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Von der Hysterie zur Magersucht

Adoleszenz und Krankheit in Romanen und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende

von Iris Schäfer (Autor:in)
©2016 Dissertation 271 Seiten

Zusammenfassung

Die Adoleszenz geht nicht selten mit psychischen Krankheiten einher; mitunter erscheint sie selbst als eine Krankheit, die überwunden werden muss. Die Nähe von Adoleszenz und psychischer Krankheit ist ein prominentes Thema von Jugenderzählungen und Romanen der Zeit um 1900 und um 2000. Die berücksichtigten deutschsprachigen Adoleszenz- und Krankheitsdarstellungen beider Zeitabschnitte ähneln sich auf erstaunliche Weise. Neigten um die Jahrhundertwende adoleszente Figuren vermehrt zur Hysterie, so leiden sie um die Jahrtausendwende vielfach unter Magersucht. Beide Leiden erscheinen als Strategien, den während der Adoleszenz sich einstellenden psychischen Konflikten zu begegnen, diese zu verarbeiten und durch körperliche Signale nach außen hin sichtbar zu machen. Sowohl die Hysterie als auch die Magersucht kommunizieren über den Körper.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Literatur und Adoleszenz
  • 1.1 Einleitung
  • 1.2 Zur Geschichte der Adoleszenztheorie und des Adoleszenzromans
  • 1.3 Zwischen Selbstfindung und Fremdbestimmung: Adoleszenzdarstellungen im Wandel der Zeit
  • 1.4 Selbsterkenntnis als Krankheitsgewinn: Die Adoleszenz und ihre Beziehung zur Krankheit
  • 1.5 Fazit
  • 2. Literatur und Krankheit
  • 2.1 Einleitung
  • 2.2 Von kommunizierenden Krankheiten und lesbaren Symptomen
  • 2.3 Die Ästhetik der Krankheit: Krankheit als literarische Metapher
  • 2.4 Literaten, Ärzte und Patienten
  • 2.5 Fazit
  • 3. Literatur und Psychoanalyse
  • 3.1 Einleitung
  • 3.2 Zur Geschichte der Hysterie und ihrer Beziehung zur Literatur
  • 3.3 Zur Geschichte der Magersucht und ihrer Beziehung zur Literatur
  • 3.4 Freuds und Breuers (Kranken-)Geschichten
  • 3.5 Von Dora zu Nora. Freuds Novellen als Inspirationsquelle
  • 3.6 Fazit
  • 4. Adoleszenz und Hysterie in der deutschsprachigen Literatur um 1900
  • Einleitung
  • 4.1 Reuters Aus guter Familie (1895) und Andreas-Salomés Das Paradies (1899)
  • Symptome
  • Genese
  • Therapie
  • Schlussfolgerung
  • 4.2 Hysterische Kindfrauen bei Fontane: Cécile (1887) und Effi Briest (1896)
  • Symptome
  • Genese
  • Therapie
  • Schlussfolgerung
  • 4.3 Männliche Hysterie:
  • Lieutenant Gustl (1901) und Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)
  • Symptome
  • Genese
  • Therapie
  • Schlussfolgerung
  • 4.4 Zwischenfazit: Literarische und psychoanalytische Wechselbeziehungen innerhalb literarischer Adoleszenz- und Hysteriedarstellungen der Jahrhundertwende
  • 5. Adoleszenz und Magersucht in der deutschsprachigen Literatur um 2000
  • Einleitung
  • 5.1 Magersucht, eine moderne Form der Hysterie?
  • Lembkes Der Schatten des Schmetterlings (1998) und Schliepers Herzenssucht (2008)
  • Symptome
  • Genese
  • Therapie
  • Schlussfolgerung
  • 5.2 Männliche Hysterie um 2000
  • Tobias Elsäßers Abspringen (2009) und Benedict Wells’ Spinner (2009)
  • Symptome
  • Genese
  • Therapie
  • Schlussfolgerung
  • 5.3 Zwischenfazit: Magersucht als Ausdruck moderner Adoleszenz
  • 6. Exkurs zu aktuellen Tendenzen literarischer Adoleszenz- und Krankheitsdarstellungen:
  • 7. Fazit
  • 8. Literaturverzeichnis
  • Danksagung

