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Alterskonzepte und Altersrollen im erzählerischen Werk Theodor Fontanes

von Elke Trost (Autor:in)
©2016 Dissertation 264 Seiten

Zusammenfassung

Mit Bezug auf den zeitgenössischen Altersdiskurs untersucht die Autorin Fontanes Darstellung von Alter in den Romanen «Cécile», «Effi Briest», «Der Stechlin», «Frau Jenny Treibel», «Irrungen, Wirrungen» und «Mathilde Möhring». Mit den Methoden der kognitiven und pragmatischen Literaturwissenschaft macht die Figurenanalyse das Alter als soziale Konstruktion sichtbar. Die Interaktion von Autorenstrategie und Leserwahrnehmung ist dabei von besonderer Bedeutung. Das Selbstverständnis der Alten, ihr Verhältnis zu Tradition und Moderne, ihre Beziehung zur jungen Generation und ihre Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod bilden die inhaltlichen Schwerpunkte. Die Analyse der Kategorie Alter ermöglicht eine neue Sicht auf die Romane und auf bisher wissenschaftlich weniger diskutierte Figuren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil I: Theoretische Voraussetzungen
  • 1. Altersdiskurse
  • 2. Alter in der Literatur – Forschungsansätze
  • 3. Methodische Standortbestimmung
  • Teil II: Alterskonzepte und Altersrollen in ausgewählten Romanen Theodor Fontanes
  • 1. Alter in „Cécile“
  • 1.1 Forschungsansätze
  • 1.2 Die Figur St. Arnauds
  • 1.3 Die Beziehung Gordon – St. Arnaud
  • 1.4 Der Präzeptor von Altenbrak
  • 1.5 Fazit
  • 2. Alter in „Effi Briest“
  • 2.1 Forschungsansätze
  • 2.2 Der alte Briest
  • 2.3 Weise alte Männer: Pastoren und Ärzte
  • 2.4 Gieshübler − nicht jung, nicht alt
  • 2.5 Negative Altersrollen
  • 2.5.1 Wüllersdorf und Innstetten
  • 2.5.2 Der Landadel
  • 2.6 Fazit
  • 3. Alter in „Der Stechlin“
  • 3.1 Forschungsansätze
  • 3.2 Dubslav von Stechlin
  • 3.2.1 Dubslav – Ambivalenz von Alt und Neu
  • 3.2.2 Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod
  • 3.3 „Zwillingsfiguren“
  • 3.3.1 Graf Barby
  • 3.3.2 Die Diener Engelke und Jeserich
  • 3.4 Adelheid als Kontrastfigur
  • 3.5 Fazit
  • 4. „Frau Jenny Treibel“ – Alter im Bürgertum
  • 4.1 Forschungsansätze
  • 4.2 Jenny und Schmidt – Zukunftsplanung für die Jungen
  • 4.2.1 Jenny Treibel
  • 4.2.2 Der alte Schmidt
  • 4.3 Der alte Treibel
  • 4.3.1 Der Bourgeois Treibel
  • 4.3.2 Der Privatmann Treibel
  • 4.4 Fazit
  • 5. Irrungen, Wirrungen – Alter im kleinbürgerlichen Milieu
  • 5.1 Forschungsansätze
  • 5.2 Die alte Nimptsch
  • 5.3 Die Spiegelfiguren
  • 5.4 Fazit
  • 6. Mathilde Möhring – Ausblick
  • 7. Zusammenfassung und Schlussfolgerung
  • Literaturverzeichnis
  • Primärtexte
  • Sekundärtexte

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Einleitung

Abstract

The study “Concepts and Roles of Ageing in Theodor Fontane’s Narration” focuses on the analysis of ageing characters in the novels “Cécile”, “Effi Briest”, The Stechlin”, “On Tangled Paths”, “Frau Jenny Treibel” and “Mathilde Möhring”. The characters are being discussed within the context of the contemporary discourses on age.

