisse halten wir – mit Blick auf die Geschichte sozialistischer/kommunistischer Staaten und Gesellschaften – für reine Ideologie in der Bewegungsphase. In der Regimephase spielte Egalität bisher in keiner Weise eine Rolle.32

Forschungsstand

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Linksextremismus fällt weiterhin spärlich aus. Empirische Studien sind Mangelware, theoretisch reflektierte Beiträge erfolgen zumeist nur im Kontext einer richtungsübergreifenden Extremismusdiskussion.33 Nachfolgend werden einige der wenigen Studien kurz skizziert. Die meisten sind aus einer immanenten oder sympathisierenden Perspektive geschrieben und werden engeren wissenschaftlichen Ansprüchen kaum gerecht.

Angesichts des nachwirkenden Schocks durch den Zusammenbruch des realen Sozialismus und der relativen Erfolglosigkeit linker Parteien bemühen sich Linksintellektuelle, mit allgemeinen theoretisch geleiteten Ausführungen „die Idee des Sozialismus“ zu revitalisieren. Axel Honneth beschreibt in einem historischen Rückblick die Entstehung und Entwicklung des sozialistischen Gedankens und entwirft auf dieser Grundlage „die Idee einer demokratischen Lebensform“.34 Er hält die soziale Freiheit für die eigentliche Idee des Sozialismus. ← 11 | 12 →

Zentral ist für ihn die Überwindung sozialer Abhängigkeiten und Exklusionen, nicht nur auf dem ökonomischen Feld, sondern auch in der politischen Sphäre. Er strebt eine Art „Kuschelsozialismus“ an.

„Nur wenn jedes Gesellschaftsmitglied sein mit jedem anderen geteiltes Bedürfnis nach körperlicher und emotionaler Intimität, nach ökonomischer Unabhängigkeit und politischer Selbstbestimmung derart befrieden kann, dass es sich dabei auf die Anteilnahme und Mithilfe seiner Interaktionspartner zu verlassen vermag, wäre unsere Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes sozial geworden.“36

Wie eine derartige Gesellschaft erreicht werden könnte, erläutert Honneth indes nicht, so dass sich der Eindruck aufdrängt, er wolle linke Reformer ermuntern, wieder an das „Projekt Sozialismus“ zu glauben und entsprechende Schritte, etwa eine radikale Umverteilung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ressourcen anzustreben.37

Nachdem viele ehemalige linksradikale Akteure Marx und die kritische Theorie ad acta gelegt hatten, wandten sie sich postmodernen und poststrukturalistischen Autoren zu. Die Schriften von Deleuze, Baudrillard und Co. veröffentlichte der Merve-Verlag. Über die These, Merve habe die Theorielandschaft über zwei Jahrzehnte geprägt, kann man gewiss geteilter Meinung sein, gleichwohl lieferte der Verlag mit seinen Büchern Anstöße, ← 12 | 13 → traditionelles linkes Denken zu durchbrechen oder zu erweitern. Philipp Felsch erinnert in seinem Buch „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990“ an die Faszination von Theorie, die

Details

Seiten
XII, 412
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653070323
ISBN (ePUB)
9783653955873
ISBN (MOBI)
9783653955866
ISBN (Hardcover)
9783631678930
DOI
10.3726/978-3-653-07032-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Linksextremismus politisch links motivierte Gewalt linksextreme Themenfelder Verbreitung linksextremen Gedankenguts
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. XII, 412 S., 11 Tab., 94 Graf.

Biographische Angaben

Monika Deutz-Schroeder (Autor:in) Klaus Schroeder (Autor:in)

Monika Deutz-Schroeder ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund SED-Staat. Ihre Themenschwerpunkte sind die deutsche Teilungs- und Wiedervereinigungsgeschichte, Jugendsoziologie und Extremismus. Klaus Schroeder lehrt als Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 1992 leitet er den Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin.

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Titel: Linksextreme Einstellungen und Feindbilder
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