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Einleitung

Im Bereich der Jugendliteratur lässt sich seit einigen Jahren eine thematische Fokussierung auf psychische und physische Krankheiten beobachten. Aufgrund dieser Entwicklung wird am Beispiel psychischer Krankheiten der Frage nachgegangen, in welchem Maße die in der aktuellen Jugendliteratur verhandelten Krankheiten mit der Adoleszenz der Protagonisten verwoben sind und ob sie eventuell eine Wiederholung einschlägiger literarischer Phänomene der Jahrhundertwende darstellen. Eine These besteht darin, dass das Schicksal solcher adoleszenter und gleichzeitig psychisch kranker literarischer Gestalten der Jahrhundertwende, die sich in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben, wie beispielsweise Effi Briest und Törleß aus dem Bereich der erzählenden Literatur, oder aber Anna O. und Dora aus dem Bereich der Psychoanalyse, in gegenwärtigen literarischen Darstellungen aufgegriffen wird. Um diese These zu belegen, wurden aus den Zeiträumen zwischen 1880 und 1914 sowie 1980 und 2014 deutschsprachige Texte ausgewählt,1 in welchen die Phase der Adoleszenz nicht nur als Krise, sondern auch als Krankheitsphase dargestellt wird bzw. die Adoleszenz durch eine psychische Krankheit begleitet wird. Auf diese Weise wird beabsichtigt, die in ihnen greifbare Auffassung von Adoleszenz und ihre Verwobenheit mit einer zeittypischen psychischen Krankheit, der Hysterie2 um 1900 und der Magersucht um 2000, freizulegen. Um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf der Inhaltsebene zu verdeutlichen, wird der Fokus vornehmlich auf die als pathologisch beschriebenen Adoleszenzphasen gerichtet. Die hiermit einhergehende strikte Fokussierung auf die Inhaltsebene entspricht keineswegs den Konventionen einer herkömmlichen Literaturanalyse, weshalb sie auch keine erschöpfende Interpretation zu sein ← 9 | 10 → beansprucht. Es handelt sich viel eher um eine Art der experimentellen Lektüre, die sich dadurch auszeichnet, dass die berücksichtigten Texte als literarische Krankengeschichten gelesen werden, um die Konstanz der Motive zu veranschaulichen. Gemäß der üblichen schematischen Gliederung einer Krankengeschichte werden die Symptome, deren Genese, die vorgenommenen Diagnosen sowie die auf der Textebene beschriebenen Therapiemaßnahmen in den Blick genommen. Auf diese Weise soll möglichst anschaulich verdeutlicht werden, inwiefern sich die Repräsentation von als pathologisch markierten Adoleszenzphasen in der deutschsprachigen Literatur gewandelt hat und welche Rolle die jeweiligen Gesellschafts- bzw. Modekrankheiten dabei spielen.

Eingeleitet wird die Untersuchung von drei in sich abgeschlossenen theoretischen Kapiteln, in welchen einige Aspekte der vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur, Krankheit, Adoleszenz und Psychoanalyse näher beleuchtet werden, die im Kontext literarischer Adoleszenz- und bzw. oder psychischer Krankheitsdarstellungen als relevant erachtet werden. Im Anschluss an diese theoretischen Überlegungen werden literarische Adoleszenz- bzw. Hysteriedarstellungen der Jahrhundertwende untersucht, die sodann mit literarischen Adoleszenz- bzw. Magersuchtdarstellungen der Jahrtausendwende kontrastiert werden. Vermutet wird, dass sich zwar die Art der Krankheit an die gesellschaftlichen Bedingungen angepasst hat, die Qualität des beschriebenen Leidens und der Adoleszenz als krisenhafte Phase jedoch Ähnlichkeiten aufweist. Überdies wird angenommen, dass die Krankheiten in den seltensten Fällen nur für sich alleine stehen, sondern auch auf pathologisch anmutende gesellschaftliche Strukturen verweisen. Beispielsweise wird auf Seiten der betroffenen Protagonisten die Infragestellung vorgelebter Rollenmuster und der Wunsch nach einem individuellen Lebensplan mit dem Ausbruch einer Krankheit gleichgesetzt, wie Erdheim es formuliert: „[D]ie Infragestellung der etablierten Werte und Lebensformen [erscheint] als eine Krankheit der Jugend.“3 Abgesehen von der Möglichkeit der literarischen Verwendung von Krankheit und Adoleszenz als Metaphern schließt die Beschreibung eines Zustands als pathologisch, andersartig, nicht der Norm entsprechend, im Umkehrschluss eine Definition dessen ein, was als gesund, normal und gesellschaftlich akzeptiert gewertet und verstanden wird. Die Literatur erscheint folglich „als ein Ort der Rede über Gesundheit und Krankheit.“4 ← 10 | 11 →

Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist vorwiegend kulturwissenschaftlich bzw. diskursanalytisch ausgerichtet.5 Vorausgesetzt wird, dass es sich bei dem Erkrankten wie auch dem Adoleszenten um diskursive Konstrukte handelt. So gilt es streng zu unterscheiden zwischen diskursiv konstruierten und medizinischen Adoleszenten bzw. Erkrankten. Die hiermit einhergehende notwendige interdisziplinäre Perspektive birgt zwar die Gefahr des Oszillierens zwischen den einzelnen Disziplinen, doch scheint es vermessen anzunehmen, dass heute als ausdifferenziert geltende wissenschaftliche Disziplinen es immer schon waren. Die Grenzen zwischen Medizin, Psychologie und Literatur waren auch um 1900 fließend,6 weshalb keine bestimmten wissenschaftlichen methodologischen Zugänge Verwendung finden, sondern vom Material selbst ausgegangen wird, um die Wechselwirkungen zwischen den Disziplinen aufzuspüren, die am literarischen Adoleszenz- und Krankheitsdiskurs um 1900 und 2000 beteiligt waren.7 Notwendigerweise werden daher außerliterarische Diskurse mit einbezogen, wie etwa die um 1900 zirkulierende Psychoanalysedebatte sowie die Diskussion bezüglich der Einflussnahme der neuen Medien auf den Sozialisationsprozess Jugendlicher um 2000, um die Darstellungen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontext einzubetten. ← 11 | 12 →

Nachgegangen werden soll unter anderem den Fragen danach, welcher Umstand durch welche Mittel (Sprache, Bilder, Metaphern) auf welche Weise und durch welche Figuren vergegenwärtigt wird; mit welcher Intention dies geschieht (wird eine Anklage oder eine Handlungsaufforderung deutlich?), welche weiteren Themen mitschwingen und mit welcher Konsequenz dies erfolgt. Auch soll der Frage nachgegangen werden, welche Phänomene unter Rückgriff auf welche Konstrukte oder Modelle dargestellt, nutzbar gemacht und womit erklärt bzw. gedeutet werden. Ebenfalls in den Blick genommen werden Fragen nach der Subjektkonstitution und den abgebildeten Normierungsstrategien, d. h. den mitschwingenden Vorstellungen davon, was den Menschen und das menschliche Dasein ausmacht. Auch soll der Frage nachgegangen werden, ob eine beschriebene soziale Rolle durch pathologische Züge determiniert ist oder schlichtweg der Verlauf einer psychischen Erkrankung nachgezeichnet wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, ob Selbst- oder aber Fremddiagnosen dominant sind, welcher Zustand wodurch erklärt wird und welcher Umstand wodurch betont oder aber kaschiert wird; ob es sich demnach um eine Simulation oder ein tatsächliches Leiden handelt. Auch werden die verschiedenen Ideologien und gesellschaftlichen Diskurse, die innerhalb der literarischen Darstellungen verhandelt werden, in den Blick genommen.

Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Frage danach, auf welche Weise sich medizinische und psychoanalytische oder medientheoretische Beziehungen von literarischen bzw. künstlerischen Darstellungsweisen unterscheiden. Der nähere Blick offenbart, dass auch in dieser Hinsicht die Grenzen bisweilen fließend sind. So lässt sich insbesondere in der Interaktion zwischen Arzt und Patient ein künstlerisches Setting beobachten: Arzt und Patient gleichen mitunter Schauspielern, denen bestimmte Rollen zugeschrieben werden. Die Arztpraxis kann demnach als theatralisches Dispositiv verstanden werden. Hinsichtlich der ästhetischen Ebene der hier behandelten Werke lässt sich in dieser Hinsicht beobachten, dass ebenso wie Arzt und Patient auch der Erwachsene und der Adoleszente über keine gemeinsame Sprache verfügen. Im Vergleich der Texte der Jahrhundertwende mit denen der Jahrtausendwende soll deutlich werden, dass die Autonomie des Patienten wie des Adoleszenten zugenommen hat. Vermutet wird, dass den neuen Medien hierbei eine besondere Bedeutung zukommt, da sich der Patient und der Adoleszente online über Aspekte ihres jeweiligen Zustands austauschen und mit anderen Betroffenen in Kontakt treten können. Beide gleichen einander, da sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, nach Autonomie streben und darüber hinaus nach einer präzisen Diagnose suchen, welche der Ungewissheit ein Ende bereitet. Eine solche Diagnose stützt sich auf einen bestimmten Symptomkomplex, den es mit Anderen abzugleichen gilt und ← 12 | 13 → der den Betroffenen aus seiner Isolation in eine Gemeinschaft überführt. So befassen sich der Patient und der Adoleszente mit der Frage danach, ob eigene Symptome denen Anderer gleichen.8