„Es ist immer die alte Geschichte, nun möcht ich wieder Fähnrich sein […]. Wenn es nicht zu toll kommt, ist das Jugendleben doch vielleicht schöner. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man schwankt auch darin wie in allem und nur das bleibt: das Ganze ist eine sonderbare Geschichte.“

Brief an Emilie, 12. Oktober 1888

Kann man es wagen, noch eine Arbeit über Fontane zu schreiben? Schließlich ist die wissenschaftliche Diskussion zu seinem Werk so umfangreich, dass es fast unmöglich erscheint, noch etwas Neues zu sagen. Doch wenn man sich auf das Abenteuer einer abermaligen Fontane-Lektüre im fortgeschrittenen Alter einlässt, erschließt sich so viel Neues, über das man in jüngeren Jahren hinweggegangen ist. Aus der Perspektive einer anderen biographischen Situation wird das Studium zu einer Entdeckungsreise auf den Spuren Fontanes, denn es gilt, die „tausend Finessen“ herauszufinden, mit denen er in seinen Romanen seine Leser lenkt.

Noch ergiebiger wird die Entdeckungsreise unter einer neuen inhaltlichen Perspektive, wie sie das Thema Alter darstellt.

Dabei mag eine Arbeit zu Alterskonzepten und Altersrollen im Erzählwerk Theodor Fontanes überraschen, denn Alter scheint auf den ersten Blick bei Fontane kein dominantes Thema zu sein. Offenkundig stehen als Hauptfiguren meist junge Figuren, wie z. B. Effi Briest, Cécile, Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker oder Mathilde Möhring, im Mittelpunkt der Handlung.1 Hauptfiguren, die vom biologischen Alter her als alt bezeichnet werden können, sind nur ← 13 | 14 → der alte Dubslav von Stechlin in „Der Stechlin“ – er ist 66 Jahre alt – und Jenny Treibel in „Frau Jenny Treibel“, die in den „hohen Fünfzig“ ist.2 Aber auch in diesen beiden Romanen scheint Alter als solches zunächst kein Thema zu sein.

Das entspricht dem „Normalitätsdiskurs“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der „intaktes“ Alter nicht zum Thema macht.3

Dennoch lohnt es, im erzählerischen Werk Fontanes nach der Bedeutung und Funktion alter Figuren zu fragen. Bisher gibt es nur vereinzelte Untersuchungen zur Altersdarstellung bei Fontane.4 Diese Arbeit wird sich diesem Thema auf breiterer Textgrundlage widmen und dabei zu neuen Sichtweisen gerade auf solche Figuren kommen, die bisher als Nebenfiguren geringere Beachtung erfahren haben. Es wird sichtbar werden, dass Fontane auch diese Figuren sehr sorgfältig gestaltet und ihnen damit im Zusammenhang des Romans Funktionen zuweist, die man unter anderer Fragestellung u.U. weniger beachtet.

Die erste Aufgabe bestand darin, solche Romane auszuwählen, die eine aussagekräftige Vielfalt alter Figuren enthalten, die auch unterschiedliche soziale Umfelder abdecken, so dass die Fragen nach dem Zusammenhang von Alterskonzepten und Altersperformanz einerseits und sozialem Stand und materieller Situation andererseits berücksichtigt werden können. Darüber hinaus sollte die Auswahl auch einen möglichen Wandel in Fontanes Sicht auf das Thema Alter erkennbar machen.

Dazu bedurfte es übergeordneter Kategorien für die Untersuchung. Die Romane sollten unterschiedliche Altersentwürfe der Figuren enthalten, das Verhältnis der Generationen zueinander thematisieren, Aufschluss geben über die Haltung der alten/alternden Figuren zu Tradition und Moderne bzw. Fortschritt wie auch über standesspezifische Einstellungen, und sie sollten die Haltung der Figuren zur eigenen Biographie, möglicherweise im Sinne einer Lebensbilanz, ← 14 | 15 → erkennen lassen, wie auch die Auseinandersetzung mit dem „defekten“ Alter, d.h. mit Krankheit und Tod.

Die Auswahl musste auch in der sozialen Vielfalt ergiebig sein, damit der Vergleich alter Figuren aus dem Adel, aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum sowie aus dem Kleinbürgertum möglich wurde.

Thematisch erweisen sich im adligen Standeszusammenhang die Romane „Cécile“, „Effi Briest“ und „Der Stechlin“ als sinnvoll, da es in allen drei Romanen u.a. um die Beziehung der alten und der jungen Generation und um die Frage der Autorität bzw. der Macht der alten Generation geht. In „Der Stechlin“ als Spätwerk ist zusätzlich die Frage von Modernität und Tradition von großem Interesse wie auch die der Lebensbilanz.

Die gleichen Themen sind auch in den ausgewählten Romanen mit bürgerlichem Standesszenario von Bedeutung, d.h. in „Frau Jenny Treibel“, „Irrrungen, Wirrungen“ und „Mathilde Möhring“, so dass sich die Darstellung von Alter in den verschiedenen Ständen vergleichen lässt. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen „defekten“ Alter, d.h. mit Krankheit und Tod, findet sich bei Dubslav von Stechlin in „Der Stechlin“ und bei der alten Nimptsch in „Irrungen, Wirrungen“.

Aus der Gesamtschau auf die verschiedenen Alterspräsentationen wird sich Fontanes Idealvorstellung von Alter und vom Umgang mit dem eigenen Lebensende erkennen lassen.

Im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Romane haben alte Figuren häufig eine größere Bedeutung für den Handlungsverlauf als meist angenommen.

Aus ihrer Funktion für den Handlungsverlauf wie auch aus ihren verschiedenen Rollen in den Figurenkonstellationen lassen sich einige Erkenntnisse über Altersmodelle und Auffassung von Alter bei Fontane herauskristallisieren. „Alter“ wird damit implizit zum Thema, und es wird sich zeigen, dass Fontanes Alte unterschiedliche Möglichkeiten der Altersperformanz repräsentieren. Dabei relativiert sich auch das biologische Alter. Alter wird nicht nur auf die Lebensjahre bezogen, sondern auch auf die Lebenseinstellung. Es gibt Figuren, die schon mit fünfzig mental alt sind, wie z. B. Innstetten und Wüllersdorf, da sie resignativ auf ihr bisheriges Leben zurückblicken und im Nachhinein Alternativen für ein mögliches anderes gelebtes Leben entwerfen. Andere hingegen, wie z.B. Adelheid im „Stechlin“ oder der alte Präzeptor in „Cécile“, fühlen sich mit Ende siebzig bzw. über achtzig mental und physisch noch nicht alt, während sie von ihrer Umwelt eindeutig als alt angesehen werden.

Es wird also zu unterscheiden sein, welche Wahrnehmung die alten Figuren selbst von ihrem Alter haben bzw. ob und wie sie von ihrer Umgebung als Alte ← 15 | 16 → wahrgenommen werden. Die jeweiligen individuellen Interpretationen aus der Figurenperspektive stehen neben den in Erzählerkommentaren sichtbar werdenden Wertungen der unterschiedlichen Altersperformanzen.

Eine Aufgabe der Untersuchung wird darin liegen, die Strategien der Lesersteuerung durch den Autor/Erzähler zu ermitteln und zu fragen, ob diese impliziten Wertungen den Figuren, wie sie aus ihren Kontexten zu verstehen sind, immer gerecht werden.

Es wird sich zeigen, dass gerade die Abwesenheit eines normierenden Altersdiskurses den älter Werdenden und Alten einen großen Spielraum der Lebensgestaltung gewährt.

So dienen Fontanes literarische Figuren der Konkretion des gesellschaftlichen Diskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wo die kulturwissenschaftliche Forschung überindividuelle Modelle und Stereotypen erforscht und so zu generalisierenden Aussagen über einen Zeitdiskurs kommt, leistet die Literatur die Differenzierung und gegebenenfalls die Individualisierung von solchen Modellen.5 Das ergibt ein Kaleidoskop von Lebensmöglichkeiten im Alter. Der Autor als Zeitgenosse spiegelt in diesen Figuren den Zeitdiskurs und erlaubt von daher auch den vorsichtigen Rückschluss auf empirische Personen.

Fontanes Interesse gilt besonders solchen alten Figuren, die durch ihre ambivalenten Haltungen bestimmt sind, so etwa Jenny Treibel und Professor Schmidt in „Frau Jenny Treibel“ oder Oberst St. Arnaud in „Cécile“ und der alte Briest in „Effi Briest“. Diese Ambivalenzen zeigen sich insbesondere im Verhältnis zur jungen Generation, das sowohl durch individuelle als auch standesspezifische Interessen und persönliche Motive der Alten geprägt ist. Dabei geht es häufig um den Erhalt von Einfluss und Macht der Alten über die Jungen. Besonders in „Frau Jenny Treibel“ und in „Cécile“ entwickelt Fontane die sozialen und materiellen Lebensbedingungen der Alten, die ihre Einstellungen bedingen.