Abgesehen von den Gemeinsamkeiten von Adoleszent und Patient lassen sich auch Ähnlichkeiten der Entwicklungsphase der Adoleszenz und der Eigenheiten einer Krankheit beobachten. Während die Phase der körperlichen Reifung als Pubertät bezeichnet wird, wird die Adoleszenz auf die Veränderungen der Psyche, d. h. auf die psychologischen Aspekte der Pubertät bezogen.9 Die in der Adoleszenz zu lösende Aufgabe besteht in der Festigung der individuellen (erwachsenen) Persönlichkeit. Dieser Entwicklungsabschnitt weist eine positive und eine negative Seite auf, ist doch mit dieser Phase auch die Gefahr verbunden, an den Anforderungen zu scheitern.10 Mit verursacht wird diese Gefahr laut Dieter Bürgin durch die besondere Verletzlichkeit eines Individuums, das sich im Wandel befindet, weshalb in der Adoleszenz eine „spezifische Anfälligkeit für Traumatisierungen“11 zu beobachten sei. Somit erscheint die Adoleszenz als eine Phase, die durch eine besondere Verletzlichkeit gekennzeichnet ist. Der Adoleszente ist für Krankheiten demnach anfälliger als der Gesunde, sodass die Adoleszenz als solche wie eine Krankheitsphase anmutet; als Phase erhöhter Anfälligkeit für (weitere) Erkrankungen. Dennoch spricht sich Erikson dafür aus, die Adoleszenz trotz ihrer vielfältigen Symptome, die an verschiedene Neurosen erinnerten, nicht mit einer Krankheit gleichzusetzen, sondern als normale Krise aufzufassen.12 Doch können ← 13 | 14 → Krankheiten ihrerseits als Krisensituationen verstanden werden, womit Eriksons Auffassung von der Adoleszenz als Krise, die Adoleszenz und eine Krankheit vielmehr einander annähert. Gleiches gilt für Friedenbergs Vorschlag, die Adoleszenz mit einem Konflikt gleichzusetzen: „Tatsache ist, dass Adoleszenz Konflikt bedeutet – anhaltenden Konflikt – zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.“13 Schließlich lassen sich auch Krankheiten als Konflikte begreifen.

Sowohl die Adoleszenz als auch eine Krankheitsphase können als psychosomatische Zustände verstanden werden, die einen Krisen- bzw. Konfliktcharakter aufweisen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl die Phase der Adoleszenz wie eine jede Krankheit auskuriert werden muss, um sie zu überwinden; denn würde die Krise nicht in Gänze überwunden, besteht die Gefahr, dass der Organismus weiter leidet, ebenso wie das erwachsene Individuum unter den Folgen einer nicht bewältigten Adoleszenz zu leiden hätte. Wenn auch eine Adoleszenz- und eine Krankheitsphase Unterschiede aufweisen, wie beispielsweise den Umstand, dass die Krankheit nicht an eine Entwicklungsphase gebunden ist, scheinen die Gemeinsamkeiten zu überwiegen, weshalb es nicht abwegig ist, die Phase der Adoleszenz selbst als eine Krankheitsphase zu charakterisieren.

In der Literatur kann die Nähe von Adoleszenz und Krankheit in der Weise sichtbar werden, dass adoleszente Figuren als andersartig, von der Normalität abweichend erscheinen oder im Verlauf dieser Entwicklungsphase erkranken. Darüber hinaus kann die Adoleszenz sowohl im eigentlichen wie auch im übertragenen Sinn als Krankheitsphase markiert sein. Auch können sowohl die Adoleszenz wie auch die Krankheit als Metaphern fungieren. So ist für Julia Kristeva die Adoleszenz nicht als eine bestimmte Altersphase, sondern als eine generelle Verfassung des Menschen zu verstehen, in welcher er sich aus illusionären Stabilisierungen herauslöst;14 und Susan Sontag betont den metaphorischen Gehalt solcher Krankheiten, die sich durch ein hohes Maß an Ungewissheit hinsichtlich der Genese und der Ansteckungswege auszeichnen.15 Angenommen wird, dass ← 14 | 15 → sich dieser Aspekt insbesondere mit Blick auf die literarischen Hysteriedarstellungen der Jahrhundertwende als bedeutsam erweisen wird.

Im Rahmen der theoretischen Einleitung dieser Untersuchung sollen zunächst einige Eigenheiten literarischer Adoleszenz- und Krankheitsdarstellungen beleuchtet werden. Dieser Abschnitt ist weniger als Vorbereitung auf die sich anschließende Untersuchung zu verstehen, er soll primär einen Überblick über die verschiedenen Gesichtspunkte des Adoleszenz- und Krankheitsdiskurses geben. Zunächst wird die Geschichte der Adoleszenztheorie und des Adoleszenzromans sowie der Wandel literarischer Adoleszenzdarstellungen nachgezeichnet. Im Anschluss hieran werden einige bereits angesprochene Gemeinsamkeiten von Adoleszenz und Krankheit vertieft, um zum zweiten theoretischen Kapitel überzuleiten, in welchem die Wechselbeziehungen zwischen Literaturproduktion bzw. -rezeption und Krankheit aufgezeigt werden. In diesem Kapitel wird es vorwiegend um die Bedeutungsdimension literarischer Krankheitsdarstellungen gehen. Ebenfalls in den Blick genommen werden die in diesem Zusammenhang auftretenden Ärzte und Patienten. Im abschließenden theoretischen Kapitel wird die Wechselwirkung zwischen der Psychoanalyse und der Jugendliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts thematisiert. In diesem Zuge wird auch das Krankheitsbild der Hysterie und jenes der Magersucht, das um 1900 zunächst als hysterisches Symptom verstanden wurde, in den Blick genommen. Ebenso werden einige Besonderheiten der Krankengeschichten Freuds und Breuers aufgezeigt, um einen Eindruck davon zu vermitteln, auf welche Weise diese das literarische Schaffen der Zeit um 1900 beeinflusst haben könnten.16 Der Einbezug der Psychoanalyse und die Berücksichtigung der durch sie forcierten Fokusverlagerung auf die unbewussten Vorgänge der menschlichen Psyche erscheint im Kontext literarischer Adoleszenz- und Krankheitsdarstellungen auch mit Blick auf die Differenzierung von Krankheit und Gesundheit aufschlussreich. So schreibt Freud im Jahr 1920: „Eltern verlangen, daß man ihr Kind gesund mache, welches nervös und unfügsam ist. Sie verstehen unter einem gesunden Kind ein solches, das den Eltern keine Schwierigkeiten bereitet, an dem sie ihre Freude haben können.“17– Es wird sich zeigen, dass die Gleichsetzung eines unfügsamen mit einem pathologischen Kind auch in einigen literarischen Texten der Jahrhundertwende zu beobachten ist. ← 15 | 16 →

An die einleitenden theoretischen Überlegungen schließt sich die Betrachtung ausgewählter Erzähltexte aus der Zeit um 1900 und um 2000 an. Da in Kriegs- und Krisenzeiten augenscheinlich ein geringeres Bedürfnis nach Problemliteratur besteht, haben sich die vergleichsweise ruhigen Zeiträume von 1880 bis 1914 und 1980 bis 2014 als besonders ergiebige, ja geradezu als Blütezeit von Texten über als pathologisch markierte Adoleszenzphasen erwiesen. Aus beiden Epochen wurden Werke ausgewählt, in welchen eine krisenhafte Adoleszenzphase mit einer psychischen Krankheitsphase verknüpft ist. So wird im Kapitel 4.1 zunächst anhand von Gabriele Reuters Aus guter Familie (1895) und Lou Andreas-Salomés Das Paradies (1899) der Blick auf hysterische Protagonistinnen gerichtet. Diesen Werken weiblicher Autoren werden im Kapitel 4.2 zwei junge weibliche Figuren Cécile (1887) und Effi Briest (1896) entgegengesetzt, die der Feder eines männlichen Autors, Theodor Fontane entstammen, um genderspezifische Besonderheiten im Umgang mit der Hysterie aufzuzeigen. Abschließend wird der Blick auf männliche Hysteriker der Zeit um 1900 gerichtet. Am Beispiel von Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl (1901) und Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) werden im Kapitel 4.3 einige Aspekte männlicher Adoleszenz bzw. Hysterie in den Blick genommen. Sodann werden zwei Magersuchtromane, Marjaleena Lembkes Der Schatten des Schmetterlings (1998) und Birgit Schliepers Herzenssucht (2008) einander gegenübergestellt. Während es sich bei ersterem um ein Beispiel für frühe Magersuchtsdarstellungen handelt, gehört Schliepers Text zur neueren Ausprägung dieser Subgattung, die sich dadurch auszeichnet, dass sich der vormals distanzierte Blick auf die erkrankte Protagonistin drastisch verändert hat und der Leser folglich mit einer schonungslosen Innensicht konfrontiert wird. Da die Magersucht im deutschsprachigen Raum nahezu ausschließlich von weiblichen Autorinnen in den Blick genommen wird, kann mit der Sicht eines männlichen Autors auf diese aktuelle Mode- bzw. Gesellschaftskrankheit nicht aufgewartet werden. Literarische Darstellungen einer krisenhaften Adoleszenzphase männlicher Protagonisten liegen hingegen in großer Zahl vor. Anhand von Benedict Wells’ Spinner (2009) und Tobias Elsäßers Abspringen (2009) soll veranschaulicht werden, dass auch in diesen aktuelleren Werken verschiedene Topoi des Hysterie-Diskurses der Jahrhundertwende wiederkehren.