Fontanes Idealbilder von Alter, wie sie in den Figuren des alten Dubslav von Stechlin, in Graf Barby und in der alten Nimptsch verkörpert sind, suggerieren, dass gelungenes Leben und damit gelungenes Alter nicht von Stand, materieller Sicherheit und erworbener Bildung abhängen, vielmehr von der im Laufe des Lebens errungenen Menschlichkeit. In diesen Idealbildern zeigt sich Fontane als Vertreter des poetischen Realismus, der nicht bloße Realität abbilden will, wie sie ist, sondern die gegebene Realität verklärend interpretiert, so dass weder ← 16 | 17 → Krankheit und nahender Tod noch Armut die in sich ruhenden, altersweisen Figuren in ihrer Kommunikation mit der Umwelt beeinträchtigen.6

In dem posthum erschienenen Roman „Mathilde Möhring“ dagegen knüpft Fontane an der prekären kleinbürgerlichen Lebenswirklichkeit der Figuren an. Fontane rückt damit in diesem letzten Roman vom Programm des poetischen Realismus ab. Es wird stattdessen eine Annäherung an Darstellungsformen des Naturalismus sichtbar, dem er bis dahin kritisch gegenüber steht.

Fontanes alte Figuren sind damit auch Konstruktionen seines eigenen, sich mit der Zeit wandelnden Bildes von Alter(n) im Zusammenhang mit seinem Verständnis von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation. Die Abkehr von der verklärenden Sicht der Ständegesellschaft in „Mathilde Möhring“ ist darauf ein deutlicher Hinweis.

In der Regel thematisieren Fontanes Figuren ihr Alter nicht, oder wenn sie es tun, dann nur peripher. Solange sie physisch und psychisch intakt sind, gehen die alten Figuren ihren Alltagsaufgaben und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen genauso nach wie in jüngeren Jahren.

Die Figurenanalyse differenziert zwischen den unterschiedlichen physischen, psychischen und materiellen Bedingungen der Alten, denn von daher entwickelt sich das jeweilige Selbstverständnis vom Alter. Die „intakten“ Alten erleben ihr Alter als lebenswert, sie leben in der Gegenwart und nehmen die Zukunft noch positiv in den Blick. Alter wird von diesen Figuren nicht als eine Lebensphase verstanden, die neue Herausforderungen bedeutet und in der man sich neu definieren muss, vielmehr wird das eigene Altern als integrativer Teil der Lebenskontinuität verstanden.

Auch die nicht mehr „intakten“ Figuren – das sind Dubslav von Stechlin, der alte Graf Barby und die alte Nimptsch – thematisieren nicht das Alter als solches, wohl aber setzen sie sich mit Krankheit und Tod auseinander. Beides ist aber in ihrer Wahrnehmung nicht zwangsläufig mit dem Alter verbunden. Die ← 17 | 18 → Analyse wird ergeben, wie sich auch bei diesen Alten trotz ihrer zunehmenden körperlichen Hinfälligkeit ein positives Verhältnis zu ihrer eingeschränkten Lebenssituation entwickelt.

Erinnerung ist – anders als in der Literatur des 20. Jahrhundert – bei Fontane noch kein Thema. Seine Figuren blicken nur selten auf die eigene Jugend zurück, die Kindheit spielt gar keine Rolle, denn sie haben offenbar nicht das Bedürfnis, sich selbst aus der eigenen Biografie heraus zu verstehen. Vereinzelt gibt es Ansätze zu einer Lebensbilanz, etwa in „Effi Briest“ bei Innstetten oder auch bei Dubslav von Stechlin, der rückblickend bedauert, dass er als „junger Dachs“ den Abschied genommen hat. (GBA 17, S. 51) Ein weiterer knapper Rückblick auf seine jungen Jahre und die kurze Ehe ist mehr die Zusammenfassung eines wichtigen Lebensabschnittes als eine Auseinandersetzung mit dem Einfluss früherer Ereignisse auf die weitere Biografie. (GBA 17, S. 266)

Nur Professor Schmidt in „Frau Jenny Treibel“ hält ganz zum Schluss einen reflektierenden Rückblick auf lebensbestimmende Entscheidungen, der zur Frage nach der eigenen Identität führt. Diese Figur weist insofern in die Zukunft, als Identität als Konstruktion der eigenen Lebensinterpretation deutlich wird, einer Interpretation, die nach anderen Entscheidungen auch anders hätte erfolgen können.

Vielen der alten Figuren ist der sich abzeichnende Epochenwandel nicht bewusst. Weder der alte Briest in „Effi Briest“ noch St. Arnaud in „Cécile“ machen sich Gedanken über den technischen und sozialen Wandel, während die Moderne auf der Ebene des Erzählers eines der zentralen Themen ist. Die Moderne manifestiert sich in der Darstellung technischer Veränderungen, wie z.B. der Auswirkungen moderner Kommunikationsmittel wie Rohrpost und Telegrafie, und in der Darstellung sozialer Veränderungen wie auch des Wandels der Frauenrolle.

In diesem Zusammenhang wird die Arbeit gerade die Ambivalenzen der Figuren zeigen, die einerseits offen sind für technische Neuerungen, in ihrer Werteorientierung jedoch am Alten festhalten. In diesem Sinne kann auch ein junger Mann wie Gordon in „Cécile“ in technischer Hinsicht am Fortschritt orientiert sein – er verlegt als Ingenieur Telegrafenkabel im Atlantik –, gleichzeitig aber wie der alte St. Arnaud an einem überholten Ehrbegriff und an einem altmodischen Frauenbild festhalten. Mental ist Gordon damit ebenso „alt“ wie der Oberst.

Das Schwanken zwischen Offenheit für Neues und Festhalten am Alten und Traditionellem wird auch an Dubslav von Stechlin sichtbar werden. Der Alte kann sich mit dem sprachlichen Wandel nicht anfreunden, Telegramme tragen ← 18 | 19 → seiner Meinung nach zur Verkürzung der Kommunikation bei, und bei seiner einzigen Bahnreise holt er sich die schließlich tödliche Krankheit. Andererseits steht er im Gegensatz zu seiner Schwester Adelheid einer neuen Frauenrolle sehr positiv gegenüber.

Besonders im Adel hindert das Festhalten an der traditionellen gesellschaftlichen Ständeordnung die Alten an einer Reflexion der eigenen Biografie. Von daher ist zu erklären, dass es die Auseinandersetzung mit dem eigenen individuellem Entwicklungsprozess noch nicht gibt.

Auch in „Frau Jenny Treibel“ ist das Thema Alt – Neu, Fortschritt vs. Tradition, eine besondere Herausforderung für die Alten, insofern sich die junge Generation gegen Bevormundung zu wehren versucht und um neue Formen ringt, schließlich aber doch dem Diktat der Alten und deren Wertevorstellungen unterworfen ist.

Fontane entwirft in diesen Romanen je unterschiedliche individuelle Präsentationen von alten Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Sie zeigen, wie diese im Leben stehen, wie sie sich mit der politischen Gegenwart auseinandersetzen, wie sie sich gegenüber der jungen Generation definieren, wie sie sich in krisenhaften Situationen verhalten, welche gesellschaftlichen und moralischen Positionen sie vertreten.

Erstaunlicherweise nimmt Fontane bei der Darstellung der Alten eine deutliche Geschlechterunterscheidung vor. Während die männlichen alten Figuren überwiegend positiv gezeichnet werden als die Weisen, Abwägenden, durchaus für das Neue Offenen, werden die alten Frauen eher negativ gesehen: unflexibel, an alten Strukturen haftend, mit unterschiedlicher Orientierung je nach sozialem Stand und Bildung. Dennoch wird der genauere Blick auch bei diesen Figuren z. T. Ambivalenzen freilegen, die eine positivere Bewertung zulassen. Untersucht werden dazu insbesondere die Figuren der Adelheid und der Jenny Treibel, aber auch die der alten Möhring, der alten Grasenabb und der Sidonie von Grasenabb, die – obwohl erst 43 – doch schon eine „alte Jungfer“ ist.

Auch die sozialen Außenseiter wie die alte Buschen und die alte Runtschen sind Frauen.

Eine Ausnahme bildet die alte Nimptsch, ihr kommt in der Reihe der Frauenfiguren eine besondere Rolle zu.