Da mit der Konzentration auf nur zwei Krankheiten angesichts der Fülle aktueller literarischer Krankheitsdarstellungen eine starke Einschränkung einhergeht, wird dem abschließenden Fazit ein Exkurs zu aktuellen Ausprägungen literarischer Adoleszenz- bzw. Krankheitsdarstellungen vorangestellt. Mit diesem Abschnitt soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass im Unterschied zur Jahrhundertwende aktuell eine nahezu unüberschaubare Bandbreite psychischer und physischer Krankheitsdarstellungen existiert, mit welchen die ← 16 | 17 → Adoleszenzphase der Protagonisten angereichert wird. Der Einbezug solcher Phänomene wie der Sick Lit erscheint unerlässlich für das Verständnis aktueller literarischer Adoleszenz- und bzw. Krankheitsdarstellungen.

Forschungsarbeiten zu literarischen Darstellungen der Adoleszenz liegen bereits in großer Anzahl vor, wie auch die Zeiträume um 1900 und 2000 in diesem Zusammenhang bereits kontrastierend in den Blick genommen wurden.18 Die vorliegende Untersuchung hebt sich von den bisherigen Arbeiten jedoch durch ihre Konzentration auf solche Darstellungen ab, in welchen die adoleszente Entwicklungsphase nicht nur als pathologisch markiert, sondern auch mit einer zeittypischen psychischen Krankheit verknüpft wird.


1 Die Gattungszugehörigkeit der Texte wurde hierbei nicht als ausschlaggebendes Kriterium berücksichtigt. Der Korpus wurde ausschließlich aufgrund der genannten thematischen Kriterien gebildet.

2 Zwar wird die Hysterie, insbesondere seit Georges Didi-Hubermans Ausführungen, vorwiegend als ästhetisches Konstrukt und keineswegs als Krankheit im eigentlichen Sinne verstanden. Im Kontext der hier berücksichtigten Texte der Jahrhundertwende erscheint sie jedoch als mysteriöses Leiden, sodass die Hysterie hier als eine Krankheit aufgefasst wird, die sich zudem aus mehreren Gründen für einen Vergleich mit der Magersucht anbietet, worauf an späterer Stelle näher eingegangen wird.
Vgl.: Georges Didi-Huberman: „Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot“, aus dem Französischen von Silvia Henke u. a., München: Fink, 1997.

3 Mario Erdheim: „Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 192.

4 Bettina von Jagow und Florian Steger: „Was treibt die Literatur zur Medizin? Ein kulturwissenschaftlicher Dialog“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 95.

Details

Seiten
271
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653062410
ISBN (ePUB)
9783653956061
ISBN (MOBI)
9783653956054
ISBN (Hardcover)
9783631668788
DOI
10.3726/978-3-653-06241-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Jugendliteratur Literarische Fallgeschichten Lou Andreas-Salomé
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 271 S.

Biographische Angaben

Iris Schäfer (Autor:in)

Iris Schäfer studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dem King’s College in London. Ihre Forschungsschwerpunkte sind literarische Krankheits- bzw. Abweichungsnarrative im Bereich der Jugendliteratur.

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