Diese Arbeit stellt sich die Aufgabe, die jeweils soziale und kulturelle Bedingtheit von Fontanes alten Figuren nachzuvollziehen und die damit verbundenen Altersperformanzen der fiktiven Figuren zu untersuchen, um so Fontanes Altersbilder als Konstruktionen zu verstehen, die seinem Menschenbild und seinem Gesellschaftsverständnis entspringen. ← 19 | 20 →

Die Arbeit geht von der These aus, dass Fontane mit seinen Figuren unterschiedliche Modelle von Alter und Altern entwirft, die sich nicht aus normativen Vorgaben ableiten, sondern jeder einzelnen Figur individuelle Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Alter erscheint damit als Aufgabe für jeden alten Menschen, der er sich zu stellen hat und für deren Gelingen oder Misslingen er verantwortlich ist.

So wenig die meisten der alten Figuren in Fontanes Romanen für sich ein Konzept von Alter und Altern haben, so lässt sich doch sowohl aus den kritisch gezeichneten als auch aus den positiv gezeichneten Figuren ein grundsätzliches Alterskonzept Fontanes erkennen: Alter, wie es sein sollte, verkörpern Dubslav und die alte Nimptsch; Alter, wie es nicht sein sollte, repräsentieren Figuren, die starr am Alten festhalten und gegenüber dem Wandel der Zeit Widerstand zu leisten versuchen. Wie sich dieses Konzept in den einzelnen Figuren differenziert, wird in dieser Arbeit herausgearbeitet.

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil enthält die theoretischen Voraussetzungen der Arbeit. Das ist als erstes ein Überblick über Alterstopoi und Altersstereotypen, die die Altersdiskurse im Wandel der Zeit kennzeichnen. Bestimmend für den Ansatz dieser Arbeit ist das Verständnis von Alter als sozialem Konstrukt, wie er sich in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion der Gegenwart herauskristallisiert hat.7 Dazu wird auch auf den gegenwärtigen Altersdiskurs eingegangen, der dann zum Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt wird. Dabei ergibt sich, dass dem „intakten Alter“ in diesem Zeitraum eine ähnliche Freiheit von Normierungen und Erwartungscodes gegeben ist wie der Altengeneration der Gegenwart, allerdings mit dem Unterschied, dass heutiges Alter durch die Freistellung vom Arbeitsleben und durch die erhebliche Verlängerung der durchschnittlichen Lebenszeit eine neue Phase der möglichen Selbstbestimmung bedeutet, während Alter im 19. Jahrhundert – zumindest in den privilegierten Schichten – im Bewusstsein von „Lebenskontinuität“ gestaltet wird, so dass Verpflichtungen und Tätigkeiten fortgesetzt werden, bis Krankheit und Tod sie beenden.

Darüber hinaus geht die Arbeit im Zusammenhang mit Fontanes späten Romanen auf den Wandel des Altersdiskurses um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. In den Medien, in der Regel in den Wochenzeitschriften, beginnt im späten 19. Jahrhundert mit dem „Großmutterdiskurs“ Alter zum Diskursthema zu ← 20 | 21 → werden, indem den Alten eine integrative Rolle in der Familie zugewiesen werden soll, um den zunehmenden Verlust an emotionaler Geborgenheit als Folge der industrialisierten Arbeitswelt zu kompensieren.8 Göckenjan weist jedoch darauf hin, dass dieser mediale Versuch in der Realität nicht ankommt. Ebenso wird sich zeigen, dass die Großmutterfigur bzw. die Großvaterfigur auch bei Fontane keine Rolle spielt. Großeltern gibt es lediglich in „Effi Briest“ und in „Frau Jenny Treibel“, in beiden Romanen hat diese Rolle für die Alten jedoch eine ganz untergeordnete Bedeutung.

Dagegen wird in den späten Romanen „Der Stechlin“ und „Mathilde Möhring“ der Einfluss des um die Jahrhundertwende einsetzenden Jugenddiskurses deutlich, der die Beziehungen Alt und Jung neu definieren wird.

In einem weiteren Schritt wird die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Altersdarstellung in der Literatur in den Blick genommen und in Bezug auf die gesetzten Schwerpunkte erörtert. Die Untersuchungen beziehen sich vor allem auf Altersdarstellungen in der Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts.

Miriam Seidler untersucht Altersdarstellungen in ausgewählten Romanen der Gegenwart; sie betont die Bedeutung literaturwissenschaftlicher Beiträge zu einer interdisziplinären Gerontologie, insofern gerade die Literatur „Experimentierfeld für neue Lebensformen und Alterskonzepte“ sei.9

In ihrem Aufsatz „Zwischen Demenz und Freiheit“ befasst sich Seidler mit der Wandlung von Altersstereotypen in der Literatur der Gegenwart am Beispiel zweier literarischer Frauenfiguren bei Judith Hermann und Martin Suter.10

Der von Henriette Herwig herausgegebene Sammelband „Merkwürdige Alte“11 umfasst Aufsätze zu literarischen und bildkünstlerischen Darstellungen, die Altersrepräsentation von „kulturhistorischen, ideengeschichtlichen, narratologischen, diskurs- und bildanalytischen Ansätzen“12 her beschreiben. ← 21 | 22 →

In ihrem Vorwort erörtert Herwig die Rolle einer gerontologisch orientierten Literaturwissenschaft im Rahmen „transdisziplinäre(r)“ Alter(n)sforschung13. Der literaturwissenschaftliche Beitrag sei die Untersuchung der im literarischen Text immer schon künstlerisch gestalteten und interpretierten Präsentation von Alter. Die besondere Leistung der literarischen Darstellung sei, dass der fiktionale Zusammenhang das Alter als das „Andere“ herausstellen könne und so in der literarischen Konkretion gerade schwierige Phänomene sichtbar und damit verständlich machen könne. Daraus ergebe sich die Wichtigkeit eines genuin literaturwissenschaftlichen Forschungsansatzes, für den sich vier Schwerpunkte herauskristallisiert hätten: erstens die Frage nach dem alten Autor, zweitens die Frage nach der „Tradierung und Umdeutung von Alterstopoi“, drittens die Definition von neuen Figurentypen, die zu einer „Resignifikation“ von Altersperformanz bzw. deren Präsentation führen könnte, und viertens die Untersuchung alter Erzählerfiguren und deren Funktion für die Tradierung von Wissen und Kulturformen.

Herwig verweist auf die Bedeutung der ästhetischen Gestaltung, durch die sich der literarische Text von anderen Texten unterscheidet; insbesondere die Untersuchung der narrativen Strategien des Autors/Erzählers gebe Aufschluss über dessen inhaltliche Intentionen. Mit der Darstellung von Alter in der fiktionalen Welt habe der Autor die Möglichkeit, auch alternative Konzepte von Alter zu entwickeln und diese dem Leser als Interpretationsaufgabe vorzulegen.

Die Aufgabe einer gerontologisch orientierten Literaturwissenschaft wäre damit, sowohl überholte als auch innovative Konzepte von Alter aufzuspüren und zu erörtern.

Herwig zeigt diese Möglichkeiten der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Alter in verschiedenen Untersuchungen. In ihrem Beitrag zu Fontane legt sie den Schwerpunkt auf die Darstellung alter Frauenfiguren, die bei Fontane noch von den traditionellen negativen Topoi der alten Frau geprägt sind.14

In ihrem Aufsatz zu Thomas Manns Erzählungen „Der Tod in Venedig“ und „Die Betrogene“ setzt sie sich mit dem Topos des/der verliebten Alten auseinander und zeigt, dass Thomas Mann nicht konventionelle Topoi tradiert, vielmehr die Tragik der alten Figuren von den einschränkenden Normen des Zeitdiskurses ← 22 | 23 → und von den psychischen Dispositionen der Figuren her versteht und damit einer neuen Deutung unterzieht.15

Um die Analyse von Altersstereotypen in der Literatur geht es ebenfalls in Untersuchungen von Heike Hartung in „Alter zwischen Neid und Mitleid“16 und von Miriam Haller.17 Für Haller besteht die besondere Leistung der literarischen Darstellung in der Individualisierung von Figurenmodellen, die dazu beitrage, traditionelle Stereotype zu durchbrechen.

Details

Seiten
264
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653069907
ISBN (ePUB)
9783653956788
ISBN (MOBI)
9783653956771
ISBN (Hardcover)
9783631676264
DOI
10.3726/978-3-653-06990-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Altersdiskurse Normalitätsdiskurs Figurenmodelle Individualisierung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 264 S.

Biographische Angaben

Elke Trost (Autor:in)

Elke Trost studierte Germanistik, Anglistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Kiel, Heidelberg und Düsseldorf. Sie wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf promoviert.

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Titel: Alterskonzepte und Altersrollen im erzählerischen Werk Theodor Fontanes
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